Frisch gesungen: Sing-Ideen für die Gemeinde zu allen Wochenliedern der neuen evangelischen Leseordnung
Von Jochen Kaiser
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Über dieses E-Book
Das gottesdienstliche Singen der Gemeinde ist für die Kirchenmusik von großer Bedeutung. Ziel der folgenden Sing-Ideen ist es, den atmosphärisch-emotionalen Klangraum des Sonntages erklingen zu lassen. Dafür werden die Texte, das Kirchenjahr, das Lied, Atmosphären und teilweise räumliche Aspekte einbezogen. Das Buch richtet sich an Singleitende in Kirchgemeinden und schlägt vor, alte Lieder in neuer Form zu singen. Einbezogen werden Ostinati, Rhythmen, Bewegungen und performative Elemente.
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Buchvorschau
Frisch gesungen - Jochen Kaiser
Einführung
Das gottesdienstliche Singen der Gemeinde ist für die Kirchenmusik von großer Bedeutung. Das Singen hat eine lange Tradition und ist ein zentrales Merkmal der reformatorischen Kirchen und ihrer Gottesdienste. In einer umfangreichen Studie über das Erleben während des Singens habe ich die musikalischen und kontextuellen Einflüsse untersucht, die das Singen anregend oder beruhigend, traurig oder fröhlich wirken lassen. Die ausführliche Studie ist unter dem Titel »Singen in Gemeinschaft als ästhetische Kommunikation« (Wiesbaden 2017) erschienen. Eine kurze Zusammenfassung ist im Band »Ich sing dir mein Lied. Kirchliches Singen heute« (Peter Bubmann, Konrad Klek, Hg., München 2018) zu finden.
Ziel der folgenden Sing-Ideen ist es, den atmosphärisch-emotionalen Klangraum des Sonntages erklingen zu lassen. Dafür werden die biblischen Lesetexte, das Kirchenjahr, das Lied, die Atmosphären und räumliche Aspekte einbezogen. Dieser Band ist eine Anwendung der Ergebnisse meiner ethnografischen Singstudie, stellt also den Versuch dar, die wissenschaftlichen Ergebnisse für das gottesdienstliche Singen zu übertragen. Das wurde möglich, weil ich neben der wissenschaftlichen Arbeit über zwanzig Jahre als Kirchenmusiker in verschiedenen Kirchgemeinden arbeitete und die Freuden und Leiden des gottesdienstlichen Singens kenne. Die vorgeschlagenen Sing-Ideen sollen emotionale Prozesse anregen – verfügbar und herstellbar sind diese Prozesse nicht. Neben dem Hören und Verstehen der biblischen Botschaft (in der Predigt) in einem Gottesdienst, wird die körperlich-emotionale Ebene durch das Singen einbezogen. In traditionell-evangelischen Gottesdiensten steht die Verkündigung des Evangeliums im Mittelpunkt und die körperlich-emotionalen Prozesse spiel(t)en keine bedeutende Rolle. Deshalb sind diese Sing-Ideen – sie wurden in verschiedenen Gemeinden und vielen Gottesdiensten praktisch ausprobiert – eine Herausforderung und es bedarf einer vorsichtigen und werbenden Einführung, damit die Gottesdienstteilnehmenden sich auf diese (neue) Singweise und auf das Erleben einlassen können.
Die Sing-Ideen legen, anders als sprachliche Äußerungen, Stimmungen und Atmosphären des Gottesdienstes (eindeutiger) fest, weil die Singenden körperlich in die Performance einbezogen sind. Welche Stimmung oder Atmosphäre in dem Gottesdienst angeregt wird, soll für die Sing-Ideen offen benannt werden. Dadurch können die Verantwortlichen für den konkreten Gottesdienst klären, ob diese Stimmungen und Atmosphären unterstützt werden sollen oder nicht. Singen ist immer »Hier« und »Jetzt«, also konkret in Raum und Zeit. Deshalb muss jeweils neu entschieden werden, ob es individuelle oder situative Notwendigkeiten gibt, etwas anderes im Gottesdienst auszudrücken. Warum und wie die emotionalen Stimmungen durch diese Sing-Ideen angeregt werden, wird jeweils benannt, sodass jede und jeder nachvollziehen kann, welche Aspekte leitend waren.
Es soll hier nicht diskutiert werden, ob die jeweiligen Perikopen zu dem Sonntag und dem Kirchenjahr, ob sie zueinander und ob sie zu den gewählten Wochenliedern passen. Die Bibeltexte und Lieder sind vorgegeben.
Um die emotionale Gestimmtheit des gottesdienstlichen Klangraumes zu erfassen, werden die drei Haupttexte: Evangelium, Epistel und alttestamentliche Lesung sowie der Wochenpsalm berücksichtigt. Wenn also ein anderer Text gepredigt wird und dadurch im Zentrum des Gottesdienstes steht, ändert sich der Klangraum und der hier unterbreitete Vorschlag zum Singen passt vielleicht weniger oder muss etwas abgewandelt werden.
Singen als emotionaler Glaubensausdruck
In der Singstudie »Singen in Gemeinschaft als ästhetische Kommunikation« wurden 41 gesungene Lieder, die in Gottesdiensten, einem Singworkshop und einem Gospeltreffen gesungen wurden, ethnografisch analysiert. Die Daten des Singens wurden auf vier unterschiedlichen Wegen gesammelt:
–Teilnehmende Beobachtung: ich sang selbst mit und spürte die Atmosphäre.
–Interviews oder Gruppendiskussion: ich befragte die Singenden direkt nach dem Singen, wie sie sich fühlten.
–Fragebögen: für 27 Lieder wurden Fragebögen von den Singenden ausgefüllt. Die Singenden sollten sich für ein konkretes Lied auf einer fünfstufigen Ratingskala positionieren und wurden gefragt: ob es ihnen gefallen hatte, ob sie sich wohlfühlten, ein Gemeinschaftsgefühl entstand, sie beruhigt oder angeregt wurden und ob sie sich berührt oder sogar überwältigt fühlten.
–Videoaufnahmen: die Singenden wurden aufgenommen, sodass körperliche, gestische und mimische Bewegungen untersucht werden konnten. Auch der Sound konnte analysiert werden.
Als Resultat liegen 41 dichte Beschreibungen der gesungenen Lieder vor. Diese »Erzählungen typischer Teilnehmer« beschreiben detailliert, wie das Singen ablief, was für Stimmungen im Raum herrschten und verarbeiten alle gesammelten Daten. Um diese Narrationen vergleichen zu können, wurden die gleichen Fragen aus fünf Perspektiven an jede Erzählung gestellt. Es waren die religiös-transzendierende, kommunikative, psychologische, soziologische und ästhetische Perspektive.
Die statistische Analyse der Fragebögen gruppierte die Singenden – Lied übergreifend – zu fünf Gruppen. Das Erleben innerhalb der Gruppen war ähnlich, aber die Gruppen untereinander unterschieden sich deutlich. Es wurden 1.512 Singende mit 27 gesungenen Liedern ausgewertet und die fünf Gruppen erhielten einen Namen, der die Kernmerkmale der jeweiligen Gruppe benennt:
–anregend-fröhliches Singen,
–gemeinschaftsloses Singen,
–beruhigendes-überwältigendes Singen,
–misslingendes Singen und
–unangenehmes Singen.
Genaueres über die Forschungsmethodik und die Ergebnisse, kann in den erwähnten Publikationen nachgelesen werden.
Die Sing-Ideen nehmen die Merkmale der jeweiligen Singwirkung auf und sind durch diese empirisch-ethnografische Studie begründet.
Die musikalischen und performativen Elemente des Singens
Es ist eine überschaubare Zahl an musikalischen und performativen Elementen, die den folgenden Sing-Ideen zugrunde liegen. Einige sollen hier knapp benannt und erklärt werden, um die Erfindung von eigenen Sing-Performances anzuregen.
Es sind auch Kombinationen der einzelnen Elemente möglich. Allerdings ist es die Aufgabe der/des Singleiter*in komplexere Performances an die singende Gemeinden »anzupassen«. Häufig ist es sinnvoll, manchmal wird es auch angemerkt, eine einfachere Version zum Klingen zu bringen. Diese Light-Version kann die gleiche Emotion anregen wie die komplexere und ist deshalb nicht schlechter. Ein wichtiges Ziel des Singens mit der Gemeinde ist es, dass die Sing-Ideen erfolgreich erklingen, denn nur dann kann sich die Emotion entfalten. Offenes Singen, dass leicht peinlich wirkte, habe ich immer wieder erleben müssen. Dieses Erleben soll mit den vorliegenden Sing-Ideen vermieden werden.
Singhinweise
Zuerst: Singanleitungen in schriftlicher Form gleichen schriftlichen Erklärungen zum Tanzen oder Kochen: Wer das Prinzip verstanden hat, versteht die Anweisungen; wer nicht, der steht ratlos vor den Worten.
Deshalb nutzen Sie die Möglichkeit, diese Sing-Ideen in einem Workshop vom Autor präsentiert zu bekommen und dadurch zu verstehen, wie sie gedacht sind. Einige Themen, die diskutiert und probiert werden sind: Wie funktionieren die Anleitungen, wie viel an Moderation ist notwendig und wie beginnt ab dem ersten gesungenen Ton eine musikalische Aufführung. Sie können mich gerne für einen Workshop anfragen.
Die Sing-Ideen dieses Buches sind nur Vorschläge, sie können so ausgeführt werden, wie sie hier abgedruckt sind. Aber eigentlich haben sie mehr anregenden Charakter, sollen die kreative Gestaltung fördern und sollen an das subjektive und situative Empfinden der jeweiligen Singleiter*in und der jeweiligen Gemeinde angepasst werden. Die Vorschläge sind so formuliert, dass sie direkt umgesetzt werden können. Doch sie können unschwer abgewandelt, variiert oder sogar vollkommen anders ausgeführt werden. Die Sing-Anleitungen sind einerseits zur konkreten Ausführung und andererseits zur Anregung eines lebendigen Singens gedacht.
Diese Sing-Performances verlangen eine Zusammenarbeit und gemeinsame Vorbereitung von Pfarrer*in und Kirchenmusiker*in! Das ist eine notwendige Bedingung für das Gelingen!
Viele Kirchgemeinden sind es nicht gewohnt, in dieser Weise zu singen. Deshalb sollte Barmherzigkeit vorherrschen. Am Anfang werden nur kleine und kurze Sing-Performances gesungen und nur in einem größeren zeitlichen Abstand, also nicht gleich jede Woche.
Manche Vorschläge kombinieren verschiedene Sing-Ideen und können immer auch verkürzt, also nur einzelne Elemente nutzend, gesungen werden.
Alle vorgeschlagenen Lieder sollen im Stehen ausgeführt werden. Für wenige Gottesdienste ist angemerkt dass das Singen nicht im Stehen vollzogen werden soll, weil eine meditative Stimmung unterstützt werden soll.
Wenn die Gottesdienstgemeinde näher beieinandersitzt, dann klingt das Singen besser und die Atmosphären werden dichter.
Das Singen mit der Gemeinde, so wie es hier vorgeschlagen wird soll angeleitet werden. Die Anleitung des Singens ist ganz wichtig und notwendig (sie muss gut vorbereitet sein), denn sie führt zu einer dialogischen Situation und verstärkt das emotionale Erleben. Es gibt aber auch Beispiele, wo keine Anleitung sein soll, weil ein individuelles meditatives Singen entstehen soll.
Die Sing-Ideen werden »nicht« geübt. Ab dem ersten Ton sind sie bedeutungsvolle Musik. Das bedarf einer guten Vorbereitung von der Singleitung und einer speziellen Form der Anleitung. Es soll keine pädagogische Situation des Lernens eintreten. Deshalb werden diese Ideen auch nicht vor dem Gottesdienst »eingeübt«, sondern im Verlauf des Gottesdienstes an der passenden Stelle aufgeführt.
Für die meisten Sing-Ideen ist ein Ansingechor hilfreich. Damit sind einige Sänger*innen gemeint, die die Sing-Idee schon vorher kennen und das Gelingen garantieren. Die/der Singleiter*in ist dann freier und mutiger, wirklich emotionales Singen anzuregen.
Die/der Singleiter*in muss anhand der Gegebenheiten vor Ort entscheiden, was von den Sing-Ideen umgesetzt werden kann. Einige Ideen passen und andere funktionieren im konkreten Fall nicht. Dieses Einfühlen in das konkrete Singen kann dieses Buch nicht leisten, sondern es bleibt in der Verantwortung der/s Singleiter*in.
Diese Performances können auch mit Instrumenten verbunden werden, wenn z. B. ein Posaunenchor die Töne einer Singegruppe übernimmt. Das ist schön, bereichert das Singen und bietet sich besonders bei festlichen Gottesdiensten an, aber das Singen der Gemeinde ist wichtiger und die Instrumente sollen das Singen unterstützen und die ausgedrückte Emotion verstärken. Die Unterteilung der Singenden in Gruppen, richtet sich nach der Anzahl der Anwesenden und deren Singvermögen: a) zu kleine Gruppen sind schwierig; b) die Teilung könnte vorgeschrieben werden, z.B. rechte und linke Hälfte der Kirche anhand des Mittelganges, aber es ist ebenso möglich, z. B. bei einer sangeskräftigen Gemeinde, dass jede/r selbst die Stimme wählt.
Eine wichtige Empfehlung lautet: Einfacher ist häufig besser. Nicht das komplizierte und artifizielle Singen, sondern das elementare des Stimmausdruckes, in das jede und jeder einstimmen kann, steht bei diesen Sing-Ideen im Mittelpunkt. Damit soll der künstlerische Anspruch nicht ermäßigt werden, sondern transformiert werden, sodass alle Anwesenden partizipieren können.
Wiederholungen werden häufig als langweilig angesehen, doch beim Singen ist das anders und es ist sinnvoll innerhalb eines Gottesdienstes (neue) Lieder mehrfach zu singen. Auch bei diesen Sing-Ideen sind Wiederholungen wichtig, denn dadurch können die Melodien, Texte und Bedeutungen die Menschen, ihre Emotionen und Herzen tiefer erreichen.
Die/der Pfarrer*in muss die thematischen Schwerpunkte der Performance wissen und diese möglichst in der Predigt aufnehmen und »nachträglich« mit Bedeutung versehen, sodass das Singerlebnis zu einer Singerfahrung werden kann. Dieser Punkt ist von großer Bedeutung, denn die ungewohnten Sing-formen können die Teilnehmenden auch verwirren. Eine nachträgliche Aufnahme hilft, das Erleben zu verstehen und in das Selbstbild zu integrieren. Mit der nachträglichen Aufnahme sind keinen langen Erklärungen gemeint, sondern eher ein emotionaler Hinweis, wie die/der Pfarrer*in das Singen erlebte und verstanden hat. Vielleicht muss diese Reaktion sogar spontan und nicht vorher aufgeschrieben sein. Es ist eigentlich nicht möglich – Ausnahmen bestätigen die Regel und könnte auch mal bewusst gewählt werden –, dass die/der Pfarrer*in einfach nur über den Predigttext redet.