Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der Hauptmann unter dem Kreuz: Roman
Der Hauptmann unter dem Kreuz: Roman
Der Hauptmann unter dem Kreuz: Roman
eBook607 Seiten8 Stunden

Der Hauptmann unter dem Kreuz: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Im Jahre 29 n. Chr. verliebte sich in Jerusalem ein römischer Soldat in eine jüdische Priesterin. Seine Liebe wurde erwidert, führte den Römer nach einem schweren Schicksalsschlag zu Jesus Christus. Sein Weltbild geriet nach dieser Begegnung vollkommen ins Wanken. Er versuchte vergeblich Jesus Christus vor dem Tod zu bewahren. Unter dem Kreuz erkannte er die Göttlichkeit des Gekreuzigten und wurde der erste Christ.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. Okt. 2022
ISBN9783969405970
Der Hauptmann unter dem Kreuz: Roman

Ähnlich wie Der Hauptmann unter dem Kreuz

Ähnliche E-Books

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der Hauptmann unter dem Kreuz

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der Hauptmann unter dem Kreuz - Gabriele Langerfeld

    IM KARMEL

    Die Nacht verabschiedete sich langsam und bedächtig. Alles Dunkle wurde heller. Am Horizont kündigte sich die Sonne an. Direkt aus ihrer Glut flog ein Königsadler zu einer kleinen Siedlung hoch oben im Karmelgebirge. Mit lauten Schreien umkreiste er die Siedlung und schreckte damit einen Priester auf, der wie jeden Morgen die Sonne mit einer Meditation begrüßte.

    Verwundert blinzelte er nach oben. Darauf schien der Adler nur gewartet zu haben. Er unterbrach seine Kreise und flog direkt auf den Mann zu. Erschreckt erhob sich dieser, so schnell er es vermochte. Jetzt schwenkte der Adler dicht an ihm vorbei. Das Rauschen der Federn und ein Windhauch der Flügel erstaunte Ruach, den alten Priester, und er murmelte: »Wie schön und majestätisch, aber ungewöhnlich. So etwas habe ich in meinem langen Leben noch nicht erlebt, dass mir ein Adler so nahe gekommen ist.«

    Nachsinnend strich er sich die weißen Strähnen aus dem Gesicht und zwirbelte an seinem Bart, dabei ließ er den Vogel nicht aus den Augen, der jetzt zu einer Kiefer flog. Sein Gewicht brachte einen dicken Ast zum Schwingen. Er hüpfte höher in die Krone und starrte weiter den Alten an. Die Augen des Adlers glänzten hell und er nickte unablässig mit dem Kopf, als wollte er zustimmen, denn Ruach war ihm ehrerbietig nachgefolgt.

    Seit Jahrhunderten lebten oben zwischen Bergen auf einem weiten Plateau Essener nach ihren eigenen Regeln. Diesen Platz für ihre Häuser hatten sie gut gewählt. Von drei Seiten umschlossen Berge und Felsen Häuser und Ställe. Die westliche Seite grenzte an einen tiefen Abhang. Vor dort aus war das Meer zu sehen, wenn der Himmel wolkenlos war. Öfter blies der Wind Regen herbei und sorgte so für gute Ernten. Eine breite Mauer an der Westseite schützte Tiere und Menschen vor Stürzen, besonders bei Dunkelheit.

    Ein imposantes graues Gebäude diente als Schule, Versammlungsort, enthielt Bibliotheken und Speisesäle, daneben kleine Häuser mit Gärten. Überall wuchsen Steineichen, Akazien und Lorbeersträucher. Schafe und Ziegen fraßen gern die Schösslinge, wenn sie es konnten. Schmale Wege führten sternförmig zu einem Platz, in dessen Mitte ein Brunnen war. Im Schatten von hohen Bäumen standen Tische und Bänke für die gemeinsamen Mahlzeiten der Dorfgemeinschaft.

    Es war viele Jahre her, dass Königsadler im Karmelgebirge gesehen worden waren und jetzt im Lichte der Morgensonne dieser prächtige Vogel. Ruach ahnte, dass Gott das Tier geschickt hatte.

    Beide starrten sich immer noch an. Ein Bote Gottes! Ja, so musste sein! Das sagte ihm jetzt sein Herz, denn es schlug mit aller Kraft und trieb dem Alten das Blut ins Gesicht. Freude, unbändige Freude erfasste den alten Mann. Wie es hieß, wäre die Zeit für den Messias gekommen. Kommen, kommen Helfer, Boten, Propheten? Unruhe erfasste Ruach. Der Adler hatte seinen Kopf gesenkt und seine Blicke schienen den Alten zu durchbohren. Seine eingefallenen Wangen färbten sich rot. Hitze stieg in ihm auf. »Nun ist es gewiss! Gott will mir etwas sagen«, staunte er laut und eilte zu Nour, der an einem Baum saß, um von dort die Sonne zu begrüßen. Aufgerichtet mit geschlossenen Augen saß Nour auf der Erde. Seine Hände lagen auf seinen Schenkeln, die Handflächen nach oben gerichtet. Ruach stieß ihn sanft von hinten an. Langsam drehte Nour sich um, dabei lächelte er. Schließlich öffnete er die Augen, kniff sie aber gleich wieder zusammen. Mit seiner rechten Hand beschattete er sein Gesicht.

    »Bruder, komm, eile dich, ein Königsadler ist gekommen und hat eine Nachricht für uns.« Trotz seiner Fülle erhob sich Nour geschmeidig. Bedächtig klopfte er den Staub von seinem weißen Gewand und zupfte seinen roten Gürtel zurecht.

    Währenddessen war der Adler ruhig im Wipfel sitzen geblieben und blickte ihnen entgegen. Beide Männer standen jetzt unter der mächtigen Kiefer. Ruach legte Nour seinen Arm auf die Schulter.

    »Zusammen ergründen wir, was das zu bedeuten hat. Wir gehen in den Berg zur Wand. Vielleicht begreifen wir dann, was Gott uns sagen will«, schlug Ruach schließlich vor. Nour nickte und beide eilten zu einer Felswand. Gemeinsam schoben sie einen Felsblock zur Seite und gelangten über eine Treppe ins Innere des Berges. Nach einem längeren Abstieg betraten sie eine große Höhle, die spärlich von einigen Talglichtern erleuchtet war.

    Auf geheimnisvolle Weise gelangte Frischluft in die Tiefe und wehte den beiden Alten kühl ins Gesicht. Im Hintergrund des Gewölbes waren Namen von Gottes Hand an die Felswand geschrieben. Sie leuchteten golden. Alle Namen der Propheten und der Menschen waren verzeichnet, die den Weg zum Messias bereitet hatten. Sogar eine Spur von Adams Namen war noch schwach zu erkennen.

    Jedes Mal, wenn sie sich dem Mysterium näherten, das einzigartig in der Welt war, ergriff die beiden frommen Manner tiefe Ehrfurcht. Sie blieben stehen, atmeten hörbar, legten die rechte Hand auf ihr Herz und verneigten sich tief. Ihre langen Haare berührten dabei den Boden.

    »Lass uns beten«, schlug Ruach vor, »danach wissen wir vielleicht mehr.« Die beiden knieten vor der Wand nieder und schlossen die Augen. Unter ihnen war der Fels abgenutzt, beinah geglättet. Viele Knie hatten den Stein im Lauf von Jahrhunderten abgerieben.

    Tief im Inneren des Berges wurde das Heilige sichtbar. Wenn der Geist anwesend war, leuchteten die verblassten Schriftzüge auf, als hätte sie neues Leben erfüllt.

    Es gab hier unten Antworten für Kranke, für Verzweifelte. Sogar Boten von Königen kamen in den Karmel, um Schicksalsfragen an den Geist zu richten. Viele Suchende erfuhren Hilfen und Wahrheit von den Weißen, so wurden die Essener im ganzen Land genannt.

    Plötzlich erfüllte ein Knistern den Raum, riss die beiden aus ihren Gebeten. Sie spürten den Geist Gottes und hörten das Brausen von Ferne. Vor Aufregung fröstelten sie. Raunen erfüllte das ganze Gebirge. Die Berge zitterten und bebten.

    ER war gekommen. ER war da.

    Helligkeit – Freude – Lebendigkeit. Alle Ängste zerstoben. Die Augen der Alten leuchteten, Runzeln glätteten sich. Unendliche Liebe und Freude erfüllte die Herzen der beiden alten Priester.

    Wieder einmal durften sie das Wunder erleben. Blumendüfte verströmten sich und ein großer Bogen erschien. Wie ein durchsichtiges Traumbild schwebte er im Raum. Lichtfäden verdichteten sich unter ihm. Der Wohlgeruch betäubte. Jetzt, leuchtete ein Bild auf: Zwei jungen Menschen, die sich an den Händen hielten. Eine anmutige Frau schaute verträumt zu einem Mann. Seine Hände umfassten sie zärtlich beschützend. Ihre Liebe überwältigte die beiden Priester. Während das Bildnis verblasste, stiegen vergessene Sehnsüchte und Erinnerungen in den alten Herzen auf und schmerzten.

    Nours Gedanken eilten zurück, als er noch Samuel war, ein junger Fischer. Wie alle Tage, saß er am Fluss und fischte, da hörte er Lachen. Füße trappelten auf dem lehmigen Boden. Es war Elisa. Sie rief ihm zu: »Komm, Samuel, lass uns tanzen und feiern, der Vater hat es erlaubt!« Der junge Mann schaute in ein leicht gerötetes Mädchengesicht. Elisa strahlte ihn an und lächelte. Schnell sammelte er seinen Korb auf, in dem nur ein Fisch zappelte. Heute war eh kein guter Tag zum Fischen, sagte er sich.

    Übermütig zog ihn das Mädchen den Weg entlang ins Dorf. Lärmende Menschen, die feierten, Musik und Tanz, gebratene Lämmer und Wein. Gern ließ sich Samuel von Elisa in diesen Trubel hineinziehen.

    Der HERR hatte eine reiche Familie mit einem Sohn gesegnet, das ganze Dorf war eingeladen, den neuen Erdenbürger zu begrüßen. Samuel wurde freundlich von Elisas Vater und Mutter empfangen. Sie rückten gleich zusammen, damit er bei ihnen sitzen konnte. Der junge Fischer mit den ernsten dunklen Augen war im Dorf bei allen beliebt. Heitere Ausgelassenheit umgab alle Dörfler, auch Elisas Familie. Nach einem guten Essen und einigen Gläsern Wein tanzte Samuel nur noch mit Elisa.

    Sie kam ihm heute schöner vor, war nicht mehr das kleine Nachbarmädchen, das nach Ziegen roch. Heute gefiel ihm ihr neues blaues Kleid, winzige rote Blüten hatte sie hineingestickt und ihre Haare mit Bändern geschmückt. Ihre weißen Zähne blitzen, ihre Augen funkelten. Sie tanzten ausgelassen bis zur Dämmerung. Das Klatschen ihrer nackten Füße auf dem Lehmboden hatte er auch nach so vielen Jahren noch im Ohr. Ihre langen Haare flogen. Ihre Fröhlichkeit ließ Samuel den Schmerz um die kürzlich verstorbenen Eltern vergessen. Immer wieder versuchte er unbemerkt, ihre kleinen Hände zuberühren.

    In der Dunkelheit loderten Fackeln, erhellten neben Öllampen den Dorfplatz. Alle Gäste saßen nun dicht am Feuer und tranken Wein.

    »Eine Geschichte! Sebulon, erzähle eine Geschichte!« Von allen Seiten wurden die Rufe lauter.

    Das hörte der dürre Sandalenmacher gern, den Körper nach vorn gebeugt, die Augen geschlossen, als ob er nachsinnen müsste, so war er allen bekannt, wenn er wahre und ausgedachte Geschichten erzählte.

    Lange räusperte er sich, drehte den Kopf hin und her, flüsterte, riss plötzlich seine Augen auf. Er musste gewiss sein, dass alle ihn anschauten und ihm zuhörten. Oh, er kannte viele Geschichten. Schaurig schöne Geschichten, von Adams erster Frau Lilit, die im Wasser lauerte, von Esther, die so klug war und ihre Landsleute gerettet hatte.

    Nebuccanezar war gewiss ein brutaler Herrscher, der Herr von Babylon. Von diesem König, seiner Stadt und seiner Herrschaft wusste er viel zu berichten.

    Seine Erzählungen schmückte er gern breit aus. Seine Arme fuchtelten umher und begleiteten seine Worte.

    Alle lauschten atemlos und fürchteten sich vor Lilith und ihrer Macht, besonders, wenn es irgendwo knisterte und Sebulon die Augen noch weiter aufriss, ins Dunkle starrte und schwieg.

    Lilith, diese Frau hatte es ihm besonders angetan, immer wieder rief er ihren Namen. Ihre Geschichten wurden bei jeder Erzählung länger und gruseliger. »Sie ist hier, Lilith ist hier. Lauscht, sie ist aus dem Wasser gekommen. Hört, wie es schlurft? Lilith, Lilith, erste Frau Adams, verfluche uns nicht.«

    Samuel betrachtete Elisa, die immer näher an ihren Vater rückte, je länger Sebulon erzählte. Die vorquellenden Augen des Sandalenmachers und seine geflüsterten Worte erzeugten dämonische Furcht. Elisa und die anderen Zuhörer waren vor Wonne erregt. Die meisten spülten ihre Furcht mit rotem Wein hinunter.

    Sie feuerten Sebulon an, mehr Geschichten von Ungeheuern und Dämonen zu erzählen.

    Samuel hörte nicht zu. Viele Male hatte er Sebulons Erzählungen gehört. Er fand sie lächerlich. Der Wein war ihm zu Kopf gestiegen. Er sah nur auf Elisa, wie sie ihren Mund öffnete und ihre Augen immer größer wurden. Brennende Leidenschaft, für die er sich gleich schämte, stieg aus seinen Lenden auf. Er erstarrte. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Hastig wischte er sie ab und blickte erschreckt um sich. Hoffentlich hatte niemand ihn beobachtet. Seine Blicke trafen mit denen von Elisas Vater zusammen. Er schaute freundlich und nickte. Errötend erwiderte der junge Fischer das Nicken und atmete auf.

    Endlich bemerkte das Mädchen Samuels sehnsuchtsvolle Blicke und errötete. Sebulons Geschichte hörte sie nicht mehr. Sie stieß ihren Vater an und beide flüsterten.

    Sie wird wohl die Richtige sein, schoss es Samuel durch den Kopf. Ja, bestimmt, Elisa ist die Richtige!

    Damals ahnte niemand, dass ihr Glück im Schatten bleiben sollte. Die Ehe war viele Jahre kinderlos. Dann endlich, wurde Elisa schwanger, verlor aber das Kind. Niemand konnte sie trösten. Sie wurde schwermütig. Immer mehr siechte sie dahin und starb schließlich. Samuel musste Tag und Nacht an Elisa denken. Warum konnte er nicht helfen? Er war doch ihr Mann. Sein Gang wurde schleppend, sein Rücken beugte sich zur Erde, seine Hände zitterten beim Einholen der Netze. Die anderen Fischer halfen so gut sie konnten, damit Samuel genügend zum Leben hatte. Bei einem Gespräch fiel das Wort, die Gemeinschaft am heiligen Berg könnte Samuels Kummer heilen. Diese Gedanken ließen den Fischer Samuel nicht mehr los und eines Tages machte er sich auf den Weg. Dort bekam er nach einigen Jahren der Einweihung den Namen Nour.

    Aufseufzend wehmütig, betrachte Nour das Liebespaar im Licht. Ein Herz wird nur einmal gebrochen und schmerzt ewig, dachte er. Auch an Ruach zogen Bilder vorbei, als sein Name noch Benjamin, Sohn des Jacobs, war. Seine Hochzeit mit Maria. Wie glücklich waren sie. Das schönste Mädchen weit und breit. Mit so viel Eifer hatte er einen Anbau errichtet am Hause ihrer Eltern.

    Wie grausam konnte das Leben sein! Nach mehr als fünfzig Jahren spürte Ruach noch immer ein schmerzliches Ziehen in der Brust.

    Einige Monate nach der Hochzeit wurde sie entführt. Ein Stück ihres Gewandes hing an einem der Büsche. Sie musste sich heftig gewehrt haben. Weiträumig war die Erde zertreten. Dunkle Flecken am Boden mussten Blut sein. Hufabdrücke, zerwühltes Gras beschrieben Leid und Verzweiflung der Geliebten.

    Wie jeden Morgen wollte sie Wasser vom Brunnen holen und kam nicht wieder. Es hieß, Beduinen hätten vor dem Dorf hinter hohen Sträuchern gelauert. Es hätte jede junge Frau aus dem Dorf treffen können. Auf den Sklavenmärkten konnte sich niemand an die junge Frau mit Leberfleck am Kinn erinnern.

    Es hatte lange gedauert, bis Ruach sich mit Gott versöhnt hatte und zu dem Mann geworden war, der heute im Karmel unterrichtete.

    Die beiden Alten schauten sich an. Jeder kannte die Lebensgeschichte des anderen.

    Als Priester hatten sie sich trotz allem wieder für die Liebe entschieden.

    Nour räusperte sich. Es war eine Gewohnheit, die immer auftrat, wenn er erregt war: »Gott meint gewiss nicht uns alte Männer. Er zeigt uns Menschen, die vielleicht jetzt geboren werden. Wer kennt schon seine Wege? Wir müssen das Sternenorakel befragen. Meinst du nicht auch?« Ruach nickte zustimmend.

    Langsam verblassten der Bogen und die Erinnerungen der beiden Alten. Der Raum nahm wieder seine gewohnte Ernsthaftigkeit an. Die Namen der Propheten schimmerten. Mattes Gold erinnerte an vergangene Zeiten.

    Die beiden Priester dankten laut und sangen das Lied der Sonne.

    Zarathrustra sang es zuerst mit seinen Anhängern und huldigte den Geist der Sonne. Deswegen verehrten die Essener diesen großen Eingeweihten, denn auch sie sahen im Sonnengeist ihren sehnsüchtig erwarteten Messias, der als Priester die Menschheit zum rechten Glauben führen würde, so glaubten sie.

    Erleichtert stiegen die Beide wieder die Treppe hinauf und gelangten auf den großen Platz.

    Der Adler saß noch immer auf dem Baum. Als er die beiden Priester sah, flog er zum Brunnen und setzte sich an den Brunnenrand. Dort begann er mit dem Kopf zu nicken und schrie eindringlich.

    Nour und Ruach blieben in gebührendem Abstand vor ihm stehen. Der Adler hob den Kopf und blickte sie an. Jetzt endlich schwieg er, als wartete er auf etwas. Nour forderte Ruach auf, vorzutreten: »Erzähl ihm vom Sonnenbogen und dem Liebespaar.«

    Etwas umständlich redete Ruach auf den Adler ein. Vermied dabei hastige Gesten, um das Tier nicht zu erschrecken. Als Ruach von dem Liebespaar erzählte, das unter dem Bogen stand, nickte der Adler, als würde er alles verstehen. Ruach erzählte ihm vom Licht und der Liebe, die ihre alten Herzen wieder jung gemacht hatte. Dann schwieg der Priester.

    Wieder schaute der Adler Ruach freimütig mit seinen schwarzen Augen an. Wie ein Band des Verstehens zwischen Tier und Mensch kam es Ruach vor. Er nickte und versprach, dass er alles tun wolle, um diese beiden Menschen zu suchen. Der Adler plusterte sich auf, schüttelte sich kräftig. Mit einem durchdringenden Schrei und kräftigen Flügelschlägen erhob er sich.

    Noch einmal kreiste er über der Siedlung und verlor sich dann in der Weite der Himmel. Beide Männer starrten so lange hinter ihm her, bis nur noch ein dunkler Punkt zu sehen war, der schließlich auch verschwand.

    »Was für ein schönes Tier. So groß und glänzend! Schwarzbraune Federn und am Hals helle. Gleich treffen wir die anderen Brüder und Schwestern und besprechen alles mit ihnen. Ich rieche schon das frische Brot. Lass uns zum Bäcker gehen.«

    Nour und Ruach gingen über den Platz in eine kleine Gasse hinein. Dort kamen ihnen andere Essener entgegen. Die alten Priester wurden ehrerbietig begrüßt. Vor der Bäckerei stand ein Tisch mit frischem Brot. Jedes Mitglied der Gemeinschaft bekam morgens ein Brot. Wasser lieferte der Brunnen.

    Die beiden Männer ergriffen ihre Brotfladen und schauten durch die Tür in die Backstube. Dort stand Eli, der Bäcker und legte gerade einige in einen Korb.

    »Es ist mir eine Ehre, für euch Brot zu machen. Gestern habe ich frische Kräuter in den Teig geknetet. Ich hoffe, es schmeckt euch. Wie immer hat die Sonne mir beim Backen geholfen.« Er lachte und zeigte seine prächtigen Zähne.

    »Seit zwanzig Jahren essen wir dein Brot, Eli. Es war immer gut. Eli, wir gehen zum Berg Mose. Wir denken, dass wir vier Tage brauchen, um dorthin zu gelangen, und vier wieder zurück.«

    »Ich werde euch Fladen backen, dünn und knusprig, die verderben nicht.«

    »Gottes Segen ruhe auf dir, mein Freund!«

    Eli zog die Luft ein und verbeugte sich ein wenig.

    »Heute Mittag ist das Brot fertig! Ich wickele es in Blätter ein, dann bleibt es frisch und schmackhaft.«

    Die beiden Alten lächelten den freundlichen Mann an und wandten sich zum Gehen.

    »Lass uns zum Brunnen gehen. Dort treffen wir die anderen Brüder und Schwestern!« Sie gingen zum Dorfplatz und setzten sich.

    Am frühen Morgen gingen alle Bewohner der Siedlung zu Eli. Manche bissen gleich ein Stück Brot ab, andere rochen genussvoll daran. Vom Bäcker zum Brunnen war es nicht weit. Dort standen Bänke und Tische unter Steineichen, die vor Staub und Hitze schützten. Fröhliches Geplauder erfüllte den Platz. Ein junger Mann reichte einen Krug mit frischem Wasser herum. Jeder erkundigte sich, wie der andere geschlafen hatte. Träume wurden erzählt und gedeutet. Auch das heutige Tagewerk, jedes einzelnen, wurde besprochen.

    Nach der Morgenmahlzeit erhoben sich alle und stimmten das Lied der Sonne an. Still war es für einen Moment. Jeder versenkte sich in seine eigenen Betrachtungen in tiefer Verbundenheit mit Gott und den Propheten.

    Nun konnte sich Ruach an die Gemeinschaft wenden: »Ihr Lieben, heute Morgen ist ein Bote Gottes zu uns gekommen. Vielleicht habt ihr den Adler gehört. Er hat einen Regenbogen mitgebracht, der tief im Berg leuchtete. Sein Leuchten ist das Lichten der Liebe. Ein junges Paar zieht diese Strahlen an.

    Nour und ich, wir werden zum Berg Mose gehen, um das Sternenorakel zu befragen, wer diese Menschen sind. Wenn ihr während unserer Abwesenheit irgendwelche Angelegenheiten habt, die besondere Maßnahmen erfordern, geht zu den Brüdern Jebuscha und Jammin, die sind, wie ihr wisst, in Qumran. Sie werden euch beistehen.«

    »Sollen wir einen Boten schicken, damit Jebuscha und Jammin, wissen, wo ihr seid. Sie werden euch im Gebet begleiten wollen?«, fragte Jacobus, ein älterer Schüler der Gemeinschaft mit ernsthafter Miene.

    Ruach schmunzelte. »Gut gefragt, Jacobus, Sohn des Josefs, du denkst mit. Gehe du und berichte. Nimm dir zwei Brüder mit.«

    »Ich nehme Johannes und Jonathan mit«, rief Jacobus erfreut und lief schnell fort.

    Schmunzelnd sahen die beiden Alten dem Jungen hinterher.

    »Wir sollten reiten«, schlug Nour vor. Ruach schüttelte den Kopf. Er liebte es, zu laufen. Vor einigen Jahren war er noch nach Indien gewandert und hatte dort Brüder besucht.

    »Die Esel stören nur. Auf den Berg können wir sie nicht mitnehmen. Lassen wir sie unten, stehlen die Nomaden die Tiere. Das wäre für die Gemeinschaft ein schwerer Verlust.«

    Nour nickte, »Ja, ja, wie immer hast du Recht. Bist eben weiser als ich.« Ruach schüttelte den Kopf und erwiderte: »Wir sollten jetzt mit unserem Unterricht beginnen. Dort stehen sie, die Jungen und warten auf uns.«

    Im Sommer trafen sich alle Mitglieder der Gemeinschaft mittags am Brunnen, um gemeinsam zu beten und zu essen. Es gab eine leichte Kräutersuppe und ein kleines Brot. Bei dieser Gelegenheit erzählten die Priester, dass sie die Küstenstraße nehmen wollten, um in den Sinai zu gelangen. Sie verabschiedeten sich von jedem Bewohner mit freundlichen Ermutigungen. Anschließend gingen sie in ihre Häuser. Schnell waren die Bündel gepackt. Wenn sie zügig ausschritten, konnten sie am Abend in Dora sein und dort eine Unterkunft beim Schmied bekommen.

    IN EINEM DORF BEI HEBRON

    In einem kleinen Dorf in der Nähe von Hebron wurde zur selben Stunde, als im Karmelgebirge ein Regenbogen erschien, ein Kind geboren. Dieses Kind brachte auch einen Regenbogen mit auf diese Welt. Hier kündigte ein Sausen und Brausen das Ereignis an, trockene Blätter wirbelten umher, Tiere verstummten. Die Elemente schwiegen, ebenso die staunenden Menschen, die vor dem Geburtshaus standen und in Himmel starrten.

    Nachbarn, Freunde und Verwandte, die mit dem Vater gewartet hatten, tanzten, umarmten ihn, jubelten, schlugen ihm auf die Schultern und riefen alle durcheinander. Jeder wollte zuerst dieses Kind sehen, dass die Elemente in Freude versetzte. Die Tür öffnete sich und die Hebamme reichte dem Vater das Kind.

    Es war ein Mädchen, wenige Minuten alt. Die Kleine schaute mit großen Augen zu ihrem Vater. Kleine, schwarze Kringel Löckchen klebten an ihrem Köpfchen. Was für ein schönes Kind. Es war das dritte in der Reihe. Zwei ältere Brüder würden mit ihr spielen und sie behüten.

    Ein Bogen der Engel zum Anlass der Geburt eines Mädchens? Bis er verblasst war, fesselte er alle Dorfbewohner. Den ganzen Horizont hatte er eingenommen mit den Berge und der Wüste Juda. Immer noch redeten alle laut und aufgeregt durcheinander. Jeder wollte dem anderen seine Gedanken und Gefühle mitteilen.

    Der Vater war erschüttert; es war ihm unangenehm, so viel Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie waren einfache Menschen, gläubige Essener, Menschen, wie andere auch.

    Zwar hatte seine schwangere Frau immer wieder diese Träume gehabt, an die niemand aus dem Dorf so recht glauben wollte, auch er nicht. Viele Male hatte er seine Frau beschwichtigt und um Stillschweigen gebeten. Nur keinen Neid wecken oder noch schlimmer, Spott herausfordern.

    Mit leiser Stimme schickte er Jona, den älteren Sohn zur Sonnenuhr. Sachte zupfte Jeremias, der Zweitgeborene, seinen Vater am Ärmel. Auch er wollte etwas für die Schwester tun. »Hole ein Stück Leder.« Eifrig rannte er davon und brachte ein Stück Schafleder. Mit einem Nicken und Lächeln deutete Johannes auf Perez, den schreibkundigen Töpfer. Der Junge rannte los. Bedächtig ergriff Perez das Leder, ging schlurfend zur Uhr, begleitet von Jeremias, der fröhlich hüpfte und von dem bunten schönen Bogen plapperte.

    Krakelig hatte Jona die Geburtsstunde in den Sand geschrieben und betrachtete sein Werk. Diese Aufgabe erfüllte ihn mit großem Stolz. Mit gerunzelter Stirn betrachte der alte Töpfer Jonas Werk: »Hm, zur neunten Stunde.« Er wandte sich um. Laut bestürmten die Jungen den Töpfer. Sie wollten dabei sein, wenn er die Zahlen und einen Regenbogen einritzen würde. Gutmütig nickte Perez. Hopsend begleiteten beide Jungen den alten Mann zu seiner Werkstatt. Sie lachten, stießen sich an, rannten voraus, stießen die Tür auf und sahen erwartungsvoll nach Perez, der sich redlich mühte, den Jungen zu folgen.

    Die viele Aufregung erschöpfte Johannes. Doch Elisabeth musste es wissen. Hätte er sie aus dem Haus tragen sollen? Erst jetzt kam ihm dieser Gedanke. Das Himmelslicht für ihr Kind? Elisabeth hatte den schönen großen Bogen der Engel nicht gesehen. Jetzt bewegte sich das Kind in seinem Arm.

    Nach zwei Knaben, ein Mädchen. Johannes betrachtete seine kleine Tochter. Sie kam ihm schöner als schön vor mit den dunklen Härchen, den winzigen Händen und den dunklen Augen, die ihn immer noch so aufmerksam anschauten. Das verwunderte den Vater. Die Jungen hatten nach der Geburt tief und lange geschlafen. Vorsichtig küsste er sie auf die Stirn und brachte sie ins Haus.

    Die Hebamme hatte Elisabeth inzwischen gewaschen und ihr die schweißnassen Haare gekämmt. Als Johannes mit dem Kind ins Haus kam, verabschiedete sie sich gerade von Elisabeth. Sie würde morgen früh wiederkommen, wollte aber gern noch eine Weile mitfeiern.

    »Ja, es ist immer wieder überwältigend, wenn ein Kind geboren wird. Auch ich, trotz der vielen Geburten, bei denen ich geholfen habe, bin jedes Mal schrecklich aufgeregt«, sagte sie lachend beim Hinausgehen.

    Vorsichtig legte er die Kleine auf das Bett. Elisabeth ergriff seine Hand. Zärtlich drückte Johannes die Hand seiner Frau.

    Jetzt hatten sie noch ein Kind, das ersehnte Mädchen. Die Freude darüber konnte Elisabeth in den Augen ihres Mannes sehen. So wortkarg, wie er meistens war, erwartete sie selbst heute keine Rede. Seine Lippen berührten ihre Wange und er streichelte seine kleine Tochter, die jetzt auf einem Kissen neben ihrer Mutter lag.

    Aber bald erinnerte ihn das Lärmen der Nachbarn daran, dass er ein Fest ausrichten musste. Noch einmal drückte er ganz fest die Hand seiner Frau, bedankte sich und ging zurück in seinen Hof.

    Elisabeth schloss die Augen. Sie wollte schlafen, ihre Jungen würden ihr später Lammfleisch bringen.

    Johannes rief seine Knechte. Sie sollten die jungen Böcke schlachten, die er zuvor ausgesucht hatte. Der Platz vor dem Haus war groß genug, Tische und Bänke für alle Gäste waren bald aufgestellt. Hohe Akazien beschatteten das Areal. Fröhlich machten sich alle an die Arbeit. Eine Geburt war immer Freude und ein Anlass, zu feiern.

    Die Knechte des Johannes brachten Wein, eingelegte Pistazien, Mandel, frische Aprikosen, Kuchen, Feigen und Brot herbei; Zwiebeln, Lauch und Olivenöl lieferten die Nachbarn.

    Noch immer war der große Himmelsbogen im Mittelpunkt der Gespräche. Perez, der Töpfer, war der Dorfälteste. Alle fragten ihn, ob er schon einmal so einen herrlichen Bogen gesehen hatte. Perez kratzte sich am Kopf. »Nein, solch ein Wunder habe er noch nicht gesehen. Kleine Bogen ja, im Frühling, wenn es regnete, aber so viel Licht, nein.« Er schüttelte den Kopf und wischte gedankenverloren an seine Lederschürze.

    Bald prasselte ein großes Feuer vor dem Haus. Hunde schlichen herum, immer auf der Lauer, einen Bissen zu schnappen. Die Brüder, Jona und Jeremias, drehten mit an den Spießen. Das Fett der aufgespießten Tiere tropfte ins Feuer und Funken sprühten auf zur Freude der Kinder.

    Bis die Lämmer gebraten waren, tranken die Dorfbewohner Wein und aßen die süßen Kuchen. Später zerteilten die Knechte die Lämmer, und alle aßen mit großem Appetit das zarte Fleisch. Das Feuer malte Lichter auf die geröteten, frohen Gesichter.

    Immer wieder sprachen alle über das Wunder und die Umstände der Geburt. Johannes bemerkte, dass seine Nachbarn voller Hochachtung und Wohlwollen über die Geburt des kleinen Mädchens sprachen. Sie meinten gar schon, das Kind als zukünftige Priesterin und Heilkundige zu sehen. Ganz sicher würde sie ihrem Dorf große Ehre machen. Sogar bis nach Jerusalem würde der Name des Dorfes getragen werden, so hofften viele.

    Johannes wurde immer vergnügter. Er fühlte sich befreit. Sie würden nicht ins Gerede kommen. Oh, nein, sie hatten von Gott ein Kind mit großen Gaben bekommen. Ja, die Gemeinschaft nahm dieses Wunder an. Johannes winkte erleichtert einem Knecht, noch einen Krug mit dem besten Wein zu verteilen.

    Lange war die Sonne untergegangen und Fackeln erhellten den Hof, als Perez, der Töpfer aufstand und seine Stimme erhob: »Die Priester vom Salz Meer müssen das erfahren. Sie sind kundig, die Sternenbotschaft zu lesen und alles, was der Himmel offenbart.«

    Wieder riefen alle durcheinander: »Ja, Perez hat Recht. Die Priester müssen herkommen, das Kind sehen und von dem großen Bogen erfahren. Das ist ein Gotteskind; es ist im Monat Tschiri geboren, da hat ER die Welt erschaffen. Das Kind gehört Gott. Sie ist ein Nazaräer.«

    Als Johannes diese Worte hörte, zuckte er zusammen, »Ein Nazaräer! Was würde Elisabeth dazu sagen?«, murmelte er in seinen Bart.

    »Vater, was ist ein Nazaräer?«, fragte Jona laut, der aufmerksam zugehört hatte. Erschreckt betrachtete Johannes seinen Ältesten und hüstelte: »Ein Nazaräer ist ein Mensch, der einen besonderen Weg geht. Er hört die Stimme Gottes in seinem Herzen.«

    Verzückt schaute Jona seinen Vater an: »Dann kann meine Schwester richtig mit Gott sprechen? Ich werde ihn fragen, ob ich ein Jäger werden soll oder ein Hirte.«

    Lächelnd drehte sich Johannes zu seinem Sohn, ergriff seine Hand. »Was immer du auch werden wirst, es wird gut sein. Jäger oder Hirte.«

    Jona schaute seinen Vater ernst an, nickte. Er erhob sich, ging zufrieden zum Feuer, stocherte in der Asche. Sein Bruder warf Grasbüschel und kleine Steine hinein und beide freuten sich über die Funken.

    Schweigend saß Johannes da. »Wie sollte er es Elisabeth sagen. Sie hatte sich so sehr eine Tochter gewünscht.«

    »Sollen wir Boten schicken?«, fragte der Töpfer Johannes.

    Bei schweren Krankheiten oder Unglücksfällen machten sich einzelne Dorfbewohner auf, oben am Salz Meer Rat einzuholen. Nur die vier Priester konnten Dinge voraussagen.

    Der Vater nickte, starrte gedankenverloren auf die Erde, sagte noch immer kein Wort. Er war ein besonnener Mann, grübelte viel. Er wollte es Gott recht machen.

    Die Meinen stammen ab von Juda, der ein Sohn Jacobs war. Die Propheten wurden von ihnen in Ehren gehalten. Wir glauben an ein Leben nach dem Tod. Wir glauben, dass Gott uns geweihte Menschen schickt, die uns, den Weg der zehn Gebote als Richtschnur für unser Handeln weisen. Der Bogen, mit dem Gott unsere Tochter gesegnet hat, ist seine Botschaft. Unsere Tochter ist auserwählt. So muss es sein. Elisabeth wird es verstehen.

    Sichtlich erleichtert, erwiderte Johannes: »Ja, wir schicken Boten. Das müssen unsere Priester erfahren.«

    In der Nacht als Elisabeth erwachte, um das Neugeborene zu stillen, sah sie Johannes am Tisch sitzen. Er hatte sich eine Lampe angezündet und las in ihrem Schein die Thora.

    Halblaut murmelte er die Schriften Jesaias im elften Buch vor sich hin »…dass eine Wurzel einen Zweig hervorbringt und der Geist Gottes wird sich darauf setzen…»

    Elisabeth fiel mit leiser Stimme ein.

    »Frau, wir müssen Abschied nehmen, dieses Kind wird nicht uns gehören.«

    Elisabeth nickte, ihre Träume. Sie hatte es geahnt. Tränen flossen ihr die Wangen herab. Fest hielt sie das Baby in ihren Armen, küsste es zärtlich und flüsterte halblaut: »Lobe den Herrn, meine Seele. Ein Mensch ist in SEINEM Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr (Psalm 103:15:16).

    Aber diese Blume bleibt, so will es der Herr!«

    Beinah getröstet lehnte sich Elisabeth zurück und betrachtete ihren Mann.

    Die Kleine schlummerte in einer Wiege, in der schon ihre Brüder gelegen hatten. Voller Trauer und Wehmut beteten die Eltern lange für ihre kleine Tochter. Dieses Mal wollte die Schwere nicht weiche. Wie eine zähe klebrige Furcht hing sie in ihren Herzen.

    »Lobe den HERRN.« Während sie diese Worte sprachen, fassten sich Elisabeth und Johannes an den Händen, drückten sie lange. Johannes küsste seine Frau auf den Mund, wie er es getan hatte, als sie ganz jung und frisch verheiratet gewesen waren. Sie waren sich nahe, wie schon so lange nicht mehr.

    Johannes war ein sanftmütiger Mann, der abends gern las. Gewöhnlich nach dem Nachtmahl holte er die Rolle aus dem Schrein, wickelte sie aus dem bunten Tuch und legte sie auf den Tisch. Feierlich dankte er Gott für den Tag und las ein Stück aus der Thora laut vor. Die Kinder wiederholte seine Worte. Anschließend legte er nacheinander den Jungen seine Hände auf den Kopf und segnete sie. Dann mussten die Kinder schlafen gehen.

    Johannes kannte die Thora auswendig und machte sich viele Gedanken über das Leben. Mit Elisabeth sprach er über seine Eindrücke. Beide liebten diese Gespräche bei flackerndem Kerzenlicht.

    An den jüdischen Festtagen, wenn Johannes zum Tempel nach Jerusalem zog, um seine jungen Böcke zu verkaufen, unterhielt er sich oft mit Gamaliel, einem Hohepriester, mit dem er befreundet war und bekam Antworten auf seine Fragen.

    Am übernächsten Tag, kurz nach Sonnenaufgang, machten sich Jona und der älteste Knecht der Familie, Bartholomäus, auf den Weg nach Qumran. Beide waren in braune warme Umhänge gehüllt. Nur Jonas Füße schauten neugierig heraus. In ihrem Bündel war das Stück Tierhaut, das Perez beschrieben hatte mit der Geburtszeit. Und das sollten sie berichten: »Hier, in den Bergen, unweit von Hebron, in einem kleinen Dorf, hat sich ein Wunder ereignet. Ein Kind ist zur neunten Stunde im Monat Tschiri geboren worden, begleitet von brausendem Wind, der kein Wind war und einem großen herrlichen Himmelsbogen.

    Die Mutter hatte in ihren Träumen Hinweise bekommen: Ihr drittes Kind sei ein Mensch, der Gott schauen kann. Immer wieder erschien der Mutter im Traum eine weiße Taube, die eine weiße Rose im Schnabel trug. Die Taube flog mit dieser Rose zu einem See und ließ sie fallen. Das Wasser verschwand und ein Tempel mit goldenen Säulen tauchte auf. Harfenklänge, zwei Menschen erschienen. Ein Liebespaar. Sie hielten sich an den Händen, lächelten sich an, waren ganz in weiß gekleidet und leuchteten.«

    Immer wieder murmelte Jona diese Worte vor sich hin, die der Vater ihm mit auf den Weg gegeben hatte. Er war überglücklich, der Überbringer dieser Botschaft zu sein. Übermütig rutschte er auf seinem Esel hin und her. Pfiff nach dem großen, braunen Hund, der alle Wege dreimal machte. Der Hund umsprang den Jungen und schnappte nach den Beinen des Esels, was dieser mit einem vorwurfsvollen

    »IaIa« beantwortet und ausschlug. Jona lachte, doch Bartholomäus schaute ihn streng an.

    Immer wieder musste Bartholomäus ihn ermahnen, nicht so wild zu sein. Doch Jona war viel zu ausgelassen, dass er schnell alle Ermahnungen vergaß und weitermachte.

    Bartholomäus beschränkte sich darauf, den Hund an seine Seite zu rufen. Er sah ein, dass der Junge nicht anders konnte. Es war zu aufregend für ihn, die kleine Schwester und dann noch das Wunder am Himmel.

    Die Wege in den Bergen waren übersät mit Geröll, und so kamen sie nur langsam voran. Die Esel gingen vorsichtig und bedächtig, was Jona noch ungeduldiger machte. Die frohe Botschaft wollte er endlich loswerden.

    In den Wadis kamen die Tiere noch schlechter voran. Nach der Regenzeit war zerklüfteter, harter Schlamm übrig geblieben in den Flusstälern. Wenig Grün wuchs an den ausgetrockneten Ufern. Die Berge rings umher waren kahl und zerfurcht. Rötliche Felsbrocken rollten bei jedem Unwetter herab in die Täler und auf die Pfade, die Mensch und Vieh benutzten.

    Neugierige Klippdachse schauten aus ihren Höhlen, wenn sie Geräusche hörten.

    Bartholomäus erlegte zwei mit seiner Schleuder, die der Hund schwanzwedelnd einsammelte.

    »Es ist Gottes Wille, dass wir Tiere essen. Diese hier schmecken sehr gut. Ich brate sie heute Abend am Feuer«, sagte der Knecht zu Jona, der erstaunt war, dass Bartholomäus so etwas konnte. Auf Jagd war er noch nie gewesen. Er war Hütejunge für die Ziegen seines Vaters.

    Alle drei Stunden machten sie eine Pause, aßen ihr Brot und tranken Wasser aus einem Lederbeutel. Dadurch verzögerte sich die Reise. Jona rannte in dieser Zeit umher. Das Reiten strengte ihn zwar an, aber nicht so, dass er sich wie der Knecht in den Schatten setzen musste.

    Bartholomäus ermahnte ihn immer wieder, nicht so hoch in die Berge zu klettern. Aber Jona hörte nicht. Hinter jedem Stein konnte eine Eidechse sein, in trockenen Grasbüscheln sich ein Nest verstecken. Die Welt war für ihn noch voller Wunder.

    Am Abend suchte Bartholomäus einen Unterschlupf für die Nacht. Eine größere Einbuchtung zwischen hohen Felsen lud dazu ein. Die Tiere waren beschützt und sie auch. Ein kleines Feuer genügte, um die Dachse zu braten und Wildhunde zu vertreiben, die in den Eseln leichte Beute sahen. Sem, der Hütehund, war wachsam. Er schlich um das Feuer herum, knackte und zermahlte die Knochen, die ihm zugeworfen wurden. Schlau, wie er war, wusste er genau, dass er noch Fleisch bekommen würde und schielte immer wieder zu Bartholomäus.

    Der Knecht liebte diesen Hund, den er schon als Welpen bekommen hatte, um aus ihm einen treuen Hüter zu machen.

    Nachdem sie Brot, Fleisch, Oliven und getrocknete Früchte verzehrt hatten, wickelten sich die beiden in ihreUmhänge und legten sich ans Feuer auf die nackte Erde. Bartholomäus schlief mit seinem Dolch in der Hand und Jona hatte einen Knüppel neben sich. Der Hund musste sich oberhalb auf einen Vorsprung legen, um Wildhunde oder Beduinen, die auf Raub aus waren, anspringen zu können. Jona schaute noch einmal zu dem Sternenmeer hinauf, er suchte seinen Stern.

    Sein Vater hatte ihm einmal gesagt, dass jedes Kind einen Wächter dort oben am Himmel habe und zeigte auf einen Stern.

    »Dieser, mein Sohn, der so rot schimmert, das ist dein Stern. Als du geboren wurdest, habe ich diesen Stern am Himmel ganz deutlich gesehen. Er beschützt dich, aber du musst aufpassen, es ist ein Feuerstern.« Während er sprach, hielt sein Vater seine Hand auf seinem Kopf und segnete ihn. Das würde Jona nie vergessen. Doch bevor er den Mars gefunden und sein Gebet gemurmelt hatte, war er schon eingeschlafen. Es war ein ereignisreicher Tag für den kleinen Jungen gewesen.

    Nach zwei Tagen hatten sie es endlich geschafft. Vor ihnen lag Qumran auf hohen rötlichen Felsen. In der Ferne blinkte das Salz Meer und verströmte eine Feuchtigkeit, die auf der Zunge brannte, aber gut schmeckte. Jona leckte sich immer wieder die Lippen. Sie waren schon feuerrot und rissig.

    Bartholomäus zeigte Jona den Weg, der sich zwischen Felsen hochschlängelte. »Du bist der ältere Bruder, verkünde du die Worte, die dein Vater gesprochen hat. Ich will hier unten bei dem Bauern Micha mit den Eseln und dem Hund auf dich warten und mir die Zeit mit Dattelwein und Kuchen verreiben. Die da oben haben doch nur Wasser«, der Knecht schüttelte sich. Er liebte eingelegte Datteln und Dattelkuchen. Das wollte er richtig genießen.

    Jona lachte, er kannte die Leidenschaft. »Kaufe auch Datteln für die Mutter«, bat er. Bartholomäus nickte.

    Jona war beinah neun Jahre alt; ein Junge mit dunklen Augen, olivfarbener Haut und schwarzen weichen Locken. Wie würden ihn die Priester empfangen? Jonas Mut sank. Er ließ die Schultern hängen. Bartholomäus sah es und nahm ihn in den Arm: »Dein Vater ist stolz auf dich, und er hat dich zu den Priestern geschickt. Du hütest seine Ziegen gut. Er weiß, dass er sich auf dich verlassen kann. Du bist der beste Hütejunge, den ich kenne und ich kenne viele.«

    Bartholomäus zwinkerte mit den Augen und Jona musste lachen. Jona liebte Bartholomäus. Meist hatte er Zeit für ihn gefunden. Einen Stock hatte er ihm geschnitzt und gezeigt, wie man damit fischt. Der Vater war viel zu beschäftigt mit seinen Geschäften und viel zu ernst. Bartholomäus war anders, er spielte sogar mit beim Weitwerfen, beim Schießen mit der Schleuder und dem Stockspiel. Meist zog Jona den kürzeren Teil und verlor, doch es machte gar nichts. Hauptsache, es wurde gespielt.

    Jona reckte sich und richtete sich wieder auf. Immerhin hatte er den Himmelsbogen gesehen. Er atmete tief ein, schaute Bartholomäus an und berührte ihn am Arm. Entschlossen stapfe er schnell den ausgetretenen Pfad nach oben.

    DAS STERNENORAKEL

    Für ihr hohes Alter schritten die beiden Priester zügig aus. Vor der Dunkelheit wollten sie Dora erreichen. Gewiss würden sie mehrere Tage brauchen, um zum Sinai zu kommen. »Gott möchte uns etwas sagen. Das Sternenorakel wartet auf uns«, immer wieder murmelten sie diese Worte und spornten sich gegenseitig an.

    Ihre Lebenskraft schöpften sie aus der Meditation und dem Rezitieren von Schriften der Propheten. Auf langen Reisen hatten sie viele Tempel und Heilsstätten besucht. Sie kannten die geheimen Lehren des Zarathrustras, des Phytagoras und des Manu, sie waren Sterndeuter und Eingeweihte des Mysteriums im Berg. Sie konnten die Zukunft voraussagen. Immer wieder stimmten sie das Lied der Sonne an. Es lebte und pulsierte seit vielen Jahren in ihren Adern.

    Dieses Lied wurde schon in Persien und im Alten Ägypten gesungen. Einst hatte ein Pharao Gott im Glanz der Sonne erblickt, auch er sang dieses Lied. Es war voller Sehnsucht nach Vollkommenheit.

    Später verwob sich in die Melodie die Gewissheit, dass er selber kommen würde: der Messias, der Sohn der Sonne, der Sohn Gottes.

    Auf ihrem Weg sprachen die beiden Alten immer wieder über den Adler. Warum hatte Gott diesen Boten ausgewählt?

    »Seine Seelenkräfte spiegeln die Weite seines Jagdreviers, die Einsamkeit seines Horstes und seine Unabhängigkeit. Mit seinem Weibchen ist er lebenslang verbunden. Der Himmel ist beiden tags nah und nachts fern. Weit oben spielen sie im Frühling miteinander, benutzen die Aufwinde zum Segeln und stürzen sich spielerisch in die Tiefe. Dieses Sein verschenkt Gott«, grübelte Ruach laut.

    Derartige Gedanken verjüngten die Alten. Ihre Muskeln strafften sich. Die Menschheit sollte einen weiteren Schritt ins Licht gehen. So musste es sein. Das Leben sprach zu ihnen durch den Adler.

    Geröll, Sand, vertrocknete Pflanzen säumten den Pfad durch die roten Berge. Der Geruch des Meeres begleitete sie lange auf ihrem Weg. Hin und wieder, wagte ein kleines Blümchen zu grünen. Durch viele ausgetrocknete Täler schlängelte sich der schmale Pfad. Meist wurde er nur von Hirten benutzt, die ihre wenigen Tiere in diese Ödnis führten. Zu karg war diese Landschaft. Mensch und Tier mussten bescheiden an dieser Seite der Gebirgskette leben.

    Angekommen in Dora gingen sie in die Schmiede am Dorfeingang. Benjamin, der Schmied, lebte nach den Regeln der Essener und bot Reisenden gern Unterkunft an. Zu ihrer Überraschung saßen dort Jebuscha und Jammin auf einer Bank vor dem Haus. Sie waren vor wenigen Stunden aus Qumran gekommen, nachdem sie von dem Regenbogen im Berg gehört hatten.

    »Gepriesen sei der Herr«, rief Nour erfreut aus, »dass ihr hier seid. Jetzt weiß ich gewiss, dass wir auf seine Hilfe hoffen können. ER will uns etwas mitteilen. Im gemeinsamen Gebet sind wir stark genug, seine Botschaft zu empfangen. Das ist eine Fügung! Doch erzählt bitte, wie alles gewesen ist«, rief Jammin.

    Nour und Ruach schauten sich an und setzten sich dazu. Ruach berichtete ausführlich vom Adler. Wie der Vogel beim Sonnenaufgang angeflogen kam. »Und hättet ihr die Schreie gehört, laut und eindringlich.«

    »So etwas habe ich noch nie gehört«, wunderte sich Jebuscha. Die vier Alten schwiegen einen Moment, »Dann bin ich zu Nour gegangen. Inzwischen war der Vogel zur großen Kiefer geflogen. Aufgeplustert saß er da und starrte uns entgegen. Da war uns klar, es musste ein Bote Gottes sein. Kein Adler sucht die Nähe der Menschen.«

    »Das stimmt, davon hätten wir gehört«, überlegte Jebuscha.

    »Weiter, erzähle bitte weiter, was geschah dann«? bat Jammin. »Also, wir schauten den Vogel noch eine Weile an und er starrte zurück. Dabei nickte er unablässig mit dem Kopf, als ob er uns auffordern wollte, etwas zu tun. Schließlich stieß mich Nour an. Ich hätte noch stundenlang dem Adler zuschauen können. So ein prächtiges Tier. Wir beschlossen in den Berg zu gehen, um nahe bei Gott zu sein und seinen Willen zu erfahren. Ich sagte es laut. Daraufhin schrie der Vogel und hüpfte ein paar Äste tiefer. So schnell wir konnten, eilten wir hinunter in unser Heiligtum. Unsere Gebete riefen den Geist herbei. Seine Antwort waren Blumendüfte, ein Raunen und ein Regenbogen, der alles mit seinem Licht einhüllte. In diesem Licht erschien ein junges Paar. Ihre Liebe hat unsere Herzen berührt. Unsere Erinnerungen brannten und loderten. Wir spürten wieder Verliebtheit, Liebe, Nähe, Sehnsucht, auch Verzweiflung. Vergessene Gefühle brachen hervor. Wir beschlossen, mehr über diese jungen Menschen herauszufinden. Das haben wir dem Adler oben gesagt. Er hat uns zugehört, mehrmals mit seinem Kopf genickt, sich geschüttelt, als ob er es geschafft hätte. Mit einem lauten Schrei flog er weg. Deshalb sind wir jetzt hier. Wie immer ist seine Führung richtig, für diejenigen, die IHM vertrauen.«

    Nour räusperte sich und sagte: »Ja, so war es. Wir sitzen hier in Dora beim Schmied und gehen gemeinsam weiter.« Er stand auf und streckte seine Hände aus: »Brüder steht auf, lasst uns danken.« Sie ergriffen sich an den Händen und sangen das Lied der Sonne.

    Später brachte der Schmied ihnen Wasser zu trinken und sagte: »Lasst euch Zeit, meine Frau Sarah freut sich über euren Besuch. Sie wird ein gutes Mahl bereiten. Ich rieche schon die Kräuter, die sie in den Teig kneten wird.« Freundlich schauten die vier Priester den Schmied und warteten auf das Essen. Schweigsam tauchten alle das Brot in die Suppe.

    Nach dem Dankgebet mussten die vier Priester Fragen beantworten, die der Schmied und seine Frau Sarah auf dem Herzen hatten.

    Inzwischen hatte es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass die Priester vom Berg in der Schmiede waren. Die

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1