Total Data - Total Control: Nulltoleranz in allen Lebensbereichen
Von NZZ Libro
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Über dieses E-Book
erkennbaren Akzeptanz ergibt sich vielleicht eine Hinwendung zu einer neuen Kompromisslosigkeit – mit unabsehbaren Folgen. Das Buch «Total Data – Total Control» befasst sich mit der Frage der individuellen Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit vor genau diesem Hintergrund. Die Aufsätze
einer interdisziplinären Autorenschaft regen zum Denken an und fördern die Debatte zu diesem Thema.
Mit Beiträgen von Bruno S. Frey, Hannes Grassegger, Allan Guggenbühl, Ernst Hafen, Matthias Haller, Konrad Hummler, Martin Killias, René Scheu, Fabian Schönenberger, Roberto Simanowski und Frank Urbaniok.
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Buchvorschau
Total Data - Total Control - NZZ Libro
Total Data – Total Control
Null-Toleranz in allen Lebensbereichen
Herausgegeben von
Konrad Hummler und Fabian Schönenberger
NZZ Libro
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2017 NZZ Libro, Neue Zürcher Zeitung AG, Zürich
Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2017 (ISBN 978-3-03810-237-3)
Lektorat: Max Kellermüller, Nanaimo, Kanada
Titelgestaltung: Seiler / Graphik und Design GmbH
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.
ISBN E-Book 978-3-03810-307-3
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Neuen Zürcher Zeitung
Inhaltsverzeichnis
Konrad Hummler, Fabian Schönenberger
Vorwort
Martin Killias
«Immer mehr Kontrolle, immer weniger Freiheit» – eine geschichtsblinde Sichtweise
Konrad Hummler
Total Data – oder die auffindbare Nadel im Heuhaufen
Fabian Schönenberger
Null-Toleranz und kreative Zerstörung – warum es den modernen Unternehmer gerade jetzt braucht
Bruno S. Frey
Kontrolle, Wohlstand und Glück
Frank Urbaniok
Wo Null-Toleranz imperativ ist
Allan Guggenbühl
Null-Toleranz oder das Ende der Erziehung
Roberto Simanowski
Kalter Bürgerkrieg und Data Love – Privatsphäre zwischen Datenschutz und gesellschaftlichem Erkenntnisinteresse
Ernst Hafen und Mathis Brauchbar
Data to the people – Befreiung aus der digitalen Leibeigenschaft
Matthias Haller und Matthias Holenstein
Big Data und Versicherung
Konrad Hummler
Fehlerfreier Algorithmus
Hannes Grassegger
Schwarzes Kapital
Martin Meyer
Privacy? Ade! – Unterwegs zur Selbstpreisgabe
Autorenverzeichnis
Progress Foundation
Vorwort
Konrad Hummler, Fabian Schönenberger
Bis anhin erübrigte sich eine Debatte über «Null-Toleranz» eigentlich. Denn Null-Toleranz, als Form des Zusammenlebens in der Gesellschaft praktiziert, war schlicht zu aufwendig. Die dafür notwendigen Kontrollmassnahmen konnten nicht einmal in den totalitärsten Staaten so engmaschig angelegt werden, dass die erwünschte Wirkung lückenlos eingetreten wäre, zumal sich ohnehin auch noch das Problem der Kontrolle über die Kontrollorgane ergab. Typischerweise wurden im totalitären Staat als Folge der hohen Kosten einer möglichst lückenlosen Kontrolle die Kosten für die Verletzung der Null-Toleranz erhöht. Drastische Strafen für Bagatellübertretungen waren Ausdruck des gestörten Kosten-Nutzen-Verhältnisses im totalitären Staat; der Schrecken musste mit seiner Vorwirkung beim Bürger die Mangelhaftigkeit der realen Kontrollmechanismen antizipativ substituieren. Die Idee der Null-Toleranz beziehungsweise der Versuch ihrer Umsetzung und brutale Staatsgewalt waren deshalb immer miteinander verknüpft. Die Ablehnung der Idee von Null-Toleranz entsprach deshalb dem Common Sense zivilisierter Kreise. Ob eher links, bürgerlich-liberal oder auch politisch rechts verortet, spielte dabei keine Rolle.
Neue Technologien senken nun allerdings die Kosten der Kontrolle erheblich. Kein Bahngeleise, keine Tramstation, kein Eisenbahnwagen, keine Strassenkreuzung und keine Raststätte ohne Überwachungskamera. Keine Bank ohne Erkennungssoftware für geldwäschereiverdächtige Transaktionen. Kein PC, kein Tablet Computer, kein Smartphone ohne Staatstrojaner. Die moderne Gesellschaft kann sich, ohne zu drastischen Strafmassen greifen zu müssen, sanft-totalitär im Sinne der Null-Toleranz organisieren, weil die Kontrollkosten gegen Null tendieren. Wir Menschen gehen in dieser Situation sogar so weit, dass wir uns selbst, sanft-totalitär, kontrollieren lassen. Wir benutzen Schrittzähler, Ortungsdienste, Kalorienrechner, Schlafüberwachungssoftware und aufs Handy aufsteckbare Alkoholpromillemessgeräte zur sanft-totalitären Selbstkontrolle. Ob durch das staatliche Umfeld angewandt, ob durch eigene Hand an uns selbst appliziert: Je billiger die Kontrolle, desto mehr wird sie angewandt. Das könnte das Ende der Freiheit bedeuten.
Wie erklärt sich die Kontrollaffinität von Mensch und Gesellschaft? Ist sie anthropologisch begründet? Haben die Erfahrungen während der menschlichen Evolution die Gefahr des Kontrollverlusts – und mithin der Risikonahme – zu einem negativen Auswahlkriterium für unsere Spezies werden lassen? Mag sein. Andererseits wissen wir, dass just die Freude an der Risikonahme – und somit am gezielten Kontrollverlust – die wesentlichste Triebfeder für die Entwicklung der Menschheit war. Und wir wissen auch, dass zusätzliche Kontrollmöglichkeiten nicht weniger, sondern mehr Risikonahme nach sich zogen. Mit dem Auto begann der Mensch erst waghalsige Überholmanöver zu vollführen, nachdem das Kontrollinstrument des Rückspiegels erfunden war. Optionsgeschäfte begannen an den Finanzmärkten erst dann Furore zu machen, als dank Black und Scholes einfache Berechnungsmethoden zur Annäherung an eine korrekte Preisbildung gefunden worden waren. Kontrolle und Risiko stehen einander mit anderen Worten in einem zwiespältigen, ja widersprüchlichen Verhältnis gegenüber. Das Mehr an (immer kostengünstigerer) Kontrolle könnte am Ende auch zu einer Überhandnahme letztlich nicht mehr kontrollierbarer Risikonahme führen – weil man alles als kontrollierbar wähnt.
Vor dem Hintergrund der geschilderten Widersprüche wurde der vorliegende Sammelband von Essays konzipiert. Am Anfang stand ein Workshop zum Thema «Null-Toleranz» der Progress Foundation auf Schloss Freudenfels ob Stein am Rhein. Die meisten Autoren hatten an den sehr lebhaften Debatten zum Thema teilgenommen. In Gefolge der Veranstaltung erschien es als sinnvoll, ihre Positionen und zusätzlichen Erkenntnisse zu Papier zu bringen. Das Ziel des Bandes besteht gewiss nicht darin, absolute Wahrheiten zu vermitteln. Deshalb lassen wir als Herausgeber vorsätzlich auch widersprüchliche Sichtweisen aufeinanderprallen. Unsere gemeinsame Motivation manifestiert sich in der Absicht, Gedankenanstösse zu vermitteln, die eine notwendige gesellschaftspolitische Debatte anzustossen und zu nähren vermögen.
So bleibt uns nun nur noch zu danken: Allen Autoren, die sich in ihren gewiss nicht unterbefrachteten Agenden doch noch die notwendige Luft verschaffen konnten, um ihre Gedanken in eine schriftliche und damit für weitere Kreise nachvollziehbare Form zu bringen. Sodann unseren studentischen Mitarbeitern Roman Dobriakov und David Wiprächtiger, die mit viel Elan und Ausdauer zum Gelingen dieses Buches in materieller und zeitlicher Hinsicht beigetragen haben. Ein herzliches Dankeschön geht auch an Richard Hall für seine professionellen und überaus lesenswerten Übersetzungen der Abstracts. Schliesslich sei auch der Progress Foundation ein verbindlicher Dank für die Fortsetzung der langen Reihe von Themenbänden zu Zeitfragen ausgesprochen. Der intellektuelle Diskurs entsteht nicht von selbst, zu seiner Fortführung braucht es auch Geld, Geist und vorausschauende Menschen.
«Immer mehr Kontrolle, immer weniger Freiheit» – eine geschichtsblinde Sichtweise
Martin Killias
Die Klage, dass unsere Freiheit beim Navigieren im digitalen Alltag zusehends durch Kontrollen und Sicherheitsinstallationen eingeschränkt werde, ist weit verbreitet. Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung und angesichts des massiv erweiterten Angebots an freien Gestaltungsmöglichkeiten im heutigen Alltag erscheint diese Beschwerde jedoch geradezu als absurd. Vergegenwärtigt man sich, wie Menschen früher ihren Alltag erlebten, so kann man sich über die empfundene Beschränkung unserer «Freiheit» nur wundern. Zu früheren Zeiten waren die Menschen massiv eingeschränkt durch wenig entwickelte Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten und damit nicht nur ökonomisch, sondern durch die gesellschaftlich antifreiheitlichen Konventionen auch in Ihrem Privat- und Sexualleben eingeschränkt. Dies zeigt auf, wie viel an realen Möglichkeiten der autonomen Lebens- und Alltagsgestaltung wir gewonnen haben. Es war die technische Innovation der Verkehrs- und Kommunikationsmittel, die uns unendlich viele kleine und grosse Freiheiten beschert hat, auf die wir unter keinen Umständen wieder verzichten möchten. Die Freiheit, alles Mögliche tun oder lassen zu können, konnte nicht trotz, sondern gerade wegen der technologischen Revolutionen errungen werden. Andererseits bringen diese neuen Möglichkeiten auch Bedrohungen für unsere Sicherheit mit sich, ohne die es keine Freiheit gibt. Die ideale Lösung liegt daher nicht in einer Gesellschaft der – auch kriminell – unbegrenzten Möglichkeiten, sondern in einem Ausgleich zwischen sinnvollen, legitimen Kontrollen zur Reduktion krimineller Risiken und einer exzessiven, intrusiven Kontrollgesellschaft à la «Big Brother». Gefragt sind sinnvolle Lösungen, mit denen die Kontrolleure anhand eines umfassenden persönlichen Datenschutzes kontrolliert werden können, der die Überwachung, Speicherung und Verarbeitung von Daten einschränkt, damit so ein nachhaltig freiheitliches System funktionieren kann.
Following a widely shared view, electronic means of supervision and control of access are increasingly restricting personal liberties. The author criticizes this idea as fundamentally a-historic, because it ignores the countless restrictions of liberties that past generations experienced in their everyday life. Before 1800, less than half of those who attained the age of 20 ever had a legitimate marriage partner, and sex life was extremely restricted for the vast majority of lower-class individuals. The attraction of foreign military (mercenary) service should be viewed also in light of such restrictions of freedom in everyday life. With the onset of early industrialization and the development of modern mass transportation and communication, many restrictions to personal mobility disappeared and life chances increased dramatically. With easy ways to move and communicate with others without interference and control by superiors and bystanders, opportunities to offend increased in parallel – and so did crime rates throughout the Western World, especially after 1945. Security technology at all levels restricts again some liberties, but with the aim to protect others from illegitimate attacks on their quality of life. Decreasing crime rates, as observed over the last decade in most Western societies, can largely be attributed to increased levels of security. Overall and despite claims to the contrary, new technologies have opened unprecedented freedoms of movement and communication with others. The real issue only can be to keep controllers and controls under control, especially by data protection rules that restrict monitoring, stocking and making use of information gathered through technical devices of everyday transactions.
Die Klage, unsere Freiheit werde immer mehr beschnitten, ist bereits so etwas wie ein Evergreen des politischen Diskurses. Tatsächlich sieht man immer mehr technische Sicherheitsvorkehrungen, Überwachungskameras, Zutrittskontrollen mit elektronischen Geräten und anderes mehr, was leicht die Illusion entstehen lässt, wir hätten immer weniger «Freiheit». Dabei wird mit «Freiheit» unausgesprochen gemeint, das tun oder unterlassen zu können, wonach einem gerade der Sinn steht. Ob Freiheit noch tiefere Bedeutungen hat oder haben müsste, wollen wir hier bewusst ausklammern.
Wie steht es nun mit dieser Freiheit, jederzeit, überall, in allen Lebenslagen tun und lassen zu können, wozu immer man gerade Lust hätte? Vergegenwärtigt man sich, wie Menschen früher ihren Alltag erlebten, kann man sich über die Vorstellung, unsere «Freiheit» werde immer mehr beschränkt, nur wundern. Für landwirtschaftliche Hilfskräfte, sprich Knechte und Mägde, begann der Tag jeweils frühmorgens, jedenfalls vor 6 Uhr morgens. Dann galt es das Vieh zu versorgen, und gegen 8 Uhr folgte das Frühstück. Nachher folgte die Tagesarbeit – im Sommer auf den Feldern, im Winter im Wald – bis in den frühen Nachmittag, nach einem Mittagessen wiederum die Tagesarbeit, am Ende das Versorgen des Viehs und schliesslich ein Nachtessen und die Bettruhe. Während dieses Tagesablaufs waren die Menschen fast immer unter Kontrolle, sei es, weil viele Arbeiten die Mitwirkung anderer erforderten, sei es, weil die Aufgabe an sich – etwa das Viehhüten – ihr Tun und Lassen indirekt kontrollierte. Was das bedeutete, kann man sich am ehesten veranschaulichen, wenn man sich Erfahrungen im Militärdienst in Erinnerung ruft, wo bekanntlich jedes «Abhauen» – und sei es auch nur in die nächstgelegene Bar – als unerlaubte Entfernung von der Truppe empfindlich bestraft wurde.
Ausser am Sonntag, wo der obligatorische Kirchenbesuch einen grossen Teil der Zeit beanspruchte, gab es in diesem monotonen und stark durchkontrollierten Alltag kaum Freiräume. Richtig «ausflippen» konnte man nur an Kirchweihen und anderen Volksfesten, die alle paar Monate etwas Licht in diesen Alltag brachten. Bei solchen Anlässen, zu welchen jeweils junge Leute aus einem grösseren Umkreis zusammenströmten, gab es nicht nur Alkoholexzesse und Schlägereien, sondern auch Tanz und Gelegenheiten zu Kontakten mit dem anderen Geschlecht – manchmal mit Folgen. Solche Gelegenheiten zur Unterhaltung, deren schlechten Einfluss auf die guten Sitten die Pfarrherren und andere Sittenwächter beklagten, zogen oft auch unehelich geborene Kinder nach sich.
In diesem Zusammenhang muss man sich vergegenwärtigen, was für ein überaus armseliges Sexualleben die Menschen früher führten. Bis die Bundesverfassung ab 1848 die Ehefreiheit garantierte, war die Eheschliessung nur Paaren gestattet, die über ein Mindestmass an Besitz verfügten. Allen anderen war eine legitime sexuelle Betätigung grundsätzlich verwehrt. Von den Menschen, die überhaupt das Erwachsenenalter erlebten, blieb die Hälfte bis in die Zeit der Frühindustrialisierung – als eine bescheidene Wohlstandssteigerung einsetzte – ehelos. Prostitution gab es nur in den grösseren Städten, wo sie nur im engen Rahmen von Bordellen geduldet wurde. Die meisten Menschen aber hatten gar keine Möglichkeit, jemals in eine grosse Stadt zu gelangen. Auf der Landschaft gab es zwar immer wieder «Huren», aber diese wurden meistens massiv unterdrückt und unter allen möglichen Vorwänden verbannt oder zuweilen auch hingerichtet.
In dieser Gesellschaft lebten junge Männer ihre Sexualität nicht selten mit Tieren aus. Dazu bot das Viehhüten auch relativ viele Möglichkeiten in einer Zeit, als es noch keine Metalldrähte zur Einzäunung gab und das Vieh deshalb auf abgelegenen Weiden beaufsichtigt werden musste. Dass diese Form von Sexualität auch relativ häufig vorgekommen sein muss, bezeugen die vielen Prozesse wegen «Sodomie» unter dem Ancien Régime. Nicht auf der Verfolgung von Hexen, sondern auf der Bestrafung von Homosexualität und «Unzucht mit Tieren» lag die Priorität des Strafrechts in vergangenen Zeiten – was viele, vor allem junge Männer und oft auch Knaben auf den Scheiterhaufen brachte. Heute ist sexueller Umgang mit Tieren vor allem noch in Kulturen verbreitet, in denen das Konzept der «Freundin» nicht existieren darf und wo kaum legitime Möglichkeiten zum Ausleben der Sexualität bestehen. Dass «Sodomie» unter dem Strafrecht des 17. und 18. Jahrhunderts so viele junge Leute das Leben kostete, vermittelt eine vage Vorstellung davon, wie elend und armselig das Sexualleben damals für breiteste Kreise gewesen sein muss. Und dass viele junge Männer sich für fremde Dienste anwerben liessen, muss wohl auch vor dem Hintergrund des ebenso trostlosen wie perspektivlosen Alltagslebens der ländlichen Unterschicht betrachtet werden: In den fremden Städten mit ihren Bordellen, gelegentlich auch bei kriegerischer Heimsuchung in feindlichen Gebieten, ergaben sich Möglichkeiten zum Ausleben der Sexualität. Man muss die Attraktivität des Dienstes in Schweizerregimenten fremder Fürsten wohl auch vor diesem Hintergrund sehen.
Die im 19. Jahrhundert entstandenen Verkehrsmittel erhöhten die Mobilität der Menschen in einem bis dahin nie dagewesenen Ausmass – und erweiterten damit indirekt ihre «Freiheit». So richtig unkontrolliert «abhauen» konnte man zwar noch immer nicht, weil die Züge zu teuer und zu langsam waren, um «mal schnell» irgendwohin zu kommen. Auch das Pendeln war damals noch kaum verbreitet; davon zeugen die vielen Industriebauten aus dem 19. Jahrhundert in abgelegenen ländlichen Gegenden, wo Wasserkraft und Arbeitskräfte in grosser Zahl verfügbar waren. Mit dem Aufkommen des täglichen Pendelns zum Arbeitsplatz, sei es nun mit öffentlichen oder privaten Verkehrsmitteln, der Möglichkeit, jederzeit jede bekannte Person drahtlos zu erreichen, und schliesslich auch mit Unbekannten unbemerkt von Dritten über das Internet zu kommunizieren, haben sich ungeahnte Möglichkeiten ergeben – zur Kontaktaufnahme und zum Schmieden aller möglichen Pläne und deren zeitnahe Umsetzung. Mit dem allmählichen Verschwinden der Stempeluhr am Arbeitsplatz erhöht sich ausserdem die Zeitautonomie vieler Menschen – man kann heute fast jederzeit überall sein, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Auch wenn die meisten Menschen das nicht unbedingt suchen, sind heute auch sexuell motivierte Kontakte fast permanent möglich, ohne dass neugierige Nachbarn oder andere Beobachter stören würden.
So gibt es eigentlich nichts zu klagen über neugewonnene Chancen. Im Gegenteil, die Beschäftigung mit den massiv eingeschränkten Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten früherer Generationen zeigt, wie viele reale Möglichkeiten wir in der autonomen Lebens- und Alltagsgestaltung gewonnen haben. Das Zweischneidige an der Entwicklung ist, dass wir damit nicht nur in den Besitz erweiterter legitimer Formen von Freiheit gekommen sind, sondern dass sich gleichzeitig die Gelegenheiten zu Straftaten auf Kosten Dritter vermehrt haben. Die starke Zunahme von Straftaten ab 1950 – zunächst von Eigentumsdelikten, dann von Strassenraub und sexuellen Übergriffen auf Frauen – die eine lange Phase rückläufiger Kriminalitätsraten beendete, ist vor dem Hintergrund vermehrter Gelegenheiten – mit mehr ausgestellten Konsumgütern, mehr Menschen im Ausgang und mehr Frauen im öffentlichen Raum – zu sehen. Die besonders ab den 1990er-Jahren einsetzende massive Zunahme von Gewalt – nicht etwa zu Hause, sondern auf der Strasse – war weitgehend die Folge eines massiv ausgeweiteten Nachtlebens mit öffentlichen Verkehrsverbindungen rund um die Uhr, das vor allem an Freitag- und Samstagabenden eine regelrechte «Völkerwanderung» aus ländlichen Gebieten und den Vororten in die grösseren Städte auslöste. Überlagert wurden diese Trends durch Veränderungen im Konsum legaler und illegaler Substanzen, deren Erhältlichkeit sich gegenüber früher ebenfalls massiv erhöhte – viele davon, wie Opiate, Cannabis und Kokain, waren vor 1970 in der Schweiz und anderswo in Westeuropa kaum erhältlich.
Diese hinzugewonnenen Freiheiten erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Straftaten deutlich. Eine Folge davon ist, dass man sich vor allen möglichen Gefahren schützen muss – an einem Vorortsbahnhof im Grossraum Zürich sah ich vor wenigen Tagen eine «permanent überwachte Velo-Einstellhalle». Gab es, brauchte es das denn früher? Dass man das Fahrrad nicht mehr vor einem Laden oder einer Kneipe kurz abstellen kann, ohne ein Schloss anzubringen oder es an einem geschützten Ort unterzubringen, ist eine Beeinträchtigung der Lebensqualität: nämlich der Freiheit, Vorsichtsmassnahmen unterlassen und etwas einfach stehen lassen zu können. Freiheit bedeutet schliesslich auch, nicht tun zu müssen, was man lieber unterlassen würde. Ähnliches gilt für die elektronischen Verbindungen, mit Passwörtern auf jedem Gerät, an Zugangstüren und vielen anderen Einrichtungen. Insofern sind wir durchaus daran, die neu geschaffenen Freiräume indirekt wieder einzuschränken, indem wir sie kontrollierbar machen. Doch kann man im Ernst fordern, etwa auf PIN-Codes bei Bankomaten zu verzichten oder den Zugang zu unserem Mail-Account jedermann zu ermöglichen? Das würde uns sehr verletzlich machen. Die Sicherheitstechnologie hat also letztlich durchaus eine positive Wirkung, nämlich die, dass wir sicherer leben und ruhiger schlafen können. Ist das nicht auch ein Aspekt von «Freiheit»: nicht jederzeit über unseren Besitz und unsere Privatsphäre aktiv wachen zu müssen? Wäre der Zwang, ständig selbst für unsere Sicherheit sorgen zu müssen, nicht eine massive Beeinträchtigung unserer Zeitautonomie – weil wir dann Aufmerksamkeitsressourcen für Dinge aufwenden müssten, die uns eigentlich nicht interessieren und die wir als selbstverständlich gerne voraussetzen würden? In diesem Zusammenhang sei auch die Frage erlaubt, ob die ungehemmte Freiheit, auch bedingt durch wegfallende soziale Kontrolle, nicht eine Überforderung unserer Gesellschaft darstellt.
Die Sicherheitstechnologie hat sich im Lauf der letzten zwanzig Jahre stark entwickelt und ausgebreitet. Es ist empirisch erwiesen, dass sich für die immer wieder geschmähten Sicherheitsvorkehrungen gegen Einbruch in Wohnräume vor allem alleinstehende Personen oder kinderlose Paare interessieren, deren Wohnungen häufig über längere Zeit hinweg leerstehen. Sicherheitseinrichtungen wie Alarmanlagen verringern das Risiko von Einbrüchen, vor allem von erfolgreichen, deutlich. Auch die zu Unrecht als unwirksam bezeichneten Videokameras an stark frequentierten Orten erweisen sich als sehr wirksam, wenn man nicht – wie üblich – nur polizeilich registrierte Vorfälle (die wegen der Kameras sichtbarer werden), sondern auch notärztliche Interventionen berücksichtigt. Die beispiellosen, oft als schikanös empfundenen Personen- und Handgepäckkontrollen an Flughäfen bewirkten, dass es nie mehr ein 9/11 gegeben hat. Der deutliche Kriminalitätsrückgang der letzten Jahre in so gut wie allen westlichen Ländern kann wohl als Folge davon gedeutet werden, dass unsere Gesellschaften im Alltag sehr viel sicherer geworden sind. Das Individuum kann sich daher auch wieder freier im öffentlichen Raum bewegen – ohne dauernd auf sich oder seine Siebensachen aufpassen zu müssen.
Deshalb nochmals die Frage: Stimmt es, dass die steigenden Kontrollen und Sicherheitsinstallationen unsere Freiheit beeinträchtigen? Vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung und der massiven Ausweitung freier Gestaltungsmöglichkeiten im Alltag erscheint die These geradezu absurd. Es war die technische Innovation der Verkehrs- und Kommunikationsmittel, die uns unendlich viele kleine und grosse Freiheiten beschert hat, auf die wir unter keinen Umständen mehr verzichten möchten. Umgekehrt bringen diese neuen Möglichkeiten auch wieder Bedrohungen für unsere Sicherheit mit sich, ohne die es keine Freiheit gibt. Die ideale Lösung ist daher sicher nicht eine Gesellschaft der unbegrenzten – auch kriminellen – Möglichkeiten, sondern ein Ausgleich zwischen sinnvollen, legitimen Kontrollen zur Reduktion krimineller Risiken und einer exzessiven, intrusiven Kontrollgesellschaft à la «Big Brother». Dies führt letztlich zur Frage zurück, wie die Kontrolleure kontrolliert, das heisst ihre Kompetenzen und ihre Möglichkeiten begrenzt, werden können. Wer den gesellschaftlichen Diskurs über Datenschutz – auch etwa im Zusammenhang mit Überwachungskameras – verfolgt, kann unschwer feststellen, dass genau hier die Suche nach einer konstruktiven Lösung eingesetzt hat. Die zeitliche Begrenzung etwa der Speicherung von Bildern, aber auch die Definition der Zugangsberechtigten sind wirksame Mittel, um Missbräuche zu unterbinden. Ganz abgesehen davon ist zu erwähnen, dass die schlimmsten Verletzungen der Privatsphäre nicht durch staatliche oder halbstaatliche Sicherheitsorgane, sondern – oft vom Opfer selbstverschuldet – von privaten Nutzern von Internetplattformen begangen werden.
Wir sollten also im Auge behalten, dass die Freiheit, alles Mögliche tun oder lassen zu können, nicht trotz, sondern gerade wegen der technologischen Revolutionen errungen werden konnte. Nicht geklärt ist, was «Freiheit» in einem tieferen Sinne auch noch bedeuten könnte. Aber das wäre ein anderer Diskurs, der mit Technik und Kontrolle nur mehr entfernt zu tun hat und den zu führen