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DAS MAL DER BESTIE: japanischer Kriminalroman
DAS MAL DER BESTIE: japanischer Kriminalroman
DAS MAL DER BESTIE: japanischer Kriminalroman
eBook414 Seiten6 Stunden

DAS MAL DER BESTIE: japanischer Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Ein Yakuza-Killer auf der Suche nach einem Mörder – und Gerechtigkeit.
Tokio in den späten Neunzigerjahren. Der Auftragsmörder Yasuhiro Kudo ist als Mitglied der organisierten Kriminalität in die Jahre gekommen und führt nun ein scheinbar komfortables Leben. Doch der bestialische Mord an einer jungen Frau, der einer Jahre zurückliegenden ungeklärten Mordserie ähnelt, reißt tiefe Wunden in ihm auf: Ayami, die Liebe seines Lebens, fiel diesem Serienmörder ebenfalls vor vielen Jahren zum Opfer. Damit konfrontiert, findet sich Yasuhiro Kudo in einer paradoxen Situation wieder: Er ist ein Mörder, der einen Mörder jagt. Getrieben von Rachsucht steht Kudo bald vor dem moralischen Dilemma, auch das Leben unschuldiger Menschen aufs Spiel zu setzen. Doch der Sumpf der japanischen Unterwelt ist tiefer, als selbst er es sich vorstellen konnte …
SpracheDeutsch
HerausgeberLuzifer-Verlag
Erscheinungsdatum29. Juli 2022
ISBN9783958357112
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    Buchvorschau

    DAS MAL DER BESTIE - Kai Arima

    Letzte Worte

    Liebe Kanako,

    Dies sind die letzten Worte, die ich schreiben werde, und die Tatsache, dass sie an dich gerichtet sind, ist mir ein großer Trost. Ich bedaure wenig in meinem Leben, und die schlechten Dinge verblassen im Angesicht der guten. Ich sage dir das nicht, weil ich ein leichtes Leben hatte, sondern weil ich es so sehe: Du warst das Beste, was mir in meinen nun fast sechzig Jahren auf dieser Welt passiert ist. Du hast Ähnliches sicher schon von vielen Männern gehört, aber lass dir gesagt sein, dass die letzten Worte eines sterbenden Mannes die wahrsten und ehrlichsten sind, die er jemals im Leben sagen wird, noch vor den ersten Worten, die er als kleiner, unschuldiger Junge gebrabbelt hat. Die Erinnerung an dich hat mir in schwierigen Momenten immer geholfen, und das Beisammensein mit dir war mir das größte Glück, das alles andere klein und nebensächlich hat aussehen lassen. Und sogar jetzt verblasst der nahe Tod im Angesicht an die Erinnerung an dich. So vergib mir bitte meine letzte Sünde, in der ich selbst aus dem Leben trete wie durch eine Hintertür. Ich habe dafür ebenso viele Gründe, wie ich Feinde habe, und der Freitod ist der einzige Tod, der für einen Mann wie mich angemessen ist. Im Beisein meiner Lieben zu sterben wäre natürlich besser, und da ich kaum welche habe, wäre ich ein letztes Mal mit dir allein gewesen. So bleiben mir nur diese Worte, um von dir Abschied zu nehmen. Ich hatte gehofft, mit dir zu entkommen. Es tut mir leid, wie es gekommen ist. Bitte verzeih mir.

    In ewiger Liebe,

    Kojiro

    »Und? Was sagen Sie?« Makoto blickte ihn fragend von der gegenüberliegenden Couch an, sodass er direkt in Yasuhiro Kudos Augen sah, als dieser seinen Blick von dem Brief in seinen behandschuhten Händen nahm und über den Rand des Papiers hinweg aufblickte.

    »Nun … hm.«

    »Hm?«

    »Es ist so … ich weiß nicht, so …«

    »So was?« Makotos Stimme wurde höher.

    »Es ist so … poetisch. So schön.«

    Makotos Miene erhellte sich. »Vielen Dank, Herr Kudo. Wissen Sie, es geht immer sehr viel Arbeit in solche Briefe. Es freut mich, dass …«

    »Das war eigentlich nicht als Kompliment gemeint, Mak. Hör mal, das ist kein Schreibwettbewerb, sondern es geht darum, so authentisch wie möglich zu sein. Das ist ein Beweismittel, das den Augen eines Ermittlers standhalten muss. Kojiro Tatsuoka ist ein sechzigjähriger Boxpromoter, der sein Leben lang in krumme Geschäfte verwickelt war. Ich kenne ihn, und ich weiß, dass er nie so schreiben würde.«

    »Seit wann stellt die Polizei denn den Inhalt des Abschiedsbriefes infrage? Wir wissen doch beide, dass es dabei nur um die gelungene Handschrift des Verstorbenen geht.«

    »Versteh mich nicht falsch, Mak, die Handschrift hast du wie immer perfekt hinbekommen, sie ist makellos, und dein Talent in dieser Hinsicht spricht für sich selbst. Aber die Sache ist …«

    »Herr Kudo, hat die Polizei von den vergangenen sieben Abschiedsbriefen, die ihr den Leichen nach eurer getanen Arbeit untergeschoben habt, auch nur einen angezweifelt? Die waren zum Teil noch feinsinniger geschrieben. Und glauben Sie mir, bei letzten Worten werden alle Männer richtig rührselig. Selbst der abgestumpfteste Prolet wird zu einem verkannten Dichter.«

    »Zu einem verkannten ja, aber nicht zu einem guten.« Kudo hielt ihm den Brief vor die Nase.

    »Herr Kudo, machen Sie sich keine Sorgen deswegen. Wenn Sie die anderen Briefe auch gelesen hätten so wie jetzt diesen, hätten Sie sicher dieselben Einwände gehabt, und es ist bisher immer alles gut gegangen. Und das wird es diesmal auch. Denn was mein Talent im Imitieren von Handschriften anbelangt, bin ich makellos. Es gibt keinen, der auch nur ansatzweise so gut ist wie ich, und der mit so wenigen Schriftproben der Zielperson auskommt wie ich, und der so schnell arbeitet und …«

    »Okay, okay … und so schön schreibt, ja.« Kudo faltete den Brief und steckte ihn zurück in den Papierumschlag, der auf dem Couchtisch zwischen ihm und Makoto lag. Diesen steckte er in eine kleine durchsichtige Klarsichtfolie und verschloss sie. Dann zog er seine Handschuhe aus und steckte sich eine Zigarette an. »Wenn ich genug Zeit hätte, würde ich dich den Brief umschreiben lassen, aber Zeit haben wir leider nicht. Ich hoffe, du hast recht, du hast ja da mehr Erfahrung als ich. Hiroki wird dir beim Hinausgehen wie immer das Geld in bar geben.«

    Makotos Miene füllte sich mit einem zufriedenen Lächeln. »Sie werden sehen, Herr Kudo, es wird gut gehen wie immer, die Handschrift ist perfekt, und die paar Polizeibeamten, die das lesen, werden gerührt sein.«

    »Daran habe ich keine Zweifel.«

    »Wie lange hat denn der gute Herr noch?«

    »Was?«

    »Kojiro Tatsuoka. Er weiß ja offensichtlich noch nichts von seinem bevorstehenden Selbstmord. Sie sagten ja, die Zeit wird knapp. Wann werdet ihr es machen? Diese Woche?«

    »Was interessiert dich denn das, deine Arbeit ist doch getan.«

    »Ja, stimmt, nur interessehalber, es ist so … verzeihen Sie mir, so spannend. Wie in einem Krimi.«

    »Den du offensichtlich schreiben willst. Ich weiß doch, dass du Dichter oder Schriftsteller werden willst. Das liegt dir. Du hast Talent.« Kudo nahm einen Zug aus seiner Zigarette und deutete mit seinem Kinn auf den Brief. Makoto winkte verlegen ab. »Ach …«

    »Aber lass dir gesagt sein, Mak: Komm ja nie auf die Idee, irgendeinen Kram von dem, was wir hier tun, in eine deiner Geschichten reinzuschreiben. Wenn du das tust, dann tut es mir leid für uns beide, denn dann wirst du eines Tages deinen eigenen Abschiedsbrief schreiben müssen.«

    Makotos Gesicht fror ein.

    »Capiche?« Kudo zwinkerte ihm zu und klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst mal ein großer Schriftsteller werden.«

    »Danke.« Brachte Makoto zögernd heraus. »Und falls es mit dem Schreiben doch nicht klappt, muss ich eben diesen Job für immer machen. Sagen Sie, Herr Kudo, haben Sie nicht ein altes Tagebuch? Dann kann ich ja schon mal Ihre Handschrift üben, für den Fall, dass das eines Tages notwendig wird.«

    »Sehr witzig. Mach, dass du hier rauskommst.«

    Verhalten grinsend erhob sich Makoto, verbeugte sich und ging aufrecht zur Tür des kleinen Konferenzraums, in dem sie sich befanden. Kudo folgte ihm. Als sie durch einen schmalen Gang hindurch in den großen Hauptraum des Büros traten, ging Kudo vorneweg am erhobenen Schreibtisch des Wakagashira vorbei zum Ausgang. An der Sofaecke am Empfangsbereich neben der Tür stand Hiroki. »Setz dich einen Moment zu uns, Makoto«, sagte er und deutete auf die Sofas. Auf dem Couchtisch lag bereits der Umschlag mit dem Geld. Makoto setzte sich Kudo und Hiroki gegenüber auf das Sofa und blickte auf das weiße Papier.

    »Bevor du das hier nimmst«, sagte Hiroki und griff in seine Jackentasche. »Hier.« Er reichte ihm ein gefaltetes Blatt Papier. Makoto nahm es entgegen und faltete es aus. Es war ein per Hand ausgefülltes Formular. Name, Adresse, Geburtstag und Telefonnummer standen in krakeliger Handschrift geschrieben zwischen den schachtelartigen Linien. »Schriftprobe. Dein nächster Auftrag. Zum Üben.«

    »Antrag auf Installation von Kabelfernsehen«, las Makoto die Überschrift des Formulars, und Kudo sah, wie sich seine Augen beim Anblick des Namens auf dem Papier vor Schrecken weiteten. »Taro Ozora … Der Schauspieler, Taro Ozora?«

    Kudo und Hiroki blickten ihn stumm an.

    »Was hat der denn verbrochen?«

    »Du würdest dich wundern, wie viele Prominente in Saus und Braus leben und unrettbar tief verschuldet sind. Wenn wir eine Bank wären, würden wir sein Haus beschlagnahmen. Aber wir haben da nun mal unsere eigenen Methoden.« Hiroki blickte ihn ausdruckslos an.

    »Ein Schauspieler mit Hang zum Dramatischen. Bei dem darfst du dich mit dem Abschiedsbrief so richtig austoben«, sagte Kudo.

    Es vergingen einige Momente, dann faltete Makoto das Blatt und steckte es stumm in seine Jackentasche. Er schluckte schwer. Dann fiel sein Blick wieder auf den Umschlag mit dem Geld auf dem Tisch. Hiroki deutete drauf. »Hier, nimm.«

    »Es ist schwerer als sonst«, sagte Makoto, nachdem er ihn langsam aufgehoben hatte.

    »Da ist noch ein Vorschuss für deinen nächsten Job drin. Ein Promi-Bonus«, sagte Hiroki. »Wir verlassen uns auf dein Talent sowie deine Verschwiegenheit. Sieh dir in nächster Zeit einfach keine Taro Ozora-Filme mehr an.«

    Makoto schluckte schwer. »Also, ich … Nichts für ungut, ich gehe jetzt besser.«

    Sie erhoben sich. Kudo blickte Makoto hinterher, wie er durch die Eingangstür des Büros schritt, nachdem er sich zum Abschied verbeugt hatte. Er glaubt sicher, sein Job wäre schwer, kam es ihm, als er ihn langsam davonstapfen sah. Aber was weiß er schon. Er schreibt nur von dem, was ich wirklich tun muss. Kudo atmete tief durch. Eines steht fest: Kabelfernsehen werde ich nie beantragen, dachte er, und ging durch das Büro zurück in den Konferenzraum, um seine Zigarette zu Ende zu rauchen und den Abschiedsbrief von Kojiro Tatsuoka zu holen.

    ***

    Die Sonne war untergegangen und ein kleiner Rest von Abendrot deutete sich hinter der dicht befahrenen Straße in der Lücke zwischen den hochstehenden Wohntürmen an. Taxis fuhren an dem Lieferwagen vorbei, in dem Kudo zusammen mit Takanobu und Gunji saß. Sie hatten gegenüber dem vornehmen Apartmenthaus geparkt und hielten den Eingang und die dahinter liegende Rezeption in Augenschein. Als nach einer halben Stunde niemand, den sie kannten, ein- oder austrat, stiegen sie aus dem Wagen und überquerten die Straße. In der abendlichen Wärme des lauen Frühlings fühlten sich ihre Handwerker-Overalls warm an. Der Lieferanteneingang lag gut verdeckt hinter einer grünen Böschung seitlich des Weges, und daneben lag verstohlen die graue Tür des Müllraums. Gunji machte sich mit einem großen Schlüsselbund an ihm zu schaffen. Nach ein paar Minuten traten sie durch den stinkenden Raum, in dem sich der Müll des Tages mannshoch in dutzenden Säcken an den Wänden stapelte, an die Zugangstür des Apartmenthauses. Kudo verspürte den Drang, sich die Atemschutzmaske, die er mitgebracht hatte, schon jetzt aufzusetzen, während er dem Rascheln des Schlüsselbundes zuhörte.

    ***

    Klassische Musik erfüllte den Aufzug, in dem sie zu viert standen. Im letzten Moment war ein älterer Herr zugestiegen, der sich wortlos grimmig abseits stellte. Wenigstens keine alte Frau, dachte Kudo, die sind immer am neugierigsten und quatschen einen an, vor allem in noblen Gebäuden wie diesen. Weshalb, und zu wem, und ach, schon wieder was kaputt. Nicht dass Geld für mich eine Rolle spielen würde, aber wie viel verlangen sie denn für die Reparatur? Ach ja, soso, ich finde, die Sachen werden heutzutage extra so gebaut, damit sie nach einiger Zeit kaputt gehen, um die Leute zu schröpfen. Finden sie auch den Weg zum Apartment? Soll ich ihn ihnen zeigen? Ganz sicher nicht? Ich kann beim Pförtner Bescheid sagen, damit er nach dem Rechten sieht und ihnen ein Telefon bereitstellen kann, falls sie …

    Mordlust. Nicht zu viel Geld verdirbt den Charakter, sondern zu viel freie Zeit. Wer die Reichen gut genug kennt, versteht das sofort.

    Das Licht auf den Aufzugknöpfen sprang von einem Stockwerk zum nächsten, und Kudo schluckte, um den Druck in seinen Ohren auszugleichen, als sie das 24. Stockwerk fast erreicht hatten. Nachdem sich die Tür öffnete, wandten sie sich nach links und gingen den Gang hinunter, den Gebäudeplan im Kopf, zweite Biegung rechts … dann die vierte Tür ganz hinten … Nummer 2413. Gunji mit den Schlüsseln vorangehen lassen, auf den letzten Metern auf den Fußballen gehen, Takanobus Werkzeugkiste zieht schwer an seinem Körper, und Kudo griff in die Innenseite seiner Jacke und entsicherte leise seine schallgedämpfte Pistole im Halfter. Vor der Tür zogen sie sich ihre Atemmasken sowie die Plastiküberzüge für ihre Schuhe über. Kudo blickte hinter sich den Gang hinunter, während Gunji sich am Schloss der Tür zu schaffen machte. Dann atmete er tief durch und richtete sich auf. Ein kaum merkliches Klicken war zu hören, und Takanobu, der die linke Hand auf den Türgriff gelegt hatte, zog sie auf, während seine rechte in die Innenseite seiner Jacke nach seiner Pistole griff. Kudo trat nach ihm in die Wohnung, und hörte Gunji hinter sich die Tür schließen.

    Es war dunkel, und zu dritt blickten sie auf die braune Tür, die den Eingangsbereich von der Wohnung trennte. Kudo fragte sich, ob überhaupt jemand zu Hause war. Er hörte Takanobu leise und tief durchatmen. Dann legte er ihm die linke Hand auf die Schulter, und als Takanobu die Tür mit einem Ruck öffnete, lief er ihm hinterher den dunklen Mittelgang der Wohnung entlang vorbei an einer Tür, die wohl zum Badezimmer führte, und nachdem sie zu dritt durch eine weitere Tür am Ende des Ganges gestürmt waren, standen sie endlich im großen Wohnzimmer der Wohnung. Auf der Couch saß, kaum merklich und fast wie ein Möbelstück wirkend, Kojiro Tatsuoka.

    »Ich habe auf euch gewartet«, sagte er und wandte seinen Kopf zu ihnen.

    Na so was, da trägt der Kerl doch glatt zu Hause eine Sonnenbrille, kam es Kudo. Zu dritt standen sie vor der Couch und richteten sich auf.

    »Und? Müsst ihr euch erst noch überlegen, wie ihr mich umlegt?«, fragte Kojiro. Im schlecht sitzenden Anzug und mit seiner üblichen Baseballkappe sah er aus wie eine Karikatur seiner selbst. Wenn er uns erwartet hat, wie er sagt, scheint es, als ob er sich für den Tod in seiner ganzen Fülle zurechtgemacht hat, dachte Kudo.

    »Du hast doch keine Angst vor mir, Kleiner. Komm schon, Kudo, ich hätte an deiner Stelle das Geschäft schon längst zu Ende gebracht. Stattdessen stehst du mit deinen beiden Halbaffen vor mir wie ’n … na, wie son’ Oberaffe. So posierend und so, verstehste? Wie drei Schimpansen. Ach ja, bevor du dich überwindest, falls dus’ überhaupt kannst, weißt du überhaupt, warum du hier bist?«

    »Natürlich weiß ich das, du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass du mit dem, was du gemacht hast, durchkommst.« Sie alle drei standen mit gezückten Waffen vor Kojiro. Wie Affen, da hat er wohl recht, dachte er.

    Kojiro zuckte mit den Schultern. »Das Fightbiz ist mein Showbiz, und ich entscheide, wann und wie ich abkassiere. Da kann mir niemand was vormachen. Ihr Hampelmänner von Gangstern denkt immer, jedes Geschäft wär’ gleich. Aber als Boxpromoter muss man dreckiger spielen als im Film und in der Musik. Scheiße, sogar ein Zuhälter hat einen beständigeren Laden am Laufen als einer, der Kämpfer managt. Ihr habt gar keine Ahnung …«

    »Komm schon, du hättest dir denken können, dass unsere Familie ihren Anteil inklusive Zinsen zurückhaben will, nachdem wir so viel in deine Promotion gesteckt haben.«

    »Was weißt du schon, Bengel. Du bist nur ein Handlanger. Der alte Takeda hat nicht mal den Mumm, hier persönlich aufzukreuzen. Weißt du, warum er mich wirklich umlegen will? Weil ich der Einzige bin, der sich nicht vor ihm in die Hosen scheißt. Ich seh’ einen Fighter, wenn ich ihn seh’, und wenn Takeda wirklich Eier in seinen billigen Hosen hätte, hätte er mich zum Kampf bis zum Tod aufgefordert, Mann gegen Mann …«

    Kudo umklammerte seine Pistole, während er dem zunehmenden Wortschwall zuhörte. Er wartete darauf, dass Kojiro seinen Kopf zur Seite drehte, um den Schuss anbringen zu können.

    »Und überhaupt, was kümmert es dich, was ich mit meinem Business angestellt hab!«

    »Weil du mich danach gefragt hast.«

    »Falsche Antwort, Bengel. Ich hab nur gefragt, warum du hier bist. Du bist hier, weil Takeda es dir und deinen beiden Hampelmännern befohlen hat.«

    Du hast recht, dachte Kudo. Was kümmert es mich. Unter seinen Handschuhen fühlte er den warmen Schweiß, während er seine Pistole umklammerte.

    »Aber was soll’s, ich hab euch kommen sehen. Hab alles geregelt, meine letzte Pussy hatte ich heute Morgen, letzten Drink vor zehn Minuten … also, bringen wirs’ hinter uns«, raunzte Kojiro und reckte ihnen sein Kinn entgegen.

    Nachdem einige Sekunden vergangen waren, zeigte er ein Grinsen an seinen Mundwinkeln. »Auf die Tour also«, sagte er ruhig. Er fixierte Kudo und zeigte seine Zähne. »Ich fühle mich geehrt, so ein Aufwand meinetwegen.«

    »Los, geht«, sagte Kudo schnell, und als Gunji und Takanobu sich daran machten, das Sofa zu umkreisen, und Kudo seine Augen zusammenkniff, sah er zu spät das kleine grüne Objekt in Kojiros gesenkter rechter Hand, die er nun hinter seinem Oberschenkel hervorgebracht und mit einem klickenden Ton entschärft hatte.

    Der Blitz war so grell, dass Kudo den zeitgleich schallenden Knall gar nicht wahrnahm, und als er wieder klar sehen konnte, nachdem er hintenüber gefallen war, war Kojiro nicht mehr auf dem Sofa.

    »Gottverdammt, Blendgranate!«, zischte er, und sah Takanobu neben sich ebenfalls wieder auf die Beine kommen, und hinter ihm die braune Tür in das Nebenzimmer, die nun fest verschlossen war. Gunji sprang auf. Takanobu griff in seinen Werkzeugkasten und trat mit einem Vorschlaghammer auf die Tür zu.

    »Nicht!, verdammt, es muss wie Selbstmord aussehen!«, zischte Kudo.

    »Scheiße, das Arschloch wartet mit gezückter Waffe da drinnen auf uns«, raunzte Takanobu.

    Da hast du leider recht, dachte Kudo. »Gunji«, sagte er und trat beiseite, um ihn an das Schloss zu lassen, während er und Takanobu mit gezückten Pistolen dastanden.

    ***

    Mehrere Minuten waren vergangen, in denen Kudo außer dem Rascheln und Scheppern von Gunjis Schlüsseln und Feilen vor allem seinen eigenen Herzschlag in seinen Ohren hämmern hörte. Als das Klicken des Schlosses schließlich laut und kalt im Raum ertönte und Gunji sich zu ihnen drehte, fiel Kudo das Einatmen sehr schwer, und als er sich bewusst wurde, dass Kojiro wohl mindestens einen von ihnen erwischen würde, war er froh, dass sie nicht genug Zeit zum Nachdenken hatten, und er trat auf die Tür zu und fühlte Takanobus Hand auf seiner rechten Schulter.

    Mit Schwung riss Kudo die schwere Tür auf und trat hindurch, und als er weder Kojiro sah, noch den dumpfen Schlag einer in seine Brust eindringenden Kugel spürte, wandte er sich verwundert nach links, nachdem er in den Raum trat, immer noch mit dem Gedanken »wenn ich er gewesen wäre, hätte ich an der Tür auf uns geschossen«, und ein Zucken durchdrang mit einem Mal seinen Körper, so stark, dass ihm der Blitz der Blendgranate vor einigen Minuten nun schwach erschien. Gunji und Takanobu stellten sich neben Kudo, und zu dritt blickten sie auf das Bild, das sich vor ihnen auftat: Kojiro Tatsuoka lag mit einer schallgedämpften Pistole in der Hand in der Mitte des leeren Zimmers mit einer bluttriefenden Schusswunde in der Schläfe. Die rote Lache neben seinem Kopf wurde beständig größer, und hob sich deutlich von dem hellbraunen Parkettboden ab.

    »So ein Trottel«, hörte er Takanobu neben sich sagen. »Ich an seiner Stelle hätte mindestens zwei von uns erwischt.« Gunji sah ihn an. »Und von wegen Fighter. Wirft zwischen den Runden das Handtuch.« Er bückte sich zu Kojiros Leiche und begann, die Taschen seines Anzugs zu durchsuchen. Nach und nach legte er den Inhalt auf den Boden neben sich. Es war nicht viel. Ein goldenes Feuerzeug, ein in einer goldenen Klammer zusammengehaltenes Bündel Geldscheine, sowie ein weißes Taschentuch. Während Kudo aus den Augenwinkeln Gunji und Takanobu dabei beobachtete, wie sie weiterhin Kojiros Taschen durchsuchten und anschließend alle Gegenstände wieder dorthin zurücksteckten, wo sie sie gefunden hatten, griff er in seine Jackentasche und holte Makotos Brief hervor. Er hatte ein mulmiges Gefühl. Makotos Brief war sicher zu gut. Er reichte ihn Gunji, der den Umschlag aufklappte, den Brief entnahm, und Brief und Umschlag in Kojiros freie rechte Hand legte und daran auf- und abgleiten ließ, wobei er hin und wieder dessen Finger auf einige der Stellen auf dem Papier drückte. Dann faltete er den Brief zusammen und steckte ihn in den Umschlag, und diesen schließlich in Kojiros Jackentasche.

    »Lass uns gehen. Das Drama war umsonst, wenigstens wars einfacher als gedacht«, raunzte Takanobu. Gunji blickte erleichtert und richtete sich auf. »Was vergessen?«, fragte er, während sie zu dritt auf Kojiro blickten.

    »Nix, oder?«, sagte Takanobu und drehte sich in Richtung Tür. Als Gunji sich ebenfalls in Richtung Tür drehte, sagte Kudo: »Wartet.«

    »Was? Irgendwas übersehen?«, fragte Gunji.

    »Hier stimmt irgendwas nicht.«

    »Was meinste damit?«, sagte Takanobu.

    »Das macht überhaupt keinen Sinn. Das Ganze hier. Es macht überhaupt keinen Sinn für Kojiro, das alles so zu tun. Die Blendgranate, dann in dieses Zimmer, nur um sich selbst zu töten.«

    »Du hast diesen Holzkopf doch gehört, natürlich macht es keinen Sinn. Wär’ umgekehrt komisch, wenn es Sinn machen würde. Ich kenn diesen ranzigen Kauz zwar nicht, aber so helle ist er nicht. Zu viel getrunken und geraucht, tickt nicht mehr richtig«, sagte Takanobu.

    »Aber genau das ist es«, sagte Kudo. »Ich kenne ihn. Er würde nie so …« Und mit einem Mal rief er sich Kojiros Worte von der Couch ins Gedächtnis, weißt du, warum du hier bist, Oberaffe, ich sehe einen Fighter, wenn ich ihn seh’, verstehste Mann … und dazu die Blendgranate, die Sonnenbrille, seine Kappe, durch die hindurch er sich in die Schläfe geschossen hatte. Ihm stockte der Atem. »Das ist eine Falle«, sagte er.

    »Was? Red’ keinen Scheiß«, sagte Takanobu.

    »Ich meine, er will uns verarschen. Hier stimmt was nicht. Er hat uns ein Theater vorgespielt.«

    »So’n …«

    »Doch, gottverdammt, wir haben was übersehen.« Kudo drehte sich hektisch um. »Durchsucht das Zimmer. Beide Zimmer. Geht vorsichtig vor, nehmt eure Masken nicht ab, alles mit Vorsicht anfassen.«

    In ihren Augen sah er Unwillen.

    »Los, macht schon, gottverdammt!«

    Gunji drehte sich um und ging zurück in das Wohnzimmer. Takanobu folgte ihm langsam. Kudo blickte sich um. In diesem Zimmer stand nur ein überdimensionaler Kleiderschrank mit spiegelbezogener Schiebetür. Hoffentlich bin ich nur paranoid, dachte Kudo, als er auf den Schrank zutrat, um ihn zu durchsuchen.

    ***

    Der Geschmack von Sake lag warm auf seiner Zunge, als Kudo seine Zigarette an den Mund führte und einen tiefen Zug nahm. Mit zurückgelegtem Kopf saß er auf seiner Couch und starrte an die Decke. Im Augenwinkel flimmerte der Fernseher stumm vor sich hin, und schemenhaft hoben sich die drei leeren grauen Sake-Tonkrüge vom dunklen Braun des Couchtisches ab. Kudo schloss einen Moment die Augen, um der Stille zu horchen, und versuchte, einige Klänge der Tokioter Nacht vor den Fenstern einzufangen. Es war nichts zu hören außer dem Knistern der Zigarette in seinem Mundwinkel, an der er ab und an zog.

    Zwei Stunden lang hatten sie Kojiro Tatsuokas Wohnung durchsucht, obwohl Kudo bereits nach zehn Minuten einen weißen Umschlag in der Nische zwischen Kleiderschrank und Wand gefunden hatte, den er mit einem Kugelschreiber herausgefischt hatte, immer noch mit dem Unglauben, dass hinter Kojiros plumper Maske so etwas wie Kalkül stecken konnte. Gunji und Takanobu hatten Wohnzimmer und Bad durchsucht, während Kudo durch alle Kleider im Schrank gegangen war. Beim Anblick der vier schwarzen Baseballmützen, alle mit demselben Schriftzug versehen, sauber aufgereiht an der Kleiderstange, hatte sich Kudo ein kurzes Lachen nicht verkneifen können. Er hatte Kojiro in all den Jahren nie ohne diese Baseballkappe gesehen. Das Rätsel war gelöst. Jeden Winkel und jede Nische hatten sie durchsucht, und als Kudo Gunji und Takanobu im Wagen den Briefumschlag gezeigt hatte, den er in Kojiros Wohnung gefunden hatte, hatten sich ihre grimmigen Mienen aufgehellt. Sie hatten die ganze Fahrt über nicht gesprochen, was Kudo als stumme Einsicht wertete. Nachdem sie sich in einer ihrer Garagen in der Nähe von Kabukicho, dem größten Rotlichtviertel Tokios und dem Hauptsitz ihrer Familie, umgezogen hatten, hatten sie sich zum Abschied tief verbeugt.

    Nun, da Kudo in seinen eigenen vier Wänden saß, betrunken von teurem Sake und entspannt rauchend, kamen ihm die Szenen des heutigen Abends wie ein langer Film vor. Kojiro Tatsuoka, wie eine Karikatur seiner selbst, seine mittellangen grauen Haare unter seiner Baseballkappe mit dem Forever-Young-Schriftzug hervorquellend, die nach unten verzogenen Mundwinkel unter seiner Sonnenbrille, im grauen Anzug auf den Tod wartend, der in Form eines einstigen Weggefährten gekommen war. Kudo hatte selten mit ihm gesprochen, aber ihn häufig gesehen, und in der Unbeholfenheit, die Kojiro immer an den Tag gelegt hatte, war für Kudo immer klar gewesen, dass dieser Mann wohl mit einer übergroßen Portion Glück und einem wohlwollenden Schicksal gesegnet gewesen sein musste, denn es war ihm immer ein Rätsel gewesen, wie ein solch plumper Mensch sich zum Dreh- und Angelpunkt von landesweit übertragenen Kampfsportevents hatte mausern können. Kojiro war es gewesen, der die Geschäfte mit den großen Privatsendern eingefädelt hatte, und der Gedanke, wie er mit den Managern der Fernsehanstalten Deals abwickelte, war ihm absurd angesichts seines ungehobelten Auftretens. Aber zuletzt hatte ihn sein Glück verlassen, denn als ein Reporter seine Kontakte zu den Yakuza-Familienclans aufgedeckt und veröffentlicht hatte, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis die Fernsehanstalten die Verträge mit ihm gekündigt hatten. Das Geld, das ihm geblieben war, war genug gewesen, um in Saus und Braus zu leben, aber nicht genug, um die Kredite mit Zinsen bei den Familienclans zurückzuzahlen. Nun saß Kudo nach getaner Arbeit auf seiner Couch mit Kojiros Abbild im Kopf. Werd’ ich wohl nie wieder vergessen können. Aber das Schicksal schert sich nicht um deine Gefühle, dachte er. Und wer glaubt, dass es irgendjemandem nützt, dass du deine Taten bereust, der ist nichts als ein naiver Wohlstandsapostel, ein gefangenes Tier im Käfig, das regelmäßig gefüttert wird und über seine jagenden Artgenossen in freier Wildbahn die Nase rümpft.

    Er dachte zurück an jene kalte Winternacht als Student im dritten Semester, kurz nachdem er mit seinem Vater gebrochen hatte und er sein Elternhaus für immer verlassen hatte. Ihm war schnell das Geld ausgegangen, und das Einzige, was größer gewesen war als sein Hunger, war sein Stolz gewesen, und die Erinnerung an die Worte seines Vaters. »Du wirst wieder zurückgekrochen kommen, du Nichtsnutz, das garantier ich dir.«

    Als er in jener kalten Januarnacht im Männerwohnheim in seinem winzigen Zimmer gefroren hatte und der Hunger in seinem Bauch so groß gewesen war, dass er nicht hatte schlafen können, hatte er verstanden, dass moralisches Denken nicht mit den richtigen Regeln im Kopf, nicht mit dem rechten Gefühl im Herzen, sondern mit einem vollen Bauch begann. Zwölf Jahre Schule und zwei Jahre Universität waren mit einem Mal nur bedeutungsloses Geschwafel gewesen, und Kudo hatte begriffen, dass jemandem, der noch nie Hunger und Kälte ohne jegliche Hoffnung auf Milderung erfahren hatte, eine grundlegende menschliche Erfahrung fehlte, denn in der Not war der Mensch dem Tier am nächsten. Wer noch nie in so einer Situation war, kennt sich selbst nicht, das wusste Kudo. Es war ein bisschen so wie als Jungfrau, Sex und Gewalt sind grundlegende Erfahrungen für den Menschen. Das Erste kann selbst der letzte Idiot für ein paar zehntausend Yen haben, aber an das Zweite wagt sich keiner ran, der nicht unbedingt muss. Kein Wunder, dass es heutzutage so viele naive Trottel gibt. Was soll‘s, macht uns die Arbeit einfacher.

    Nun, ausgestreckt auf der Couch in seinem vornehmen Apartment, kam ihm diese Zeit als armer Student immer noch so deutlich vor wie gestern, die Momente seines Lebens waren so intensiv gewesen durch Armut und Einsamkeit, dass sie sich in sein Gedächtnis gebrannt hatten wie Narben auf junger Haut. Nie war er über den ersten warmen Tag des Jahres so froh gewesen wie nach diesem ersten Winter, in dem er auf sich alleine gestellt gewesen war. Das warme Gefühl auf seiner Haut und in den Lungen, die Freude über die frühe Morgensonne, die während seiner Arbeit als Zeitungszusteller die Wolken durchbrach, und wie er nach getaner Arbeit die Straßenseite wechselte und einen Umweg in Kauf nahm, um auf sonnenbeschienenen Wegen zur Vorlesung gehen zu können. Schritt für Schritt, Yen um Yen, Mahlzeit um Mahlzeit, war er damals den Weg weitergegangen, dürr, hungrig, und mit der kalten, hungergetränkten Grimmigkeit, von der er erst sehr viel später gemerkt hatte, dass sie es war, die ihn in schwierigen Momenten, wie vor einigen Stunden in Kojiros Wohnung, die Ruhe bewahren ließ.

    Seine Kommilitonen an der Sportuniversität hatten ihm zunächst misstraut, als sein Bruch mit seinem Vater die Runde machte. Ein Budoka, der seine eigenen Eltern nicht respektierte, war geistig defekt, auch wenn er körperliche Leistung zeigte. Selbst die Dozenten hatten nach einer Weile nichts als mahnende Blicke für Kudo übrig gehabt, und Mori-Sensei, der Meister und Trainer des Karateteams, Kudos Hauptdisziplin, führte sogar ein Gespräch unter vier Augen mit ihm.

    Bis heute war Kudo ihm dankbar, denn er war der Einzige gewesen, der bereit gewesen war, ihm zuzuhören, bevor er über ihn urteilte. Er hatte nur stumm genickt auf das, was Kudo über das zerrüttete Verhältnis zu seinem Vater erzählt hatte, und wie immer hatte man ihm nicht ansehen können, was er empfand.

    Die misstrauischen Blicke seiner Kommilitonen hatte er nach einer Weile kaum mehr wahrgenommen, und als er im letzten Semester beim Karate-Turnier der Universität das Finale erreicht hatte, hatten sie mit verhaltenem Respekt geklatscht, als er auf die Matte getreten war.

    Der finale Kampf des Turniers war nach dem ersten warmen Tag des Jahres seit seinem Auszug die intensivste Erinnerung, die er aus seiner Studienzeit hatte. Instinktiv und doch taktisch ein Leben lang eingeübte Bewegungen im Angesicht des Gegners auszuführen war eine Sache, aber dies müde und unterernährt zu tun, machte es für Kudo mehr zum Kampf als zum Sport. Er erinnerte sich noch genau an den Moment, an dem sein Gegner auf die Matte trat: Yoshihiro Sakamoto war 1,85 cm groß, die Brust lag breit unter dem Kragen seines Gi, der weiße Stoff spannte sich über seinen muskelbepackten Schultern. Damals hatte Kudo geglaubt, eine leichte Erschütterung gespürt zu haben, als Yoshihiro auf die Matte getreten war, und im aufrechten Gang, den vorwärts gerichteten, Kudo fixierenden Augen, und der unter einer konzentrierten Miene verborgenen, aber gut spürbaren Kampfeslust, war für alle Anwesenden in der Sporthalle offensichtlich gewesen, dass hier ein Mann in der Blüte seines Lebens vor Kudo stand. Nur hungrige Löwen bekämpfen einander, hatte Kudo damals gedacht, und in die skeptischen Gesichter der Zuschauer geblickt, die sich angesichts des offenkundigen körperlichen Unterschieds zwischen Kudo und seinem Gegner vielleicht fragten, wie dieser dürre, blasse und erschöpft dreinblickende Junge es ins Finale geschafft hatte. Aber sie sahen bald, dass ein in die Enge getriebenes Tier Risiken eingeht, die die eigene Sicherheit komplett ignorieren, darauf erpicht, sich selbst zu opfern, nur um seinen Gegner schaden zu können. Kudo hatte gekämpft wie einer, der zwei Verlierer sehen will anstatt einen Gewinner, und als er nach der ersten Minute des Kampfes mehrere gute Treffer gelandet hatte, ging das Raunen der Menge in vereinzelte Jubelschreie über, so hell und klar, die ersten an Kudo gerichteten wohlmeinenden Töne seit Jahren, sie hallten nach in seinem Herz und füllten seinen triefenden Zorn nur umso mehr, und wie er keuchend und zuckend, ohne jegliche Form und Agilität, mehr gehetzt und nervös, um den einen ganzen Kopf größeren Yoshihiro herumtanzte und nach mehreren Täuschungen aus einer plötzlichen Seitwärtsbewegung heraus einen Schlag mitten unter dessen Brust anbrachte und er sein keuchendes Ächzen hörte, da hatte Kudo für einen Moment jenes blutleckendes, den Körper durchdringendes Gefühl der reinen, ungehemmten und rohen Gewaltlust in den Adern, das er seit diesem Tag immer wieder begehrte.

    Er hatte nie zur unkontrollierten Gewalt geneigt, sich nie geprügelt, seitdem er mit Karate angefangen hatte, nie seine Hand gegen eine Frau erhoben, und doch war der rohe Geschmack der Gewalt wie die ersten Intimitäten als Teenager mit einem Mädchen gewesen. Der enthemmte Trieb des Herzens, gegen das der Kopf nur ein naiver Junge war.

    Eine halbe Minute vor Schluss des Kampfes war Kudo damals klar nach Punkten vorne gelegen, und Ungläubigkeit lag in Yoshihiros Gesicht, als dieser mit zusammengekniffenen Augen und seiner ganzen rohen Kraft in die erhobene Deckung dieses kleinen, beweglichen Ziels hineintrat, und das knackende Geräusch des brechenden Knochens, der die Halle durchdrang, hatte sie beide für einen Augenblick innehalten lassen, und Kudo hatte sofort zum Gegenschlag ausgeholt, als ihm der linke Oberarm im rechten Winkel oberhalb des Ellbogens einknickte und sich das Weiß seines Gis mit rotem Blut vollsog. Die hohen Schreie eines Mädchens aus dem Publikum in seinen Ohren, war Kudo weiter auf Yoshihiro zugegangen, als ihm dieser mit der offenen Hand vor die Stirn stieß. »Was machst du da, du Idiot, siehst du das nicht.«

    Und Kudo hatte innegehalten und gesehen, und das war

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