Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Mahtab
Mahtab
Mahtab
eBook262 Seiten3 Stunden

Mahtab

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die späten 1960er Jahre in Frankfurt sind politisch und gesellschaftlich turbulente Zeiten, in denen alte Gewissheiten ins Wanken geraten. Erst recht für Mahtab, die ein Jahrzehnt zuvor mit ihrem Mann und ihren drei Kindern aus Iran eingewandert ist. Mit ihrem Gehalt als Krankenschwester trägt sie wesentlich zum Unterhalt der Familie bei, auch die deutsche Sprache beherrscht sie immer besser. Lange Zeit stimmt alles in ihrem Leben. Doch nun drohen ihr die Dinge zu entgleiten: Ihre Tochter Azadeh demonstriert gegen den Vietnamkrieg, anstatt für das Abitur zu lernen, trägt Minirock und nimmt die Pille; ihr Mann Amin hat ganz offensichtlich ein Verhältnis mit seiner Buchhalterin und sie selbst muss die Avancen eines Verehrers abwehren. Mahtab befindet sich gleich mehrfach im Dilemma. Hin- und hergerissen zwischen ihren tradierten Moralvorstellungen und den Freiheiten ebenso wie den Untiefen des modernen westlichen Lebens muss sie sich behaupten und ihren eigenen Weg finden.
SpracheDeutsch
HerausgeberSujet Verlag
Erscheinungsdatum1. Juni 2022
ISBN9783962026264
Mahtab

Ähnlich wie Mahtab

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Mahtab

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Mahtab - Nassir Djafari

    1

    Mahtab spürte das nahende Gewitter. Den ganzen Tag schon war es drückend heiß. Sie schaute zum Himmel, je schneller die Abkühlung kam, desto besser. Auf dem Krankenhausparkplatz herrschte eine träge Ruhe, kein Mensch war zu sehen, hier und da standen vereinzelte Autos von Besuchern, nur die für Ärzte reservierte Reihe war voll besetzt. Amin schien das Wetter nichts auszumachen. Bei heruntergekurbelten Fenstern saß er in seinem grauen Mercedes und las schmunzelnd ein iranisches Satiremagazin. Seine Anzugjacke hatte er ordentlich an dem dafür vorgesehenen Haken aufgehängt. Sein weißes Hemd saß tadellos und der Krawattenknoten war kein bisschen verrutscht. Sie öffnete die Beifahrertür, ließ sich auf den weichen Ledersitz fallen. Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und erzählte ihr bestens gelaunt den Witz, den er gerade gelesen hatte. Sie hörte kaum hin und war froh, dass sie nichts sagen musste. Es genügte, über den Scherz zu lachen.

    Amin fuhr vom Parkplatz und fädelte sich in den Verkehr ein. Der Fahrtwind tat gut. Sie klappte die Sonnenblende herunter, aber die Sonne stand zu tief und blendete sie. Sie nahm sich vor, bei Woolworth eine neue Sonnenbrille zu kaufen, die alte war unauffindbar.

    In der Zeppelinallee staute sich der Verkehr. Amin trat auf die Bremse, das Auto kam abrupt zum Stehen, er fluchte.

    „Ist ein Unfall passiert?", fragte Mahtab.

    „Keine Ahnung." Er steckte den Kopf aus dem Autofenster.

    Laute Stimmen, Sprechchöre brandeten an ihre Ohren.

    „Was rufen die Leute da?"

    Amin öffnete die Autotür und lehnte sich hinaus.

    „Das sind junge Leute, vielleicht Studenten, viele."

    „Was rufen die denn?"

    „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh."

    „Und was soll das bedeuten?"

    „Die protestieren offenbar gegen den Vietnamkrieg."

    Jetzt bemerkte sie auch die Mannschaftswagen der Polizei, die aufgereiht am Straßenrand standen. Amin setzte sich wieder, lehnte sich zurück und zündete sich eine Zigarette an. Er war auch gegen das Blutvergießen in Vietnam. Die Amerikaner und die Engländer waren schuld an allem, davon war er überzeugt. Sie hatten im Iran Mossadegh weggeputscht, und nun richteten sie dieses arme Land in Südostasien zugrunde.

    Vor ihnen kam Bewegung in die Autokolonne. Amin legte den Gang ein und fuhr langsam los. Sie rollten auf die Kreuzung Zeppelinallee/Bockenheimer Landstraße zu. Die Demonstranten waren jetzt deutlich zu sehen und zu hören, rot-blaue Fahnen mit einem gelben Stern wurden geschwenkt, Transparente hochgehalten. Einige hatten sich untergehakt, andere liefen paarweise oder allein. Ihre Stimmen klangen wütend, ihre Bewegungen energisch und ihre Augen leuchteten. Die jungen Leute empörten sich über den Bombentod Tausender Vietnamesen, aber sie selbst wirkten glücklich. Warum auch nicht, dachte Mahtab, diese Studenten spürten ihre jugendliche Kraft, ihnen gehörte die Zukunft, sie würden die Welt erobern. Ihr Blick fiel auf ein großes Transparent.

    „Gestern Korea, heute Vietnam, morgen Deutschland, steht da. Das ist doch wirklich übertrieben, oder?", wandte sich Mahtab an ihren Mann.

    „Wo?", fragte Amin zerstreut.

    „Dort." Ihr Arm, den sie eben noch ausgestreckt hatte, um ihm das Spruchband zu zeigen, erlahmte. Das Mädchen, das es zusammen mit einem langhaarigen jungen Mann hochhielt, war Azadeh. Was machte ihre Tochter da? Anstatt für das Abitur zu lernen, trieb sie sich hier mit irgendwelchen Studenten herum. Mahtab staunte, sie wusste gar nicht, dass sich das Mädchen für Politik interessierte. Aber bei diesem Vater war das kein Wunder. Beim gemeinsamen Abendessen pflegte Amin die neusten Nachrichten des Londoner Exilsenders wiederzugeben, die er in seinem Kurzwellenradio gehört hatte. Doch dabei beließ er es nicht und holte zu vertieften Analysen aus, klagte den Schah, seinen Geheimdienst und alle anderen Verbrecher an, um sich dann der internationalen Politik zuzuwenden. Die Kinder kannten es gar nicht anders, aber die Einzige, die wirklich verstand, wovon der Vater redete, war ihre Älteste.

    „Schau mal, da läuft doch…"

    „Weißt du eigentlich, was Ursula bedeutet?", fiel ihr Amin ins Wort.

    „Wie bitte? So schau doch mal…"

    „Der Name stammt aus dem Lateinischen und bedeutete kleine Bärin."

    Was redete er da?

    „Ich finde nicht, dass sie wie eine kleine Bärin aussieht, eher wie eine Gazelle. Das habe ich ihr natürlich nicht gesagt", fuhr Amin unbekümmert fort.

    „Wem?"

    „Ursula natürlich."

    „Was?"

    Amin drehte den Kopf zu ihr. „Ursula Eckstein." Er sprach den Namen aus, als hätte er Schokolade im Mund.

    Mahtab spürte einen Druck auf der Stirn. Da war diese Person wieder. Warum erwähnte er ständig diese Frau in letzter Zeit? Immer nur kurze Andeutungen – wie ein Schatten huschte diese Person durch ihre Gespräche. Kaum versuchte Mahtab sie zu packen, war sie auch schon wieder verschwunden.

    „Ich habe unsere Tochter gesehen, sagte Mahtab kraftlos. „Sie war mitten unter den Studenten und hielt ein Transparent.

    „Wo?"

    Aber mittlerweile waren sie schon weitergefahren, längst vorbei an den Demonstranten.

    „Lass uns nach Hause fahren. Ich habe Kopfschmerzen."

    Das kam für Amin überhaupt nicht infrage. Sie hatten sich vorgenommen, zum Verkehrsübungsplatz zu fahren, und das würden sie nun auch tun, stellte er klar.

    Der Fahrlehrer hatte Mahtab letzte Woche zur Verzweiflung gebracht. Immer wieder ließ er sie am Hang anfahren. So sehr sie sich zu konzentrieren versuchte, es gelang ihr nicht, gleichzeitig die Handbremse zu lösen, die Kupplung kommen zu lassen und anzufahren. Jedes Mal rollte der Wagen zurück, und der Fahrlehrer trat so heftig auf das Bremspedal, dass sie einen Schreck bekam. Am Ende meinte er, sie solle es in aller Ruhe mit ihrem Mann auf dem ADAC-Übungsplatz probieren; es sei nicht schwer, wenn sie nur ihre Nervosität in den Griff bekäme.

    Der ADAC-Platz war wie die Miniaturausgabe einer Stadt, nur ohne Häuser. Ansonsten gab es alles, Bäume, Ampeln, Verkehrsschilder, Brücken, ja sogar kleine Anhöhen. Es erinnerte sie an eine Minigolfanlage. Das hier würde ihr keine Schwierigkeiten bereiten, sie war schließlich das Fahren auf richtigen Straßen gewöhnt, dachte sie und atmete auf. Es erstaunte sie trotzdem, dass so viele Autos auf dem Platz unterwegs waren. Aber auch mit dem Verkehr hatte sie Erfahrung. Sie tauschten die Plätze und Mahtab übernahm das Steuer. Amin wies sie vom ersten Moment an zurecht, durchaus in ruhigem Ton, aber stetig. Er fing mit den Grundlagen an, indem er ihr erklärte, dass sie den Zündschlüssel drehen müsste, um den Motor zu starten. Sie seufzte laut, was er jedoch falsch verstand.

    „Entspann dich, kein Grund, nervös zu sein", ermunterte er sie großzügig.

    Daraufhin beschloss Mahtab, diese Übungsstunde geduldig über sich ergehen zu lassen und ihm keinen Anlass zu geben, sich aufzuregen. Sie fuhr los, und Amin schlüpfte ganz in die Rolle des Lehrers, indem er sie überschwänglich lobte. Sie fuhr Runde für Runde auf den kleinen Straßen des Übungsplatzes, und ihr Mann fand immer weniger Anlass für kritische Kommentare. Schließlich erinnerte sie Amin daran, dass sie das Anfahren am Hang üben müsse. Sie fuhr zu dem Mini-Hügel, hielt auf der halben Anhöhe an und zog die Handbremse. Zum Glück war kein Auto hinter ihnen. Gleichmütig hörte sie sich Amins Anweisungen an, dann legte sie den Gang ein, ließ die Kupplung kommen, löste die Handbremse und gab kräftig Gas. Der Wagen schoss nach vorne, den Hang hinauf. An der Kuppe angekommen, sah Mahtab von einem Moment auf den nächsten nur noch in ein von Licht durchflutetes Nichts.

    „Die Sonne", schrie sie.

    „Langsam!", brüllte Amin.

    Mahtab nahm für den Bruchteil einer Sekunde das entgegenkommende Auto wahr, fragte sich noch, wo es so plötzlich herkam, da hörte sie schon einen Knall und wurde im selben Moment nach vorne geworfen. Sie spürte einen scharfen Schmerz auf der Brust, löste sich vom Lenkrad und blickte zu Amin. Der war offenbar gegen die Windschutzscheibe geprallt, denn er hielt sich den Kopf. Es war kein Blut zu sehen. Mahtab wollte etwas sagen, fragen, ob bei ihm alles in Ordnung sei, doch sie bekam kein Wort heraus. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und ihr Herz klopfte bis zum Hals. Amin drehte sich zu ihr.

    „Bist du verletzt?", fragte er und fing gleich an, sie abzutasten.

    „Du blutest nicht", stellte er nüchtern fest.

    Sie war dankbar, dass er nicht gleich schimpfte.

    Draußen lief jemand brüllend vor ihrem Auto auf und ab, und im nächsten Augenblick sah sie Amin, wie er beruhigend auf einen übergewichtigen Blonden einredete. Sie hatte gar nicht mitbekommen, wie ihr Mann ausgestiegen war. Sie legte ihren Kopf auf das Lenkrad und versuchte die Tränen aufzuhalten. Es gelang ihr nicht. Als sie aufblickte, sah sie in das entsetzte Gesicht einer Frau, die sich an das Lenkrad klammerte. Das bin ich, dachte sie einen Augenblick lang. Dann begriff sie, dass es sich um die Fahrerin des anderen Wagens handelte. Sie war erleichtert. Nur eine Frau, dachte sie und fühlte sich gleich weniger schuldig.

    Der Dicke hatte inzwischen einen roten Kopf bekommen und regte sich immer noch auf. Fasziniert bemerkte sie, dass Amin seine Anzugjacke angezogen hatte. Jetzt griff er in seine Innentasche, holte sein silbernes Etui hervor und bot dem Choleriker eine Zigarette an. Der sah Amin verblüfft an, nahm sich tatsächlich eine und ließ sich Feuer geben. Jetzt kehrte Ruhe ein. Beide beugten sich nun über die Kotflügel ihrer Autos und begutachteten den Schaden. Aus der Ferne hörte sie ein Donnern und wie in einem Stummfilm schloss sie aus der Mimik der Männer, dass sie inzwischen offenbar friedlich miteinander verhandelten.

    Reden war Amins Stärke, selbst in der fremden Sprache. Keine Sekunde lang schien er sich darum zu kümmern, ob sein Deutsch korrekt war oder ob er überhaupt verstanden wurde. Fiel ihm das richtige deutsche Wort nicht ein, wechselte er einfach ins Englische. Wer ihm trotzdem nicht folgen konnte, war selbst schuld, so einfach war das. Sie hingegen legte sich in schwierigen Lagen jeden Satz vorher zurecht und verfolgte aufmerksam die Wirkung auf ihr Gegenüber. Da sie auf Deutsch nur das sagte, wofür sie die richtigen Worte fand, blieb vieles, was sie auf dem Herzen hatte, unausgesprochen. Sie beneidete Amin um seine Unbekümmertheit. Wie in so vielem ging er selbstverständlich davon aus, dass sich die Welt ihm anzupassen hatte und nicht umgekehrt.

    Mahtab tastete vorsichtig ihre Brust ab und fand die Stelle, die noch etwas wehtat. Schlimmer war aber ihr Nacken, sie konnte ihn kaum noch bewegen, und in ihren Kopf breitete sich Schmerz aus. Sie fragte sich, über was die beiden so lange redeten. Jemand müsste den ADAC-Angestellten an der Eingangspforte verständigen, um die Polizei zu rufen.

    Amin warf nun seine Zigarette auf den Boden, lächelte und reichte dem Dicken die Hand. Der machte eine mürrische Miene, schlug aber schließlich ein. Nun griff ihr Mann in seine Jackentasche, holte ein kleines längliches Heft hervor, dann zückte er seinen silberfarbenen Kugelschreiber, füllte schwungvoll ein Blatt aus, riss es ab und überreichte es dem anderen. Der nahm den Scheck zögerlich entgegen.

    Im nächsten Moment öffnete Amin die Fahrertür.

    „Ich fahre", sagte er nur und wartete geduldig, bis sie ausstieg. Jetzt sah Mahtab, dass der linke Kotflügel ihres Mercedes eingedellt und der dazugehörige Scheinwerfer kaputt war. Das andere Auto, sie hatte keine Ahnung, von welcher Marke es war, hatte mehr oder weniger die gleichen Schäden. Ihr Blick fiel auf den dicken Blonden, der sie mit offenem Mund anstarrte, als sei sie ein seltenes Tier. Sie schluckte die Entschuldigung, die sie schon auf den Lippen hatte, herunter und beeilte sich wieder einzusteigen.

    2

    Als sie vom Übungsplatz herunterfuhren, begann es endlich zu regnen, erst zaghaft, dann mit einem Mal sintflutartig. Der Regen schlug wild gegen die Windschutzscheibe, die Scheibenwischer flogen hin- und her, hilflos gegen die Wassermassen. Die Fahrt zog sich hin. Der Berufsverkehr verstopfte die Straßen. Der Regen kam hinzu. Angespannt klammerten sich die Autofahrer an ihr Lenkrad, bemüht, jede Lücke, die sich vor ihnen auftat, umgehend zu füllen. Doch kaum rollten sie, sprang die Ampel wieder auf Rot.

    Amins Schweigen legte sich wie ein eisiger Mantel um sie. Seine Wut ließ er am Bremspedal aus. Mahtab hielt sich verzweifelt am Haltegriff über ihrem Kopf fest, um nicht schon wieder nach vorne geworfen zu werden. Jedes Mal durchfuhr sie ein stechender Schmerz im Nacken, doch durch ihre zusammengebissenen Zähne drang kein Laut. Wenn es sein musste, konnte auch sie schweigen.

    Vor ihrem Haus angekommen, hielt er bei laufendem Motor in der Einfahrt, den Blick starr nach vorne gerichtet. Mahtab verstand das Signal, murmelte ein ‚Auf Wiedersehen’ und stieg aus. Kaum hatte sie die Autotür zugeschlagen, fuhr er wieder los. Sie hatte keine Ahnung, wohin er wollte oder wann er wiederkäme. Sie wollte es auch gar nicht wissen, war froh, ihn vorerst los zu sein. Manchmal wünschte sie sich, in solchen Situationen von ihm angeschrien zu werden, sie würde es besser ertragen als dieses frostige Schweigen.

    Ihr Kopf drohte zu platzen. Sie würde eine Aspirin-Tablette nehmen und sich hinlegen. Die Kinder mussten jetzt mal eine Stunde lang ohne sie klarkommen. Wenn sie vorsichtig auftrat, waren die Schmerzen in Kopf und Nacken zu ertragen.

    Amin hatte noch nie einen Unfall gebaut. Aber kaum saß sie zum ersten Mal außerhalb der Fahrstunde hinter dem Steuer, ging es schief. Als habe er ihr Scheitern von Anbeginn geahnt, war er ihr seit der ersten Fahrstunde hinterhergefahren. An jeder Ampel, jedem Stoppschild sah sie sein markantes Gesicht im Rückspiegel. Übte sie das Einparken, stellte er sein Auto in die zweite Reihe, stieg aus und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Auch wenn sie ihn mal nicht sah, spürte sie, dass er in der Nähe war, seine Augen auf ihr ruhten.

    Sie war ihm dankbar gewesen, dass er ihr das Autofahren erlaubt hatte. Amin warnte sie aber auch, dass es nicht einfach werden würde. Mit den deutschen Autofahrern sei nicht zu spaßen, sie würden auf ihrem Recht beharren und keinerlei Kompromisse eingehen. Habe einer Vorfahrt, würde er wie ein Panzer auf einen zurollen. Ausnahmen würden nicht geduldet. Und Hupen schon gar nicht. Er frage sich, wie man eigentlich sonst mit einem anderen Fahrer kommunizieren solle, wenn nicht über die Hupe.

    „Aber weißt du was, hatte er laut überlegt, „die wollen sich gar nicht verständigen, die wollen ihr Recht. Wer das Gesetz auf seiner Seite hat, setzt es erbarmungslos durch, wozu also noch mit anderen sprechen? Die Eschterassen-verkeers-ordenung… – er legte eine Kunstpause ein, um das zungenbrecherische deutsche Wort wirken zu lassen, und fuhr, wie gewohnt, auf Persisch fort – „…regelt alles, Mahtab. Die musst du auswendig lernen! Und ihre Autos darfst du niemals auch nur berühren. Bei der kleinsten Kleinigkeit springen sie wutentbrannt aus dem Fahrzeug und suchen mit der Lupe nach Kratzern, die selbst unter einem Mikroskop nicht zu erkennen wären."

    Sie wusste nicht, worauf er mit diesem Vortrag eigentlich hinauswollte. Mit dem Auto wäre alles leichter für sie. Sie musste sich jeden Tag abhetzen, um vom Markuskrankenhaus nach Hause zu gelangen und da zu sein, wenn der Jüngste aus dem Hort kam. Der Zeitteufel saß ihr im Nacken und trieb sie gnadenlos an, zwang sie, sich wie eine Einbrecherin von der Arbeit zu stehlen, verbot ihr, sich von den Kolleginnen ordentlich zu verabschieden und jagte sie quer durch die Stadt. Erst in der Straßenbahn ließ er von ihr ab. Erschöpft sank sie jedes Mal auf den erstbesten freien Sitz und genoss acht Stationen lang die Freiheit nichts zu tun, für niemanden da sein zu müssen.

    „Eine moderne Frau muss natürlich Auto fahren können. Wir leben schließlich in Europa", stellte er fest und verkündete entschlossen, dass er sie bei einer Fahrschule anmelden würde. So hatte es begonnen.

    Heute erschien ihr der Ausflug in die Welt der Autofahrer vermessen. Autofahren war eben doch Männersache. Sie würde sich morgen gleich bei der Fahrschule abmelden, entschied sie.

    Kaum betrat sie die Wohnung, kam ihr schon im Flur Abbas aufgeregt entgegen. Hamid habe sich seit einer Ewigkeit im Bad eingeschlossen und gebe merkwürdige Geräusche von sich.

    „Der Idiot macht nicht auf. Ich habe alles probiert, gegen die Tür geklopft, gehämmert, gedroht, sie einzutreten, aber der reagiert nicht", empörte sich ihr Zweitältester auf Deutsch.

    „Zu Hause reden wir Farsi, merk dir das."

    „Wir sind aber in Deutschland."

    „Keine Widerworte! Hier wird Farsi gesprochen", zischte sie ihn an.

    Er hat sich wieder rasiert, stellte sie fest. Amin hatte ihm, nachdem er sich selbst einen neuen Elektrorasierer gekauft hatte, sein altes Gerät überlassen. Stolz darauf, nunmehr zur Welt der Männer zu gehören, malträtierte der Vierzehnjährige seither täglich seine Kinderhaut, obwohl außer dem schwarzen Flaum auf der Oberlippe und ein paar Härchen am Kinn noch kein nennenswerter Bartwuchs vorhanden war. Abbas brauchte klare Ansagen. Bei ihm durfte sie nie, unter keinen Umständen Zweifel erkennen lassen. Eigentlich galt das für alle drei Kinder, aber bei ihm ganz besonders. Solange sie sich daran hielt, kam sie mit ihm klar, bisher jedenfalls. Er hatte von seinem Vater das herausfordernde, kämpferische, zuweilen aggressive Verhalten geerbt. Er konnte aber auch, so wie Amin, charmant sein und, wenn es drauf ankam, jeden um den Finger wickeln.

    Mahtab schob ihn zur Seite und klopfte behutsam an. „Hamid, was ist denn los, mein Kleiner? Ist dir nicht gut? Mach bitte auf."

    „Los, aber dalli", brüllte Abbas über ihre Schulter hinweg.

    Zu Mahtabs Kopfschmerzen kam jetzt auch noch die Übelkeit hinzu. Sie hielt ihren Kopf und schloss für einen Moment die Augen. „Verschwinde", zischte sie den Rabauken an. Der schien zu verstehen, dass mit seiner Mutter gerade nicht zu spaßen war. Erschrocken wich er zurück.

    Das Schloss klackte und die Badezimmertür öffnete sich. Vor ihr stand Hamid und wirkte noch schmächtiger als ohnehin. Er müsse dauern ­spucken, jammerte er. Ihr Jüngster hatte, obwohl er schon zehn war, seine Kleinkindsprache beibehalten.

    „Das heißt, ich muss mich übergeben", korrigierte Mahtab mechanisch.

    „Mir ist so schlecht." Jetzt brach es aus ihm heraus und er fing an, hemmungslos zu weinen.

    Mahtab nahm ihn in den Arm und streichelte seinen Kopf, bis er sich beruhigte.

    „Ist ja gut. Ist ja gut."

    Im Wohnzimmer machte sie es sich mit ihm auf dem Sofa bequem und schaltete das Fernsehgerät an. Sie legte den Arm

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1