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Die Macht der Daten: Wie Information unser Leben bestimmt
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eBook551 Seiten6 Stunden

Die Macht der Daten: Wie Information unser Leben bestimmt

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Über dieses E-Book

Dieses Buch könnte Ihre Daten-Weltanschauung verändern. Unsere Leichtfertigkeit im Umgang mit Daten ist sträflich. Sie werden sinnlos erhoben, falsch ausgewertet, unterschlagen, geschönt dargestellt und unerlaubt gespeichert oder weitergegeben. All dies sind jedoch lässliche Sünden, wenn man sie mit dem größten Fehler vergleicht: auf Daten zu verzichten! Sachorientierte Politik, soziale Netze, das Bildungssystem oder die Wirtschaft funktionieren alle nur mit einem permanenten und zuverlässigen Datenfluss, der in die richtigen Kanäle gelenkt werden muss. Daten sind der Rohstoff unserer modernen Informationsgesellschaft, unser Anker im Boden der Tatsachen. Anhand von vielen Beispielen – vom Gartenvogel bis zum Geldmarkt - erklärt dieses Buch, wie wir mit Daten umgehen und welche Möglichkeiten wir bislang nicht nutzen. Wann wir ihnen zu viel zumuten oder zu wenig zutrauen. Und wie Daten uns viel umfassender als bisher helfen können, eine immer komplexere Welt zu verstehen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum8. Juli 2014
ISBN9783642351174
Die Macht der Daten: Wie Information unser Leben bestimmt

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    Buchvorschau

    Die Macht der Daten - Uwe Saint-Mont

    Uwe Saint-MontDie Macht der Daten2013Wie Information unser Leben bestimmt10.1007/978-3-642-35117-4_1© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

    1. Statistik: In Daten lesen

    Uwe Saint-Mont¹  

    (1)

    Fachbereich Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Fachhochschule Nordhausen, Weinberghof 4, 99734 Nordhausen, Deutschland

    Uwe Saint-Mont

    Email: saint-mont@fh-nordhausen.de

    Zusammenfassung

    In diesem Kapitel geht es um Daten und die Geschichten, die sie erzählen. Dabei stellt sich heraus, dass vorliegende Zahlen immer in einen Kontext eingebettet sind, der einen großen Einfluss auf ihre Interpretation hat. Solche Randbedingungen, insbesondere wie Daten entstanden sind und welche Informationen wir ansonsten für relevant erachten, bestimmen ganz entscheidend unser Urteil. Wohl durchdachte, belastbare Schlüsse stützen sich in aller Regel auf sichtbare Phänomene, harte Fakten, Wissen und Erfahrung, ergänzt um Intuition (Ideen!), persönliche Anschauung und andere schwer fassbare, zuweilen tief verborgene Faktoren.

    In diesem Kapitel geht es um Daten und die Geschichten, die sie erzählen. Dabei stellt sich heraus, dass vorliegende Zahlen immer in einen Kontext eingebettet sind, der einen großen Einfluss auf ihre Interpretation hat. Solche Randbedingungen, insbesondere wie Daten entstanden sind und welche Informationen wir ansonsten für relevant erachten, bestimmen ganz entscheidend unser Urteil. Wohl durchdachte, belastbare Schlüsse stützen sich in aller Regel auf sichtbare Phänomene, harte Fakten, Wissen und Erfahrung, ergänzt um Intuition (Ideen!), persönliche Anschauung und andere schwer fassbare, zuweilen tief verborgene Faktoren.

    1.1 Gartenvögel und ihre Statistik

    Schau mal, was da fliegt $$\ldots $$

    Die ,,Stunde der Gartenvögel" ist eine Erhebung, die alljährlich vom Naturschutzbund Deutschland¹ organisiert wird. Anfang Mai sind alle Bürger aufgerufen, an einem Wochenende zu ermitteln, wie viele Vögel in Gärten und Parks unterwegs sind. Die fünf häufigsten Arten sind

     .

    Was sagen solche absoluten Zahlen aus? Welche Schlüsse sind aus der Tatsache, dass 2011 in Deutschland um die 140.000 Sperlinge, 100.000 Amseln, 75.000 Kohlmeisen usw. beobachtet wurden zu ziehen? Nimmt man nur die Zahlen der Tabelle, so ist dies nicht viel: Offenkundig sind die häufigsten Vogelarten nicht unmittelbar vom Aussterben bedroht. Auch sieht es so aus, als sei der Spatz deutlich häufiger als der Star, die Kohlmeise etwas häufiger als die Blaumeise usw. Einblicke in die Verbreitungsgebiete könnte man noch dadurch erlangen, dass die Zählungen mit den Orten der Beobachtungen kombiniert werden.²

    Doch viel mehr lässt sich nicht folgern. Insbesondere weiß man, da es sich um eine Momentaufnahme handelt, nichts über zeitliche Schwankungen, also das Auf und Ab der Bestände von Jahr zu Jahr. Schwerwiegender noch ist die grundsätzliche Frage, wie sehr man sich überhaupt auf die Zahlen verlassen kann. Wurden wirklich mehr als 140.000 Sperlinge gesichtet, könnten es auch 102.500 Amseln gewesen sein, und welche Bedeutung ist der Tatsache beizumessen, dass genau 57.713 Blaumeisen beobachtet wurden und nicht ein paar mehr oder weniger?

    Für sich genommen sagen die Daten also – wie so oft – fast nichts aus. Natürlich ist es wichtig, möglichst zuverlässige Informationen, z. B. über Vogelbestände, zu besitzen, doch nimmt man nur die Rohdaten, wie sie in der Tabelle stehen, so kommt man mit ihnen alleine nicht allzu weit. Die Daten sind weiter zu verarbeiten und hier scheint es zuallererst einmal sinnvoll zu sein, die Anzahl der beobachteten Vögel mit der Anzahl der Beobachter oder aber der Gärten, in denen die Vögel gesehen wurden, zu verrechnen. Es ist ja ein ganz erheblicher Unterschied, ob in 5.000 Gärten 10.000 Vögel gesehen wurden, oder ob hierzu 500 Gärten ausreichten; ob je Person acht Vögel zu verzeichnen waren oder 80.³ Das heißt, pro Vogelart sollte die Anzahl der Vögel an der Anzahl Beobachter oder besser noch der Gärten relativiert werden. Man erhält so die durchschnittliche beobachtete Anzahl von Vögeln einer Art, also

    $$\begin{aligned} {\text{ Dichte } \text{ einer } \text{ Art }} = \frac{{\text{ Anzahl } \text{ V }}\!{\ddot{\text{ o }}}\!{\text{ gel } \text{ dieser } \text{ Art }}}{{\text{ Anzahl } \text{ G }}\!{\ddot{\text{ a }}}\!{\text{ rten }}}. \end{aligned}$$

    Dies ergibt die folgenden, ebenfalls vom NABU angegebenen Werte⁴:

     .

    Messen: Wie genau darf’s denn sein?

    Was besagen nun diese Werte? Ganz einfach, wird man erwidern: Der typische Beobachter sah ca. fünf Spatzen in seinem Garten, 3,8 Amseln flogen herum, 2,81 Kohlmeisen usw. Doch – Moment – wie viele Nachkommastellen sind denn nun gerechtfertigt? Könnte es nicht sein, dass die größere Anzahl der Nachkommastellen eine höhere Genauigkeit vortäuscht, als eigentlich vorhanden ist? Es ist noch nicht einmal zu erwarten, dass die Messgenauigkeit bei allen Arten dieselbe ist. Denn es ist plausibel, dass die häufigsten Arten am besten bekannt sind und damit auch am genauesten erfasst wurden, während die Präzision der Beobachtungen bei den seltenen oder schwer zu unterscheidenden Arten wesentlich schlechter sein dürfte. Wenn man also schon zwischen einer und zwei Nachkommastellen unterscheidet, sollten die häufigsten Arten (z. B. die Amsel) mit mehr Nachkommastellen angegeben werden als die selteneren (z. B. das Rotkehlchen) und nicht umgekehrt.

    Soviel zur ,,relativen Genauigkeit, nun zur absoluten. Anders gesagt, ist es sinnvoll, mehrere Nachkommastellen anzugeben? Was suggerieren zwei Nachkommastellen dem Leser? Insgesamt wurden im genannten Jahr 933.015 Vögel von 42.545 Beobachtern in 27.033 Gärten gesichtet. Eine ,,2,0 in der letzten Spalte der Tabelle bedeutet also, dass typischerweise zwei Vögel einer bestimmten Art je Garten zu beobachten waren, womit ,,1,0" in absoluten Zahlen 27.033 Beobachtungen entspricht.⁶ ,,0,01" bedeutet also, dass ziemlich genau 270 Vögel einer bestimmten Art gesehen wurden.⁷ In ganz Deutschland ist dies bei über 42.000 Personen eine bemerkenswerte Genauigkeit! Denn irren sich auch nur 1 % der Beobachter, also etwa 425 Personen,⁸ so genügt das, eine Abweichung um ca. 425 Beobachtungen, entsprechend $$0,016$$ ⁹ in der letzten Spalte zu erklären.¹⁰

    Ist das Messinstrument so exakt? Hier ist sicherlich von Bedeutung, dass die Experten des NABU lediglich zur Beobachtung aufgerufen haben. Vermutlich wurden die meisten Vögel also von mehr oder minder geübten Laien gesehen. Dies macht die Werte unzuverlässiger, zumal wenn es sich um nicht alltägliche oder schwer zu unterscheidende Arten handelt, während bekannte oder auffällig Vogelarten – insbesondere also auch die häufigeren Arten – wohl häufiger richtig identifiziert werden. Jedes Kind erkennt eine Taube, die in aller Ruhe Körner pickt; doch wer vermag als Laie schon einen Haus- von einem Feldsperling sicher zu unterscheiden, zumal wenn der Vogel rasch vorbeihuscht?

    Um solche Beobachtungsfehler zu verringern, stellt der NABU eine Bestimmungshilfe (farbige Abbildungen der Vögel) zur Verfügung. Diese ist jedoch heterogen. Bei den oben mit $$m$$ gekennzeichneten Arten wird darauf hingewiesen, dass das männliche Tier dargestellt ist, bei der mit $$w$$ gekennzeichneten Art das Weibchen. Bei $$x$$ wird das Bild der Art ohne Angaben des Geschlechts gezeigt, zu allen anderen Arten fehlt eine Bestimmungshilfe. Was ist aufgrund dessen zu erwarten? Zumindest das folgende:

    (i)

    Arten, bei denen sich Männchen und Weibchen stark unterscheiden, werden eher zu wenig notiert (nämlich nur das jeweils abgebildete Geschlecht).

    (ii)

    Arten ohne bildliche Darstellung werden schlechter erkannt. Das heißt, entweder werden beobachtete Vögel nicht oder falsch erfasst, also einer anderen, womöglich abgebildeten Art zugeschrieben.

    Glücklicherweise lässt sich der letzte Effekt abschätzen, indem man die Zahlen vor und nach der Aufnahme in die Bestimmungshilfe vergleicht. So schreibt der NABU 2006 zu den nachfolgenden Zahlen: ,,Erklärungsbedürftig ist der gemeinsame Sprung nach vorne, den Elster, Mehlschwalbe und Mauersegler auf die Plätze 6 bis 8 machten (2005: Plätze 10 bis 12). Die Antwort liegt auf der Hand, ist jedoch methodischer Natur: Diese drei Vogelarten wurden 2006 erstmals auf dem Flyer zur ,Stunde der Gartenvögel‘ abgebildet, weil sie im Jahr zuvor die Top Ten erreicht hatten. Das hat die Zahl der Meldungen offenbar stark beeinflusst, denn sie alle wurden daraufhin etwa doppelt so oft registriert." Hier die Ergebnisse im Detail:

     .

    Hingegen wurden Singdrossel und Zaunkönig 2006 nicht mehr bildlich dargestellt. Deren Beobachtungshäufigkeiten gingen genauso erheblich, auf etwa die Hälfte bis ein Drittel des Ausgangswerts von 2005, zurück. Die Bestimmungshilfe scheint also manche Arten ,,ins Rampenlicht zu rücken, während andere geradezu ,,ausgeblendet werden. Sie ist kein neutrales Instrument, das die Messgenauigkeit, ähnlich einer Lupe mit stärkerem Vergrößerungsfaktor, gleichmäßig erhöhen würde. Vielmehr wirkt sie selektiv und verursacht artspezifisch eine erhebliche Verzerrung in die eine oder andere Richtung. In absoluten Zahlen: Da in jedem Jahr aus mehreren zehntausend Gärten berichtet wurde, bedeutet eine Veränderung um ,,1,0" auch immer, dass je nach Vorzeichen deutlich über 10.000 Vögel (mehr oder weniger) gemeldet wurden!

    ,,Um solche Einflüsse zu minimieren, sollen künftig stets dieselben Gartenvögel abgebildet werden" war der Schluss, den der NABU daraus 2006 zog. Dass diese Maßnahme erfolgreich war, erkennt man in den Jahren danach, als die Werte erheblich weniger schwankten. Diesem wünschenswerten Effekt steht jedoch entgegen, dass womöglich häufige Arten durch die Nicht-Abbildung diskriminiert werden, sie erscheinen seltener, als sie tatsächlich sind. Zum Beispiel gibt es wohl erheblich mehr Zaunkönige, als die Untersuchung uns glauben macht und dies dürfte auch für seltenere, unbekannte Arten gelten!

    Durchaus typisch ist übrigens auch, dass eine Umstellung der Methodik schnell wieder vergessen wird. So auch bei den Kommentaren zu den obigen Zahlen. Schon 2007 liest man: ,,Seinen Aufwärtstrend aus dem Vorjahr konnte auch der Mauersegler bestätigen, der sich mit über 78.000 Meldungen auf Platz 6 schob".¹¹ ,,Überraschend und erfreulich platzierte sich bereits im Anschluss die Mehlschwalbe bundesweit erstmals an sechster Stelle" heißt es 2008, doch fiele die Überraschung geringer aus, wenn der Autor einen Teil des Aufschwungs mit der bildlichen Darstellung dieser Art seit 2006 erklären würde.

    Das Richtige richtig zählen

    Vögel zu zählen ist gar nicht so einfach. Wenn Sie sich nun wie empfohlen an einen ruhigen Platz in einem Garten begeben und dann eine Stunde lang alle Vögel notieren, die in Ihr Blickfeld geraten, werden sie garantiert manche scheuen Exemplare gar nicht zu sehen bekommen, weil diese Ihnen aus dem Weg gehen. Andere Individuen hingegen werden ihnen mehr als einmal auffallen, etwa weil sie zutraulicher sind oder ihr Revier in der Nähe haben. Womöglich werden Sie deshalb ein und denselben agilen Sperling fünf oder sogar zehn Mal zu Gesicht bekommen. Diesen Fehler möchte man verständlicherweise vermeiden, weshalb der aufmerksame Vogelfreund auf den NABU-Internetseiten auch eine Zählhilfe findet, die folgendes besagt:

    Notieren Sie von jeder Vogelart die höchste Anzahl, die Sie während der Beobachtungsstunde gleichzeitig sehen (siehe Zähl-Beispiel).

    Im konkreten Zähl-Beispiel wird dann ausgeführt, dass, wenn man einmal 2 Amseln, dann 4 Amseln und schließlich noch 3 Amseln sieht, nur die höchste beobachtete Anzahl – also vier Amseln – zu zählen sind. Natürlich geht auch damit ein Fehler einher, denn wenn zwei Star-Schwärme mit 20 bzw. 40 Tieren innerhalb einer Stunde über Ihre Obstbäume herfallen, melden Sie nur 40 Tiere, obwohl sie von insgesamt 60 Vögeln dieser Art ,,besucht" wurden.

    Problematisch ist nicht die Zählhilfe, die eine sinnvolle, in der Praxis bewährte Korrektur von Mehrfachzählungen darstellt. Es lässt sich auch kaum etwas dagegen unternehmen, dass manche Vögel in Schwärmen auftreten und deshalb deren (große) Anzahl nur ungenau zu bestimmen ist, während einzelne, insbesondere auffällige, nicht scheue und bekannte Arten (z. B. Greifvögel) leicht Individuum für Individuum festgehalten werden können. Problematisch ist, wenn einige gut geschulte, erfahrene Beobachter die Zählhilfe korrekt verwenden und andere nicht. Insbesondere ist zu erwarten, dass die Zählhilfe oftmals gerade von Anfängern nicht gefunden oder nicht verstanden wird. Im Nachhinein lässt sich dann nur mit einigem Aufwand – wenn überhaupt – zwischen erfahrenen Meldern und unerfahrenen Neulingen unterscheiden. Noch schwerer dürfte es fallen, ornithologisch Gebildete und Ungebildete, sorgfältige und weniger gründliche Beobachter zu unterschieden. Gerade letztere könnten durch den Hinweis auf ein Preisausschreiben vermehrt zur Teilnahme angeregt werden und schlimmstenfalls Daten erfinden.

    Leider machen die genannten Phänomene und auch alle anderen, nicht explizit berücksichtigten Effekte die Messung ungenauer. Insbesondere gibt es noch einen weiteren starken, aber nicht kontrollierten Einflussfaktor: das Wetter. Weder muss an einem Wochenende das Wetter in Deutschland überall gleich sein (womit je nach Region und Tageszeit mehr oder minder viele Hobbyforscher und beobachtbare Vögel unterwegs sind), noch sind über die Jahre hinweg die Wetterlagen vergleichbar. Vielmehr ist zu erwarten, dass im Großen wie im Kleinen entscheidende meteorologische Einflussgrößen wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Bewölkung etc. erheblichen Schwankungen unterliegen.

    Es wird also ein großes Gebiet unter heterogenen Bedingungen von einer größeren Anzahl ständig wechselnder Beobachter in Augenschein genommen. Das ist citizen science (Hand 2010): einerseits viele Beobachter und Beobachtungen, andererseits jedoch eine geringe Zuverlässigkeit des einzelnen Ergebnisses verbunden mit erheblichen Fluktuationen aus nicht kontrollierten Störquellen. Das Ergebnis über alle Jahre und Vogelarten hinweg zeigt dies deutlich, insbesondere schwankt die Anzahl der Tiere und Beobachter erheblich:

     .

    Es ist durchaus verblüffend, dass trotz aller genannten Einwände, unkontrollierten Faktoren und erheblicher Variabilität die durchschnittliche Anzahl beobachteter Vögel (siehe die letzte Zeile der vorstehenden Tabelle) über die Jahre hinweg fast konstant ist. Denn lässt man das erste Jahr der Erhebung einmal beiseite, so sieht der typische Hobbyornithologe ca. 20 Vögel. Zwar führt jede Mittelung zu einer Stabilisierung (da sich unsystematische Messfehler ausgleichen), doch sollte man sich vor Augen halten, dass hier unkontrollierte Wildbestände untersucht werden.

    Es ist in der Biologie bzw. Ökologie Allgemeingut, dass solche Bestände stärkeren Schwankungen unterliegen: So wie es gute und schlechte Jahre für Obst gibt, treffen Vögel Jahr für Jahr auf günstigere oder ungünstigere Umweltbedingungen. Harte Winter raffen viele Standvögel dahin, missliche Windströmungen überanstrengen Zugvögel und kalte Frühlinge erschweren die Aufzucht der Jungtiere. Damit sollten auch die Bestände mal größer und mal kleiner sein, und je Person und Jahr mehr oder weniger Tiere zu beobachten sein. Nimmt man noch die eher unzuverlässige Beobachtungsmethode hinzu, ist es tatsächlich verblüffend, dass trotz alledem Jahr für Jahr in etwa dieselbe durchschnittliche Anzahl von Vögeln je Garten (bzw. Beobachter) zu sehen ist.

    Das gilt sogar selbst dann noch, wenn man die einzelnen Arten betrachtet!¹² Und dies ist nun wirklich verblüffend, denn denkt man an Obstsorten wie Äpfel, Birnen und Kirschen, so weiß jeder Gärtner, dass mit stark schwankenden Erträgen zu rechnen ist. Ganz ähnlich sollte es auch um die einzelnen Vogelarten bestellt sein, die eine jeweils etwas andere ökologische Nische besetzen. Zu erwarten sind ,,gute und ,,schlechte Dompfaff-, Meisen- und Rotkehlen-Jahre. Zumindest sollte sich eine Epidemie, wie sie 2011 Amseln traf, in einem deutlichen Rückgang bemerkbar machen. Doch selbst das ist kaum der Fall. 2011 sah der typische Beobachter 3,8 Amseln, 2012 waren es 3,6.

    Anders gesagt: Die Werte im Zeitverlauf sind einander so ähnlich, das genau dies selbst wieder auffällig ist und Zweifel an der Sensitivität der Methode nährt. Ein großer realer Effekt sollte sich auch deutlich in den Daten abzeichnen.¹³

    Interpretation: Machen wir was draus!

    Nach all diesen Kommentaren, was sagen die Daten denn nun aus? Aufgrund der obigen Bemerkungen sollte deutlich geworden sein, dass eine zurückhaltende Interpretation angemessen wäre. Wir haben es mit zahlreichen, unkontrollierten Fehlerquellen zu tun und der untersuchte Gegenstand unterliegt zudem erheblichen natürlichen Schwankungen. Dessen ungeachtet liest bzw. las man auf den NABU-Seiten:

    (i)

    Berlin bleibt Deutschlands Spatzen-Hauptstadt. (Schlagzeile 2012)

    (ii)

    Bundesweit immer weniger Amseln. (Schlagzeile 2011)

    (iii)

    Bundesweit immer weniger Spatzen. (Schlagzeile 2010)

    (iv)

    Vor allem die Zahl der Meisen nimmt kontinuierlich ab. (2009)

    (v)

    Rückläufige Zahlen wurden dagegen beim Haussperling, bei Kohl- und Blaumeise, bei der Singdrossel und beim Buntspecht festgestellt. (2008)

    Dass man zur ersten Aussage mühselig die sie stützenden Daten zusammensuchen muss, ist nur lästig, nicht gravierend. Spannender sind die Schlagzeilen der vorangegangenen Jahre. Die zweite Aussage scheint den Trend bei den Amseln gut zu charakterisieren, doch zeigt schon die dritte Behauptung, wie leicht ein scheinbar wohlfundiertes Ergebnis durch die Zählungen weiterer Jahre entkräftet werden kann. Auch bei der vierten und fünften Aussage sind Zweifel angebracht, haben sich doch manche der Bestände seitdem wieder erholt.¹⁴

    Leider ist eine solche, wenig kritische, sehr weit gehende und zugleich einseitige Interpretation von Daten an der Tagesordnung. Laien und Interessenvertreter, aber auch die Presse, immer auf der Suche nach der griffigen Schlagzeile, neigen typischerweise dazu, Daten in einer Richtung zu interpretieren und sie deuten in einen konkreten Datensatz gerne mehr hinein, als er tatsächlich bei distanziert-kritischer Betrachtung hergibt.

    Das führt oft zu Alarmismus, der auf Dauer die Seriosität einer Quelle unterminiert. Genauso wenig wie man früher nach mehreren Fehlalarmen dem Hirten glaubte, dass seine Schafe tatsächlich in Gefahr waren, genauso wenig nimmt man heute aufgeregten Politikern und erst recht Lobbyisten ein tatsächliches gravierendes Problem ab. Wer ständig Probleme dramatisiert, Katastrophen an die Wand malt und bei jeder Gelegenheit ,,Skandal" ruft, der wird im Fall einer wirkliche Gefahr leicht überhört. Schlimmstenfalls nutzt sich die Aufmerksamkeit des Publikums so sehr ab, dass schließlich selbst das Offensichtliche oder auch das bestens Fundierte ignoriert wird, während andererseits nur noch Lappalien wochenlang den Blätterwald beschäftigen: Eine einzige gut lancierte Schein-Nachricht im Vorfeld der Weltklimakonferenz 2009 genügte, die überwältigende Evidenz für den menschengemachten Klimawandel zu untergraben.¹⁵

    Ein anderes Paradebeispiel sind Aktienkurse: Was kann man nicht alles in das unablässige Auf und Ab der Börsen hineininterpretieren? Je mehr ökonomisches, politisches, aber auch methodisches Wissen (vermeintlich) vorhanden ist, desto leichter wird es, plausible Erklärungen für alle möglichen Kursverläufe zu finden. Die so genannte ,,technische Analyse erkennt eine Vielzahl von Kauf- und Verkaufssignalen, identifiziert Trends, saisonale Schwankungen, spezifische und allgemeine Markteinflüsse usw. Es ist wahrlich beeindruckend, welche Regelmäßigkeiten und Muster sich hinter den Kursen zu verstecken scheinen. Allein: Die Bilanz der meisten Anleger ist eher dürftig. Selbst von teuren, professionellen Börsenhändlern aktiv gemanagte Aktienbestände halten kaum mit der allgemeinen Marktentwicklung mit. Vielmehr ist die traurige Wahrheit, dass hektische Transaktionen zumeist mehr Gebühren verursachen, als die damit genutzten ,,Chancen wieder einbringen. ,,Hin und her macht Taschen leer" lautet eine alte Börsenweisheit.

    Andererseits kann man natürlich auch zu skeptisch, vorsichtig und zurückhaltend sein. Zwar ist es vollkommen richtig, die Datenerhebung zu kritisieren, um mögliche Fehlerquellen zu identifizieren. Oftmals sind robuste Verfahren angezeigt, deren Aussage stabil bleibt, wenn sich einige Datensätze ändern oder diverse Voraussetzungen verletzt sind. Und es wirkt auch seriöser, nur dann für einen Effekt zu plädieren, wenn wirklich vieles für dessen Vorhandensein spricht. Doch wer immer nur pedantisch im Detail kritisiert, verliert darüber schnell das Große und Ganze aus dem Auge. Wer immer nur hadert, wird nie mutig eine Chance ergreifen. Im Extremfall belegt man schließlich – viel zu spät – mit Statistik, was die ganze Welt ohnehin schon lange wusste.

    So stellt ein Beitrag (Steiger 2004: 20) im Monatsheft eines Statistischen Landesamtes fest, dass Baden-Württemberg ein ,,Autoland sei, und es soll auch schon Psychologen gegeben haben, die statistisch nachwiesen, dass selbst Väter eine Beziehung zu ihren Kindern aufbauen können. Derartige ,,Belege sind der Reputation genauso wenig förderlich, wie gut begründ- und mit dem bloßen Auge erkennbare Phänomene in Frage zu stellen. Wie viele Wetterextreme, Veränderungen von Flora und Fauna, schmelzende Gletscher und ansteigende Meere benötigen manche Skeptiker (z. B. Dubben und Beck-Bornholdt 2005: 87–93) noch, bis sie eingestehen, dass es wärmer wird? (Und zwar rapide.)

    Man lerne zu unterscheiden

    Womöglich verdeutlicht eine medizinische Analogie das grundlegende Dilemma am besten: Jeder Arzt – aber auch Patient – sollte Symptome kritisch würdigen. Das heißt, sie weder auf die leichte Schulter zu nehmen, noch gleich das Schlimmste zu vermuten. Der medizinisch weniger gebildete aber aufmerksame Patient neigt eher dazu, noch im Normalbereich liegende Beobachtungen bereits als Symptome – möglicherweise sogar einer schwereren Krankheit – überzuinterpretieren. Gerade die härtesten Männer sind – zumindest mental – bei kleineren Irritationen dem Tode am nächsten.

    Der routinierte Arzt hingegen, der z. B. als Hausarzt viele leicht Kranke und nur selten schwere Fälle sieht, neigt dazu, Symptome weniger ernst zu nehmen. Er entscheidet sich eher für das harmlose, häufige Zipperlein, als dass er schon bei den allerersten unspezifischen Symptomen einer chronischen Erkrankung das ganze Arsenal moderner medizinischer Diagnostik einsetzte. Diese entgegengesetzte Haltung wird dann problematisch, wenn Krankheiten deshalb zu spät erkannt werden und der bestmögliche Behandlungszeitpunkt bereits ungenutzt verstrichen ist. Früherkennung rettet bestenfalls Leben, weshalb jeder Patient gut beraten ist, zügig und sogar prophylaktisch den Arzt seines Vertrauens aufzusuchen sowie im Zweifelsfall eine zweite, fachlich fundierte Meinung einzuholen.

    Die Zurückhaltung der Ärzte ist auch bei anderen Berufsgruppen gang und gäbe. Etwa wird jeder seriöse Rechtsanwalt bei den Ausführungen seines Mandanten immer bedenken, dass auch die Gegenpartei in aller Regel gute Argumente hat, und wo käme ein Seelsorger hin, wenn er jede im Beichtstuhl vorgebrachte Anschuldigung ernst nähme? Auch Journalisten tun¹⁶ gut daran, nicht jedes Gerücht gleich an die große Glocke zu hängen oder bei kleineren Unregelmäßigkeiten ,,Skandal" zu rufen.

    Statistiker sind aus einem weiteren Grund vorsichtig. Weil viele Daten mit großen Unsicherheiten und Schwankungen behaftet sind, findet man in allen größeren Datensätzen viele scheinbare Auffälligkeiten, wobei man noch nicht einmal besonders genau hinsehen muss. Wie bei den Vogelbeständen und Aktienkursen springen einem Ausreißer, also besonders große oder kleine Werte ins Auge, genauso wie verblüffende Zusammenhänge. Zum Beispiel gaben bei der Volkszählung 1987 einige Frauen an, dass sie zwar einer regulären Arbeit nachgehen würden, dafür aber keine Bezahlung erhielten. Wie konnte das sein? Das zuständige Amt vermutete einen schlechten Scherz, forschte nach und musste feststellen, dass die Frauen als Nonnen für Gottes Lohn arbeiteten, während das ihnen zustehende Gehalt direkt an ihren Orden überwiesen wurde. Allerorten zeigen sich markante Abweichungen von einer Norm, tauchen vermeintliche Trends und saisonale Schwankungen auf. Würde ein ,,echter Datenanalyst angesichts dessen nun ständig ,,signifikant, signifikant rufen, wäre er nach kurzer Zeit heiser und niemand würde ihn mehr beachten.

    Deshalb ist verblüffend, dass das Renommee professioneller Kursanalysten, die ständig und überall Kauf- und Verkaufsignale sehen, immer noch vergleichsweise gut ist. An ihrer Performance – etwa der Treffsicherheit ihrer Prognosen – liegt das gewiss nicht, eher daran, dass sie uns ein Gefühl von Sicherheit und Beherrschbarkeit geben. Einen ähnlichen Zweck scheinen die oftmals beschwichtigenden Mitteilungen von Behörden zu verfolgen. Wie oft haben wir schon gehört, dass ,,zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die Bevölkerung bestand und wie oft stellte sich, nicht nur in Fukushima, das Gegenteil als richtig heraus? Anders gesagt: Da Kontrollverlust Ängste auslöst, verlassen wir uns letztlich aus psychologischen Gründen auf unzuverlässige Quellen. Allzu viele Gutgläubige meinen nur allzu gerne, dass es hochbezahlte Fachleute gibt, die schon wissen, was sie tun. Doch naives Vertrauen in wenig zuverlässige Informationen und die zugehörigen (oft selbsternannten) ,,Experten hilft zumeist nicht wirklich, viel häufiger hat intellektuelle Bequemlichkeit – wie der sprichwörtliche Schlaf der Vernunft – fatale Folgen.¹⁷

    Beide Grundeinstellungen, sowohl die konservative, also eher zurückhaltend-skeptische, als auch die progressive, also eher zuversichtlich-bejahende, haben dabei ihre Berechtigung. Extreme sind hingegen beim Balanceakt der adäquaten Gewichtung zu vermeiden. Wie auch innerhalb des politischen Spektrums verhindert rechter wie linker Dogmatismus (übertriebener Konservativismus bzw. permanenter Alarmismus), dass Fakten vernünftig gewürdigt werden. Der immerzu Beschwichtigende, der nie beunruhigende Signale zur Kenntnis nimmt, findet genauso selten zu einer belastbaren Position wie der notorische Zweifler, der stets alles in Frage stellt. Richtig ist, die Daten zusammen mit dem Kontext, in dem sie stehen, aufgeschlossen und zugleich kritisch in Augenschein zu nehmen. So kommt man bestenfalls zu einer ausgewogenen, fundierten Position, wenn auch nur selten zu einem unzweideutigen Urteil.

    Effizientes Handeln funktioniert ganz ähnlich. Einerseits sollte man nicht versuchen, Dinge zu ändern, die sich nicht ändern lassen; während andererseits Missstände, die sich beheben lassen, entschieden begegnet werden sollte. Das Dilemma ist auch hier, zwischen beiden Fällen zu unterscheiden. Der Fatalist findet sich mit (fast) allem ab, während der Überengagierte immer auf die Barrikaden geht – doch letztlich bewirken sie beide nicht viel. Vielleicht wird deshalb das ,,Gelassenheitsgebet" der anonymen Alkoholiker gerne zitiert:

    Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

    Daten in ihrem Kontext

    Die Aufgabe, bedeutsame, strukturell interessante Phänomene im allgegenwärtigen Rauschen zu entdecken ist umso schwerer, je mehr Variabilität in den Daten steckt, und naturgemäß werden Statistiker besonders dann hinzugezogen, wenn die Unsicherheit am größten ist. Doch Statistik ist keine Zauberei. Ohne fachliches Hintergrundwissen, ohne die Hilfe einer überzeugenden wissenschaftliche Theorie fällt es jedem, auch einem bestens geschulten Mathematiker, sehr schwer zu beurteilen, was ein interessanter Effekt ist – und was nicht. Eine sinnvolle Balance tut not, die am besten derjenige findet, der alle verfügbaren Informationen nutzt. Am gründlichsten gelingt dies, wenn man eine methodisch-mathematische mit einer empirisch-fachwissenschaftlichen Ausbildung kombiniert. Solche Datenanalysten verfügen nämlich über zwei Anhaltspunkte: Die Zahlenwerte und deren inhaltliche Bedeutung. Wenn man den substanziellen Kontext, dem die Daten entstammen, versteht, lässt sich am ehesten entscheiden, welche numerischen Werte wirklich auffällig sind und welche nicht. Es ist kein Zufall, dass gerade aus Großbritannien, wo diese Ausbildung Standard ist, seit Jahrzehnten die besten Statistiker kommen.

    Bestenfalls ergänzen sich in einer Person die genannten Grundhaltungen, wie auch die formalen und inhaltlichen Aspekte. Wenn sich Statistiker und Fachwissenschaftler aus numerischen und substanziellen Gründen in der Beurteilung eines Phänomens einig sind, so sollte man ihnen vertrauen. Weisen ihre Argumente hingegen in entgegengesetzte Richtungen, so kann einmal der eine oder der andere Recht haben. Ein Effekt kann ,,noch nicht" überzeugend numerisch nachweisbar sein, oder aber, ein vermeintlich starkes Signal in den Daten entpuppt sich bei genauerer Untersuchung als Artefakt.

    Ganz allgemein sind die gerade ausgeführten Argumente für die heutige Statistik typisch. Man blickt nicht nur auf die Daten und versucht diese sinnvoll zu interpretieren. Vielmehr fragt sich ein Statistiker nicht zuletzt, sondern zuallererst, wie die Daten zustande gekommen sind und in welchem Kontext sie stehen. Gerade der ,,Vorlauf" hat einen gravierenden Einfluss auf die gezogenen Schlüsse, er liefert wichtige Hinweise zur Interpretation der Ergebnisse und über deren Belastbarkeit.

    Zum Beispiel zählt jeder, der nach einem Verkehrsunfall mehr als 24 Stunden im Krankenhaus verbringt, als Schwerverletzter, unabhängig davon, wie schwer er tatsächlich verletzt ist. Ein Komapatient, der Wochen auf der Intensivstation verbringt, wird also genauso gezählt wie jemand, der sich ,,nur ein Bein gebrochen hat und nach zwei Tagen entlassen wird. Unter dem Titel ,,Jeder Engel zählt¹⁸ berichtete eine renommierte Wochenzeitung über die Pannenstatistik des größten deutschen Automobilclubs. Zu den vielen Pannen auf deutschen Straßen wird der ADAC nur zu einem Teil (ca. 3,6 Mio.) gerufen, und auch von diesen geht nur ein gewisser Teil (ca. 2,5 Mio.) in die statistische Aufstellung ein. Insbesondere sind alle Hersteller, die einen eigenen Pannendienst unterhalten, klar im Vorteil, verteilen sich deren Fahrzeugdefekte doch auf den jeweils hauseigenen Service, den ADAC und andere Dienste. Wenn dadurch z. B. nur jedes zweite liegengebliebene Fahrzeug einer solchen Marke von den ,,gelben Engeln" betreut wird, erscheint der Hersteller in der weithin sichtbaren ADAC-Pannenstatistik doppelt so gut wie er tatsächlich ist.

    Leider wird in der Öffentlichkeit kaum hinterfragt, wie Daten zustande kommen oder die dargestellten Variablen definiert sind. Es heißt ,,Arbeitslosenquote und der Bürger meint, er wüsste, was mit dieser Zahl beschrieben wird. Tatsächlich wurde jedoch gerade diese Quote in den letzten Jahren massiv umgestaltet, oft mit dem Ziel, möglichst wenige Arbeitslose ausweisen zu müssen. Wenn Hartz IV-Empfänger, Ausbildungsplatzsuchende, Arbeitslose, die an Weiterbildungen teilnehmen und Ältere ab 58 Jahren nicht mehr als ,,arbeitslos gelten, ist kaum verblüffend, dass die Arbeitslosenquote sinkt. Gerade in Bereichen mit einem starkem Interessendruck, also überall wo Macht und Geld – zuweilen auch Ruhm und Weltanschauungen – eine wichtige Rolle spielen, sollte man ein guter Statistiker sein, d. h. gründlich prüfen, wie Zahlen entstanden sind, insbesondere, ob die Zahlen überhaupt das darstellen, was sie sollten. ,,Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast" bringt deutlich zum Ausdruck, was schlimmstenfalls passiert, wenn es um etwas geht, und der schlechte Ruf der Statistik rührt genau daher.¹⁹

    1.2 Die Macht der Zahlen

    Die Rolle der Mathematik

    Fällt das Wort ,,Mathematik, so polarisieren sich sofort die Meinungen: Freudige Erwartung auf der einen Seite trifft auf Entsetzen auf der anderen. Starke Gefühle, wie Hass und Verachtung, werden genauso geäußert wie Verehrung, ja Liebe. Zahlen-Affine begeistern sich für die Schönheit der mathematischen Theorie und manchem, der im Deutschaufsatz immer schlecht war, gefielen stattdessen die prägnanten Fragen der Matheklausuren, die er ,,mit links beantworten konnte.²⁰ So nachlässig Kleidung und Knigge an vielen mathematischen Instituten auch gehandhabt werden, fragt man die dort Ein- und Ausgehenden ernsthaft nach ihren abstrakten Neigungen, werden selbst sonst recht Wortkarge vor Begeisterung nur so sprudeln.

    Anders als Worte sind Zahlen klar, eindeutig, präzise. Überhaupt neigen Vertreter dieser Gruppe zu der Meinung, dass sich mit wenigen, dafür aber auch sehr informativen Symbolen weit überzeugender argumentieren lässt als mit dehnbaren Worten. Laplace (1749–1827), einer der großen Väter der Wahrscheinlichkeitstheorie und Statistik, hat diese Grundhaltung in eine klassische, gern zitierte Form gebracht:

    Statistik ist nichts anders als gesunder Menschenverstand, reduziert auf ein mathematisches Kalkül.²¹

    Wer die reine Mathematik sogar zu seinem Lebensinhalt macht, findet Seelenruhe im platonischen Ideenhimmel, zieht seine Bahnen an dessen abstraktem Firmament und schätzt leider oft, genauso wie die meisten Philosophen dieser Ausrichtung, alle ,,Anwendung gering. Womöglich wird sogar der eine oder andere versierte Leser dieser Seiten allein deshalb von meinen Ausführungen enttäuscht sein, weil sie kaum eine Formel enthalten. ,,Lässt sich derart formlos Statistik überhaupt adäquat beschreiben? ist eine ernstzunehmende Frage.

    Davon sollte sich ,,Lieschen Müller nicht entmutigen lassen. Neben dem Stern am Firmament muss es auch die Feuerstelle auf dem Boden geben. Letztere mag nicht so rein und klar strahlen, doch ist sie weit nützlicher, um Essen zu kochen und in der Nacht nicht zu frieren. Kurz und gut: Weder Laien, noch Praktiker, noch Wissenschaftler sollten sich von Formalismen einschüchtern lassen. Es ist sogar so, diese Spitze sei erlaubt, dass ,,reine Mathematik weit weniger zur Lösung praktischer Probleme beiträgt, als man gemeinhin denkt. Es ist eine Schutzbehauptung, dass selbst die weltfremdeste Mathematik irgendwann einmal angewandt werden wird. Tatsächlich war die beste Mathematik immer schon bei ihrer Entstehung problemorientiert, sie erwuchs geradezu aus den praktischen Fragestellungen. Wer dies leugnet, ignoriert die Geschichte des Fachs. Natürlich ist Mathematik eine Geisteswissenschaft, doch ist sie mit, nicht ohne oder gar gegen die substanziellen Wissenschaften zu dem mächtigen Instrument herangewachsen, das sie heute ist.²²

    Deshalb vermeide man das andere Extrem, eine konsequent anti-mathematische Haltung. Wer ,,in Mathe immer schlecht war (Beutelspacher 2001) fürchtet sich womöglich seit seinen Schultagen vor der ,,fremden Welt der Zahlen.²³ Personen dieser Gruppe behelfen sich mit Worten, Bildern, Analogien und Intuition, lesen leicht(er) verdauliche Prosa und möchten schlimmstenfalls vieles gar nicht so genau wissen. In Maßen ist eine solche distanzierte Grundeinstellung nicht schlecht, zumal höhere Bildung, also ,,alles, was man wissen muss" (Schwanitz 2010), zumindest in Deutschland die MINT-Fächer nach wie vor ausspart. Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sind nützlich und gestalten die moderne Welt ganz wesentlich, aber muss der kultivierte Bürger deshalb viel von ihnen wissen? Geht es denn nicht auch ohne Zahlen und Formeln? Eine Frage, die selbst noch Akademiker gerne stellen, zumal wenn Zahlen in manchen Geisteswissenschaften geradezu verpönt sind und es explizit iudex non calculat – der Richter rechnet nicht – heißt.

    Ja und nein. Ein klares Nein insofern, dass ohne Mathematik die Statistik so wenig entwickelt wäre, wie es die Naturwissenschaften vor Galilei oder Newton (1643–1727) waren. Die mathematische Sprache ist noch unentbehrlicher für Wissenschaft als der Kontakt der Wissenschaftler untereinander und damit auch die Fachliteratur, auf die sich jedes gute Werk stützt.²⁴ Nur in popularisierenden Werken, wie dem vorliegenden, deren Ziel es ist, einen möglichst großen Leserkreis zu erreichen, können die ansonsten unentbehrlichen Werkzeuge in den Hintergrund treten. Deshalb und aus dem folgenden Grund taucht Mathematik nur hier und da auf.

    Glücklicherweise ist es so, dass man zumeist recht gut verstehen kann, wie eine Methode arbeitet oder warum ein Argument funktioniert, ohne ins technische Detail einsteigen zu müssen. Natürlich fehlt etwas, wenn hochkarätige Theorien ohne die zugehörige Mathematik erläutert werden, doch ist eine treffende verbale Erklärung allemal besser als gar keine. Hinzu kommt, dass die wenigsten Ideen der Statistik und Informatik so ,,unbegreiflich" sind, wie manche Ergüsse moderner Physik. In aller Regel lässt sich auch ohne Formel zumindest nachvollziehen, worum es geht, bestätigt die technische Ausführung unsere Intuition. Insofern ein klares Ja.

    Im konkreten Fall sind der gesunde Menschenverstand sowie die Plausibilität der Daten, Argumente und der sich darauf stützenden Schlussfolgerungen zumeist weit wichtiger als jeder Formalismus. Gar nicht so selten ist es sogar der gedankenlos benutzte Formalismus, der als ,,Ritual in die Irre führt. Gerade ein mathematisch wenig vorgebildeter ,,Verbraucher (aber nicht nur er) kann also zurecht erwarten, mit vorwiegend verbalen Argumenten überzeugt zu werden. Ergebnisse müssen in sich stimmig sein und dürfen mit der Erfahrung nicht kollidieren, um für Verstand und Vernunft akzeptabel zu sein. Genügen sie keinem dieser Kriterien, so sollte jeder genau prüfen, warum sie trotzdem bedeutsam sein sollten.

    Von der richtigen Einstellung

    So wesensfremd sich beide gerade geschilderten Haltungen auch sind, oft kommen sie verblüffenderweise doch zum selben Ergebnis. Das heißt, ob nun aufgrund von Furcht oder Bewunderung, beide vertrauen nur allzu gerne der Autorität der Zahl. Mehr noch, wir alle neigen dazu, quantitative Aussagen weniger kritisch zu hinterfragen, ihnen eher Glauben zu schenken als verbalen. Statistiker, also alle, die mit Daten emanzipiert umgehen wollen, sollten jedoch die hierzu inverse Einstellung entwickeln. Das heißt: Kein falscher Respekt vor Zahlen!

    Angst ist im Umgang mit quantitativen Argumenten genauso fehl am Platze wie unkritische Bewunderung oder vorauseilender intellektueller Gehorsam. Das beste und zugleich einfachste Mittel gegen den Bluff mit Daten heißt: gesunder Menschenverstand. Konkreter, glaube nur an das, was Du siehst, sich durch eine klare Logik erläutern und vor allem plausibilisieren lässt. Oft weiß auch ,,Otto Normalverbraucher" genug über einen Sachverhalt, um zumindest grob einschätzen zu können, ob eine Aussage zutreffen kann oder nicht. Einige

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