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Wie der Mensch rechnen lernt(e): Evolutionäre und psychologische Grundlagen der Mathematik
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eBook288 Seiten2 Stunden

Wie der Mensch rechnen lernt(e): Evolutionäre und psychologische Grundlagen der Mathematik

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Über dieses E-Book

Warum kann jeder Mensch aber kein Tier lernen mit exakten Zahlen zu rechnen?  Und warum hat sich die mathematische Begabung des Menschen im Verlauf der Evolution überhaupt herausgebildet? In seinem spannend und auch für Nichtexperten leicht lesbaren Überblick skizziert der Mathematiker Frieder Hermann den derzeitigen Stand unseres Wissens über diese Fragen. Er stellt nicht nur mehrere konkurrierende Theorien vor, sondern auch viele faszinierende psychologische Experimente. Das Themenspektrum reicht von Platons Gedankenexperiment über die mathematischen Fähigkeiten eines ungebildeten Sklaven bis hin zu neuesten Erkenntnissen der Autismus-Forschung. 

SpracheDeutsch
HerausgeberSpringer
Erscheinungsdatum23. Nov. 2021
ISBN9783662639634
Wie der Mensch rechnen lernt(e): Evolutionäre und psychologische Grundlagen der Mathematik

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    Buchvorschau

    Wie der Mensch rechnen lernt(e) - Frieder Hermann

    © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021

    F. HermannWie der Mensch rechnen lernt(e)https://doi.org/10.1007/978-3-662-63963-4_1

    1. Die Vorgeschichte der Mathematik

    Frieder Hermann¹  

    (1)

    Neckargemünd, Deutschland

    Frieder Hermann

    Email: frieder.hermann@t-online.de

    Wie alle Glanzleistungen der menschlichen Kultur ist die Mathematik nicht vom Himmel gefallen, sondern aus einer langen biologischen und kulturellen Evolution hervorgegangen.

    Vor 300 Mio. Jahren waren unsere Vorfahren noch Reptilien. Ihr Gehirn war damals noch klein und diente hauptsächlich der Steuerung von lebenswichtigen Körperfunktionen wie Kreislauf, Atmung und Schlaf. Aber dieses einfache Gehirn enthielt auch schon ein kleines Programm, das entfernt etwas mit Mathematik zu tun hatte, insofern nämlich, als es seinen Besitzern ermöglichte, zwischen einem, zwei oder drei ungefähr gleich großen, fressbaren Objekten zu unterscheiden.

    Diese überlebenswichtige Fähigkeit wurde bei vielen heute lebenden Tieren nachgewiesen, darunter auch Fische und Amphibien, deren Gehirne noch einfacher sind als das Gehirn eines Reptils. Wenn man beispielsweise einem Salamander zwei Glasröhrchen zeigt, in denen sich zwei beziehungsweise drei Fliegen befinden, dann bewegt er sich fast immer in Richtung auf das Röhrchen mit den drei Fliegen hin. Bei einer beziehungsweise zwei Fliegen ist der Effekt sogar noch stärker, aber nur, wenn die zwei Fliegen zusammengenommen größer sind als die eine, denn den Salamandern geht es natürlich nur ums Fressen und nicht um die Zahlen als solche. [1]

    In der Mitte der Kreidezeit, vor ungefähr 100 Mio. Jahren, als die Dinosaurier die Erde noch beherrschten, hatten sich unsere Vorfahren schon zu ungefähr rattengroßen nachtaktiven Säugetieren weiterentwickelt. Tagsüber mussten sie sich vor den Dinos verstecken, um von ihnen nicht gefressen zu werden. Und da sie nachts mit ihren Augen nicht viel anfangen konnten, verfeinerten sich schon bald ihre Hör- und Geruchssinne. Aus dem Riechhirn entwickelten sich nach und nach einige neue Gehirnstrukturen, die bei allen Säugetieren vorhanden sind, und es ihnen ermöglicht, Emotionen zu empfinden, soziales Verhalten zu lernen und sich Sorgen um ihren Nachwuchs zu machen.

    Vielleicht besaßen sie damals auch schon einen Zahlensinn, also die Fähigkeit, größere Anzahlen überschlägig zu vergleichen. Schon 1958 wies der amerikanische Tierpsychologe Francis Mechner in einem viel zitierten Experiment nach, dass heute lebende Ratten diese Fähigkeit besitzen. Die Tiere wurden zunächst hungrig gemacht und dann in einen Käfig gesetzt, in dem es zwei Hebel, A und B, gab. Drückten sie Hebel B, bekamen sie einen Leckerbissen, aber nur, wenn sie zuvor Hebel A mit einer voreingestellten Häufigkeit gedrückt hatten. Wenn nicht, bekamen sie zur Strafe einen leichten Stromstoß versetzt. Nach einiger Zeit lernten die Ratten tatsächlich durch Versuch und Irrtum, Hebel B erst dann zu drücken, wenn sie zuvor Hebel A mit der richtigen Häufigkeit gedrückt hatten. Letzteres gelang ihnen aber nur ungefähr, das heißt, sie konnten die vorgegebene Anzahl zwar ungefähr abschätzen aber nicht exakt erfassen. [2]

    Diese Versuche wurden natürlich von vielen anderen Forschern wiederholt und variiert. Es zeigte sich, dass Ratten Anzahlen nicht nur im Zusammenhang mit motorischen Handlungen wie Hebeldrücken abschätzen können, sondern auch, wenn ihnen Lichtblitze oder Töne in einer bestimmten Häufigkeit dargeboten wurden. Ihr Zahlensinn ist also in gewisser Weise wirklich ein Sinn für abstrakte Zahlen.

    Inzwischen wurde auch bei anderen Tierarten wie Affen, Löwen und Delphinen mit zum Teil spektakulären Experimenten in freier Wildbahn ein Zahlensinn nachgewiesen. Beispielsweise konfrontierte man ein Rudel von Löwinnen im Serengeti- Nationalpark nachts mit den Schreien fremder Artgenossinnen und stellte fest, dass sie ihre vermeintlichen Rivalinnen – Attrappen und Lautsprecher – nur dann angriffen, wenn sie selbst in der Überzahl waren. Dieses Beispiel illustriert auch gut die biologische Nützlichkeit des Zahlensinns.

    Die große Zeit der Säugetiere begann, nachdem sich vor ungefähr 65 Mio. Jahren durch eine Naturkatastrophe die Lebensbedingungen auf der Erde so sehr geändert hatten, dass über die Hälfte aller Tierarten, darunter auch alle Dinosaurier, ausstarben. Da unsere Vorfahren nun auch tagsüber wieder auf Nahrungssuche gehen konnten, wurde das Sehen wieder wichtiger. Und um die von den verschiedenen Sinnen einlaufenden Informationen besser miteinander in Verbindung bringen zu können, kam es schon bald zu einer weiteren Gehirnvergrößerung, die vor allem den sogenannten Neocortex betraf. Das ist ein Teil des Gehirns, in dem Informationen aus der Außenwelt nicht nur verarbeitet, sondern auch abgespeichert werden können. Infolgedessen entwickelten sich unsere Vorfahren von nun an prächtig. Der Biologe Carl von Linné klassifizierte sie als „Primaten, was wörtlich übersetzt „die Erstklassigen bedeutet.

    Heute sind die Primaten eine Klasse von Säugetieren, die zahlreiche Arten umfasst. Ihre „Erstklassigkeit" verdanken sie unter anderem ihrem hochentwickelten visuellen System. Die Augenhöhlen befinden sich bei ihnen auf der Vorderseite des Kopfes und ermöglichen dadurch das aufeinander abgestimmte Sehen mit beiden Augen, was eine gute räumliche Wahrnehmung ermöglicht.

    Zahlensinn und räumliches Sehen, das sind wohl die beiden ältesten Wahrnehmungs- Fähigkeiten, die man im weitesten Sinn als mathematisch bezeichnen könnte.

    Vor 25 Mio. Jahren waren die Vorfahren des Menschen Affen, die im tropischen Regenwald lebten und sich hauptsächlich von Blättern und Früchten ernährten. Um sich in einer Affenhorde zu behaupten, braucht man eine ganz besondere Art von sozialer Intelligenz, die man heute unter dem Begriff „Machiavellistische Intelligenz" zusammenfasst nach dem Renaissance-Gelehrten Niccoló Machiavelli, der die Techniken der Machtausübung zwischen Staaten analysiert hat. Ein Individuum mit hoher machiavellistischer Intelligenz kann seine Artgenossen manipulieren und austricksen. Es kann Kräfteverhältnisse richtig einschätzen, ist fähig, freundschaftliche Beziehungen zu möglichen Verbündeten aufzubauen, Koalitionen zu bilden und, wenn opportun, auch die Fahnen zu wechseln.

    Besonders groß ist anscheinend die machiavellistische Intelligenz von Schimpansen. Der Schimpansen-Forscher Frans Waal berichtete zum Beispiel von zwei männlichen Schimpansen aus seinem Gehege, die häufig miteinander in Streit gerieten, wobei regelmäßig der stärkere die Auseinandersetzung begann und den schwächeren verprügelte. Nach einiger Zeit begann der schwächere Schimpanse immer dann, wenn er mit dem anderen zusammentraf, zu hinken. Sobald er aber aus dem Blickfeld des stärkeren gekommen war, lief er wieder normal, was zur Folge hatte, dass der ihn nun in Ruhe ließ.

    In freier Wildbahn wenden schwächere oder auch halbwüchsige Schimpansen oft folgende raffinierte Taktik an. Sie stellen sich in die Nähe des Alphatiers und beschimpfen und bedrohen von dort aus Rivalen, die stärker sind als sie. Denn sie wissen, dass die Rivalen es wegen der Nähe des Alphatiers nicht wagen werden, ihre Drohungen zu erwidern.

    Solche Beobachtungen legen die Vermutung nahe, dass ein Teil des Anpassungsdrucks, der zu der wachsenden Intelligenz der Affen führte, nicht von der äußeren Umwelt kam, sondern vom sozialen System der Affen selbst produziert wurde. Ein Individuum, das intelligenter war als die anderen, konnte seine Gene leichter weitergeben, wodurch die durchschnittliche Intelligenz der Gruppe stieg, was insgesamt den Schwierigkeitsgrad, um sozial erfolgreich zu sein, weiter erhöhte, wodurch die Intelligenz noch mehr anstieg und so weiter.

    Wie man sich das konkret vorstellen kann, wird ganz gut durch die folgende Anekdote illustriert, die dem Buch „The Chimpanzees of Gomb der bekannten Schimpansen-Forscherin Jane Goodall entnommen ist: Der Schimpanse Mike stahl im Lager Jane Goodalls zwei leere Kerosinkanister und zog mit diesen heftig lärmend durch die Gegend, wodurch alle potenziellen Rivalen sehr bald total eingeschüchtert waren. Für einige Zeit war er durch seine „Innovation der Star der Horde und hatte dadurch Zugang zu allen paarungswilligen Weibchen und also auch vielfältige Chancen, seine intelligenten Gene weiterzugeben. [3]

    Halten wir fest: Die soziale Intelligenz von Affen besteht unter anderem darin, andere auszutricksen und zu manipulieren und dabei instinktiv eine Art Gewinn-Verlust-Rechnung aufzustellen. Letzteres lässt vermuten, dass affenartige Intelligenz entfernt auch etwas mit Mathematik zu tun hat.

    Menschenaffen sind noch intelligenter als Tieraffen, denn anders als diese können sie Probleme durch Nachdenken lösen, eine Fähigkeit, die bekanntlich auch in der Mathematik nützlich sein kann.

    Die ersten Experimente, die das belegen, wurden schon in den Jahren 1914–1920 von dem deutschen Psychologen Wolfgang Köhler gemacht. Bei einem dieser Experimente wurde eine Banane an die Decke eines Tiergeheges gehängt und mehrere Holzkisten in einer Ecke bereitgestellt. Dann wurde ein Schimpanse hereingelassen. Die Banane schlug ihn sogleich in ihren Bann, aber er konnte sie sich nicht holen, weil sie zu hoch hing. Schlecht gelaunt setzte er sich auf den Boden. Nach einiger Zeit erblickte er aber die Kisten und seine Augen wanderten von der Banane zu den Kisten mehrmals hin und her. Plötzlich sprang er auf, stellte die Kisten aufeinander und holte sich die begehrte Frucht.

    In einem anderen Experiment wurde eine Banane außerhalb des Käfigs von Sultan, dem Lieblingsschimpansen von Köhler, gelegt und zwar so weit weg, dass Sultan sie mit keiner der beiden Stangen, die er erhalten hatte, erreichen konnte. Nachdem er sich vergeblich mit jeder Stange einzeln abgemüht hatte, saß er frustriert und schmollend in seinem Käfig. Plötzlich ging ein Ruck durch ihn und er nahm beide Stangen und steckte sie ineinander, sodass eine längere Stange entstand, die nun lang genug war, um an die Banane heranzukommen. Solche Experimente wurden viele Male wiederholt, variiert und verfeinert.

    Das Experiment mit der Banane an der Decke wurde in der Sowjetunion mit einem Orang-Utan gemacht und in einem Film festgehalten. Den Moment der Eingebung beschrieb Konrad Lorenz so:

    „Da plötzlich beginnen seine Blicke andere Wege einzuschlagen. Sie gehen zur Kiste, von dort zu dem Ort am Fußboden genau unter der Banane und von da empor zum lockenden Ziel und wieder zurück zur Kiste. Dann folgt blitzartig der problemlösende Einfall, der an dem ausdrucksvollen Gesicht des Orang eindeutig abzulesen ist, und sogleich begibt er sich, vor Freude einen Purzelbaum schlagend, zur Kiste, schiebt sie unter die Banane und holt sich diese. Niemand, der eine solche Problemlösung an einem Affen beobachtet hat, kann ernstlich daran zweifeln, dass das Tier im Augenblick der Lösungsfindung ein dem unseren analoges Aha-Erlebnis hat." [4]

    Irgendwie gelingt es den Menschenaffen, ob bewusst oder nicht bewusst sei dahingestellt, sich selbst und die Kisten samt den räumlichen Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, in ihren Gehirnen zu repräsentieren und die Kisten in Gedanken zu verschieben. Damit sie das können, müssen sie so etwas wie ein Selbstkonzept haben, das heißt, in ihrer Fantasie müssen sie selbst wie ein Objekt repräsentiert sein.

    Dafür, dass das wirklich der Fall ist, spricht auch ein berühmtes Experiment, das der amerikanische Psychologe Gordon Gallup im Jahre 1970 durchführte. Er tupfte den Tieren in narkotisiertem Zustand Farbflecken ins Gesicht und ließ sie nach der Narkose in einen Spiegel schauen. Sie bemerkten die Flecken sofort und versuchten, sie wegzukratzen. Ihnen war also klar, dass sie sich selbst im Spiegel sahen. Daraus schloss Gallup, dass Schimpansen über sich selbst wie über einen Gegenstand „nachdenken" können. Außer Schimpansen und Menschen haben auch noch die anderen Menschenaffen, also Gorilla und Orang-Utan, diese Fähigkeit. Aber die meisten anderen Tiere halten ihr eigenes Spiegelbild für einen fremden Artgenossen, und daran ändert sich auch nach monatelangem Training nichts. Es fasziniert mich immer wieder, wenn unsere Katze ihr Spiegelbild im Glasfenster unseres Wintergartens angreift. Dass die vermeintliche Konkurrentin immer exakt die gleichen Bewegungen macht wie sie selbst, scheint sie in keiner Weise nachdenklich zu stimmen.

    Der Spiegelversuch von Gordon wurde übrigens auch mit Menschenkindern gemacht. Es stellte sich heraus, dass Babys während der ersten drei Lebensmonate keinerlei Interesse an ihrem Spiegelbild haben. Das ändert sich erst zwischen dem fünften und dem achten Monat. Dann lächeln sie ihrem Spiegelbild zu, aber nichts deutet darauf hin, dass sie sich selbst erkennen. Erst zwischen dem 20. und dem 24. Monat nehmen sie eine rote Stelle auf der eignen Stirn zum Anlass, diese zu berühren und erst jetzt antworten sie auf die Frage, wer da im Spiegel zu sehen ist, mit „ich" oder nennen ihren Namen.

    Die Ausbildung eines Selbstkonzepts – über sich selbst wie über ein Objekt nachdenken können – ist vermutlich eine notwendige Bedingung für die Fähigkeit, sich in einen anderen Artgenossen hineinzuversetzen. Dass Schimpansen dazu in gewissem Umfang in der Lage sind, kann man zum Beispiel an ihrem Jagdverhalten erkennen. In freier Wildbahn gehen sie nämlich manchmal gemeinsam auf die Jagd nach kleineren Affen. Dabei können sie ihre Aktionen aufeinander abstimmen, indem zum Beispiel einige von ihnen dem Beutetier den Rückzug abschneiden, bevor die anderen es angreifen. Paviane, die sich nicht im Spiegel erkennen können, sind dazu nicht in der Lage. Wenn sie gemeinsam auf die Jagd gehen, greifen sie alle gleichzeitig und aus derselben Richtung an. [5]

    Darüber, wie weit die Fähigkeit zur Empathie bei Schimpansen geht, wird derzeit noch gestritten. Ausgelöst wurde dieser Streit durch Experimente, die amerikanische Psychologen schon 1978 durchführten. In einem dieser Experimente wurde einem Schimpansen eine Videoszene gezeigt, in der ein Mensch versuchte, mit einem Wasserschlauch zu spritzen, obwohl der Schlauch nicht angeschlossen war. Dann wurden dem Versuchstier verschiedene Fotos gezeigt, darunter auch eines, das die Lösung des Problems zeigte, nämlich das Anschließen des Schlauchs an den Wasserhahn. Meistens entschieden sich die Tiere für das richtige Foto. Das wurde dann so interpretiert, dass die Schimpansen, die Absicht, den Wasserschlauch anzuschließen, vollständig verstanden haben und es wurde daraus gefolgert, dass Schimpansen grundsätzlich in der Lage sind, die Perspektive eines anderen zu übernehmen. Aber andere Experimente ließen daran Zweifel aufkommen, denn aus diesen ergibt sich, dass Schimpansen ein ganz bestimmtes Wissen, das auch Menschen erst zwischen ihrem vierten und ihrem fünften Lebensjahr erlangen, nicht haben, nämlich das Wissen, dass sich die Gedanken anderer von den eigenen Gedanken unterscheiden können.

    Kinder wissen zwar schon mit ungefähr 20 Monaten, dass sie selbst eigene Gedanken und Wünsche haben, aber sie können erst später unterscheiden zwischen dem, was sie wissen und dem, was sie glauben, dass andere wissen. Das schließt man zum Beispiel aus dem folgenden Experiment: Der Versuchsleiter zeigt einem Kind eine Schachtel und fragt es, was es darin vermutet. Es antwortet natürlich: „Süßigkeiten. Dann wird dem Kind gezeigt, dass sich in Wirklichkeit Bleistifte in der Schachtel befinden. Anschließend wird die Schachtel wieder zugemacht und das Kind wird gefragt: „Deine Freundin wird bald kommen. Was wird sie wohl denken, was in der Schachtel ist? Ein dreijähriges Kind antwortet dann: „Bleistifte, ein fünfjähriges aber: „Süßigkeiten. Fünfjährige Kinder sind also im Vergleich zu Dreijährigen besser in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen und deren Perspektive zu übernehmen.

    Der Leser wird sich vielleicht schon längst gefragt haben, warum in einem Kapitel über die Vorgeschichte der Mathematik so viel von heute lebenden Schimpansen und menschlichen Kleinkindern die Rede ist. Um das zu erklären, möchte ich den bekannten britischen Archäologen Steven Mithen zitieren: „Viele Archäologen fühlen, dass die Zeit nun reif ist, um nicht immer nur zu fragen, wie unsere Vorfahren aussahen oder wie sie sich verhielten, sondern auch zu fragen, was in ihren Köpfen vor sich ging. Es ist Zeit für eine kognitive Archäologie." [6]

    Vielleicht ist das Eigenschaftswort „kognitiv" nicht jedem bekannt. Es ist nämlich erst in den letzten Jahrzehnten in Mode gekommen und bezeichnet Funktionen eines

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