Chronische Schmerzen: Selbsthilfe, Tipps und Fallbeispiele für Betroffene
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Über dieses E-Book
Ein Selbsthilfebuch für Menschen mit chronischen Schmerzen – und deren Angehörige: Millionen von Menschen in Deutschland sind von chronischen Schmerzen betroffen. Schmerzkranke haben oft eine lange Vorgeschichte mit den verschiedensten medizinischen und chirurgischen Maßnahmen sowie erfolglosen Therapieversuchen. Betroffene erleben sich ihren Schmerzen hilflos ausgeliefert. Und Partner, Familie, Freunde leiden mit.
Aus dem Inhalt:
Dieses Therapiebuch begleitet Sie bei der Behandlung Ihrer Schmerzerkrankung. Mit dieser Hilfe werden Sie zum Experten Ihrer eigenen Krankheit. Sie erfahren alles Wissenswerte über die verschiedenen Erkrankungsbilder, Symptome, ihre Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten. Sie finden Unterstützung, dass die Symptome nicht eingebildet sind oder auf persönlicher Schwäche beruhen. Sie lernen auf Ihre Beschwerden Einfluss zu nehmen und die Schmerzen zu lindern.Über den Autor:
Dr. med. Martinvon Wachter ist Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie mit Zusatzausbildung in psychosomatischer Schmerztherapie und Traumatherapie.
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Buchvorschau
Chronische Schmerzen - Martin von Wachter
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021
M. von WachterChronische Schmerzenhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-63231-4_1
1. Einleitung
Martin von Wachter¹
(1)
Klinik für Psychosomatik, Ostalb-Klinikum, Aalen, Baden-Württemberg, Deutschland
Martin von Wachter
Email: info@schmerzen-bewaeltigen.de
Mehr als 20 Mio. Menschen in Deutschland haben ständige oder häufig auftretende Schmerzen. Über 2 Mio. davon leiden stark durch die Schmerzen an körperlichen, psychischen und sozialen Beeinträchtigungen (Häuser et al. 2014). Schmerzkranke haben fast immer eine lange Vorgeschichte mit den verschiedensten medizinischen und chirurgischen Maßnahmen sowie oft erfolglosen Therapieversuchen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Krankheit als rein körperliches Phänomen angesehen wird und die psychischen und sozialen Ursachen und Folgen der chronischen Schmerzkrankheit nicht berücksichtigt werden und eine entsprechende interdisziplinäre Behandlung ausbleibt.
Im Gegensatz zum akuten Schmerz sind beim chronischen Schmerz nicht nur der Körper, sondern auch die Psyche und das soziale Umfeld betroffen. Oft ist das Selbstwertgefühl der Betroffenen beeinträchtigt, und sie sind durch den erfolglosen Krankheits- und Behandlungsverlauf sowie die erlebte Zurückweisung im Gesundheitssystem depressiv und misstrauisch geworden. Sie erleben sich ihren Schmerzen hilflos ausgeliefert (Abb. 1.1). Neben dem persönlichen Leid der Kranken ist meistens auch das persönliche Umfeld, insbesondere die Partnerschaft und die Familie, in Mitleidenschaft gezogen (von Wachter 2003).
Abb. 1.1
Der Schmerz bestimmt das Leben
Schmerz ist das, was der Betroffene empfindet
Auch wenn Schmerzen ohne auffällige Befunde im Labor, CT, MRT oder Röntgen auftreten, gibt es keinen Zweifel daran, dass die Schmerzen echt sind und nicht eingebildet. Schmerz ist das, was der Betroffene empfindet und wahrnimmt, und nicht das, was im Röntgenbild oder Labor zu sehen ist.
Literatur
Häuser W, Schmutzer G, Henningsen P, Brähler E (2014) Chronische Schmerzen, Schmerzkrankheit und Zufriedenheit der Betroffenen mit der Schmerzbehandlung in Deutschland Ergebnisse Einer Repräsentativen Bevölkerungsstichprobe. Schmerz 28:483–492Crossref
von Wachter M (2003) Schmerzkrankheit in der Familie. In: Altmeyer S, Kröger F (Hrsg) Theorie und Praxis der Systemischen Familienmedizin. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 87–100
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2021
M. von WachterChronische Schmerzenhttps://doi.org/10.1007/978-3-662-63231-4_2
2. Entstehung chronischer Schmerzen
Martin von Wachter¹
(1)
Klinik für Psychosomatik, Ostalb-Klinikum, Aalen, Baden-Württemberg, Deutschland
Martin von Wachter
Email: info@schmerzen-bewaeltigen.de
Trailer
Dieses Kapitel widmet sich der grundsätzlichen Definition und Einteilung von Schmerzen. Die Unterschiedsmerkmale zwischen akutem und chronischem Schmerz werden aufgezeigt. Außerdem wird dargestellt, wie die Schmerzverarbeitung im Rückenmark und Gehirn abläuft.
Die enge Beziehung zwischen Körperschmerz und Seelenschmerz bei einer chronischen Schmerzkrankheit kommt ebenso zur Sprache wie die damit verbundenen psychosozialen Auswirkungen für den Betroffenen, seine Familie und sein privates bzw. berufliches Umfeld. Die Risikofaktoren für eine Chronifizierung werden schließlich den schützenden Faktoren gegenübergestellt.
Sie finden die Gelegenheit, alle Faktoren und Einschränkungen, die aus Ihrer chronischen Erkrankung resultieren, zu reflektieren und sich entsprechende Notizen zu machen.
2.1 Was ist Schmerz eigentlich?
Jeder kennt Schmerzen, aber es ist schwer zu sagen, was Schmerzen eigentlich sind. Ist Schmerz eine Wahrnehmung wie z. B. Schmecken, Hören oder Riechen oder ein Gefühl wie z. B. Wut, Ärger oder Trauer? Eine moderne Definition sieht beide Aspekte vor.
Schmerz ist sowohl unangenehme Sinneswahrnehmung als auch Gefühlserlebnis
Schmerz ist sowohl eine unangenehme Sinneswahrnehmung, die dem Körper zugeschrieben wird, als auch ein Gefühlserlebnis.
Dies kann hervorgerufen werden durch:
eine reale körperliche Verletzung,
einen drohenden Schmerz, z. B. vor dem Zahnarztbesuch,
einen früheren Schmerz über das Schmerzgedächtnis,
eine psychische Verletzung,
die Beobachtung von Schmerzen bei einem anderen (z. B. wenn sich jemand den Finger in der Autotür einklemmt).
2.2 Schmerzkrankheit
Ob Schmerzen zu einer chronischen Erkrankung werden, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Im Verlauf der Chronifizierung von Schmerzen kann sich eine eigenständige Schmerzkrankheit entwickeln, die sich von ihrer Ursache abgekoppelt hat. Folgerichtig haben die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Spitzenverbände der Ersatzkassen 1996 in einem Vertrag zur qualifizierten Schmerztherapie erstmals von einer Schmerzkrankheit gesprochen und diese wie folgt definiert.
Chronisch schmerzkrank sind Patienten, bei denen der Schmerz seine Leit- und Warnfunktion verloren und selbständigen Krankheitswert erlangt hat.
Im Folgenden werden neben organischen Ursachen auch funktionelle Teufelskreisläufe und psychosoziale Faktoren erläutert, die an der Entstehung chronischer Schmerzen mitwirken.
2.3 Akuter Schmerz und chronischer Schmerz
Akuter Schmerz
Akuter Schmerz wird durch äußere (z. B. Verletzung) oder innere Prozesse (z. B. Entzündung, Tumor, Verspannung) ausgelöst. Er ist zeitlich begrenzt, örtlich umschrieben und wird von einer Stressreaktion begleitet (Puls und Blutdruckanstieg, Schwitzen, Muskelanspannung). Der akute Schmerz hat eine Warnfunktion und ist biologisch sinnvoll. Er führt dazu, dass wir die Aufmerksamkeit auf eine Verletzung lenken und weitere schmerzauslösende Aktivitäten vermeiden (Abb. 2.1). Im Falle einer Verletzung ist es z. B. sinnvoll, sich zu schonen. Schmerz ist aber keine „Einbahnstraße", bei der lediglich Signale aus dem Körper an das Gehirn übermittelt werden. Ein solches einfaches Reiz-Reaktions-Konzept beschreibt allenfalls den akuten Schmerz.
Abb. 2.1
Akuter Schmerz hat eine Warnfunktion (links); chronischer Schmerz kann zu „falschem Alarm" führen (rechts)
Chronische Schmerzen haben keine Schutzfunktion mehr
Chronischer Schmerz
Bei chronischen Schmerzen ist dieses „Einbahnstraßen-Modell" völlig unzureichend. Hier kommen zahlreiche Wechselwirkungen zwischen äußerem Reiz und dem Schmerzsystem hinzu – sowohl auf körperlicher als auch auf psychosozialer Ebene. Durch die Schmerzen verändern sich Teile des Nervensystems, die den Schmerz verarbeiten.
Von chronischem Schmerz sprechen wir, wenn Schmerzen länger als 3–6 Monate anhalten.
Chronischer Schmerz ist oft weniger scharf umschrieben, häufig dumpf, manchmal wechselnd. Chronische Schmerzen haben meistens keine Schutzfunktion mehr. Die Schmerzen bedeuten nicht mehr, dass der Körper geschädigt wird. Chronischer Schmerz kann so zu einem „falschen Alarm" führen und zu ungünstigem Verhalten verleiten. Wie eine defekte Alarmanlage, die zu empfindlich eingestellt ist und losgeht obwohl keine Gefahr besteht. Eine Schonhaltung und eine Vermeidung von Aktivitäten können dann zu einer Verschlimmerung und Chronifizierung führen. Deshalb ist auch die Behandlung von akuten Schmerzen anders als die von chronischen Schmerzen.
2.4 Schmerzverarbeitung auf neuronaler Ebene
2.4.1 Der Weg vom Schmerzreiz zum Gehirn
Äußere und innere Schmerzreize werden von Schmerzsinneszellen (Schmerzrezeptoren, Nozizeptoren) in Haut, Muskeln, Faszien, Gelenken und inneren Organen aufgenommen. Über Nervenbahnen werden die Schmerzimpulse zum Rückenmark geleitet. Von dort geht es dann über eine weitere Schmerzbahn zum Gehirn.
Vorgänge im Gehirn nehmen Einfluss auf Schmerzweiterleitung im Rückenmark
Bereits 1965 konnten Wissenschaftlerge zeigen, dass die Weiterleitung der Schmerzimpulse im Rückenmark auch von absteigenden Bahnen aus dem Gehirn gehemmt wird (Melzack und Wall 1965). Diese schmerzhemmenden Nervenbahnen wirken wie ein Antischmerzsystem. Der Organismus verfügt somit über ein Schmerzsystem, das individuell und situationsabhängig mehr oder weniger stark aktiv ist. Erst bei ausreichender Erregung der Schmerzsinneszellen bzw. bei verminderter Hemmung vom Gehirn werden die Schmerzimpulse durch ein „Tor im Rückenmark zum Gehirn und letztendlich in unser Bewusstsein weitergeleitet (Abb. 2.2). So können Vorgänge im Gehirn Einfluss auf die Schmerzweiterleitung im Rückenmark nehmen. Je nachdem, wie weit das Tor im Rückenmark offen ist, kann der Schmerz verstärkt zum Gehirn weitergeleitet werden. In ihrer „Gate-control-Theorie
verdeutlichten sie damit schon damals den Einfluss des Gehirns auf die Schmerzwahrnehmung.
Abb. 2.2
Schmerzverarbeitung an verschiedenen Orten im zentralen Nervensystem und absteigende schmerzhemmende Bahn
Im Rückenmark können die Schmerzreize auch Reflexe auslösen, die zur Anspannung der Muskulatur führen. Bei akutem Schmerz dient dies als Schutzmechanismus, beim chronischen Schmerz führt dies jedoch zu einer Verspannung und Verstärkung der Schmerzen. Im Rückenmark konkurrieren auch andere Reize mit dem Schmerz. So kann Reiben oder Pusten, wenn wir z. B. Kinder trösten, über den Tastsinn zu einer Schmerzlinderung führen, ähnlich wie Kälte- oder
