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Das Erwachen der Formel
Das Erwachen der Formel
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eBook352 Seiten4 Stunden

Das Erwachen der Formel

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Über dieses E-Book

Ein Videoblogger wird ermordet. In den Händen der Leiche findet die Polizei das Manifest von Hanne Bergstrom. Hanne Bergstrom hat die Formel für einen perfekten Staat entwickelt. Sie will eine globale Ordnung über das Internet erschaffen - unter der Herrschaft einer künstlichen Intelligenz. Gemeinsam mit einem Team von Hackern baut sie ihre Formel zu einer gewaltigen Bewegung aus. Doch die Polizei ermittelt gegen sie: Ist sie für ihre Vision zur Mörderin geworden? Oder wurde der Videoblogger von jemandem aus ihrem Team getötet?

Ein packender Thriller über große Ideen für eine bessere Welt, heimtückische Intrigen und eine kämpferische, junge Frau, gejagt von den Schatten ihrer Vergangenheit.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum24. Feb. 2019
ISBN9783742703958
Das Erwachen der Formel

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    Buchvorschau

    Das Erwachen der Formel - Julius van Caspar

    01 Video

    Das Erwachen der Formel

    von

    Julius van Caspar

    Kurz vor seinem Tod richtete Felix Ballhorn die Kamera auf sich und lachte aus vollem Herzen „Hier ist euer Herr Schmitz, redete er mit zuckriger Stimme los. „In letzter Zeit bekomme ich wieder tausende Nachrichten. Mit Morddrohungen, Verschwörungstheorien und Sexfantasien. Und heute lese ich euch die schlimmsten Nachrichten vor. Damit wir alle was zu lachen haben.

    „Herr Schmitz, so nannte sich Felix Ballhorn im Internet. 50.000 Abonnenten hatte er und es wurden täglich mehr. Zum Leben reichte es zwar nicht, doch irgendwann würde er die magische „Millionen Marke knacken, dachte er und drückte seine Daumen dabei zusammen, bis ihm vor Glück die Finger schmerzten.

    „Hört mal, was mir gestern geschickt wurde." Er begann von einem zerknitterten Zettel vorzulesen:

    „Das ist die Vision einer neuen Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die von einer Idee regiert wird. Das ist die Vision eines intelligenten Computerprogramms, das uns Menschen beherrscht. Für globalen Frieden und Gerechtigkeit. Das ist die Vision der Formel."

    Grinsend rückte er die Kappe auf seinem Kopf zurecht und streckte den Zettel nach vorne. „Da ist wohl einer nicht zum Arzt gegangen – trotz der vielen Visionen. Aber einen Moment, es wird noch besser."

    „Die Menschheit hat versagt. Machen wir so weiter, rotten wir uns aus. Lasst uns über ein System nachdenken, das uns retten kann. Vor unserer eigenen, menschlichen Dummheit! Ein Computer-System, das alle Nationen vereint. Das System der Formel."

    Felix Ballhorn verbeugte sich und zerknüllte prustend den Brief. Er stoppte die Aufnahme und sein Grinsen war verschwunden. Was für eine hirnlose Scheiße, dachte er. Jeden Tag hat irgendwo auf der Welt irgendjemand eine gefühlt geniale Idee, möchte die Menschheit retten, oder eigentlich nur sich selbst. Genau wie dieser Spinner hier. Wen interessiert das schon? Wir sind zu viele, dachte Ballhorn, während er nach seinem Manuskript für den nächsten Teil des Videos suchte. Zu viele Menschen, die zu viel Gedankenmüll produzieren, zu viele Geschichten, zu viele Daten für ein wabbliges Gehirn und zu viele, die stinkenden Abfall aus sich herauspressen. Wichtig ist es nicht unterzugehen. Sich dagegen zu wehren – mit aller Kraft – ein Niemand zu sein. Wie könnten wir auch alle jemand sein, bei 7,47 Milliarden Leuten, die über den Planeten stolpern? Je größer eine Masse ist, desto schwieriger wird es aus ihr herauszustechen. Und umso erdrückender ist es, nur ein Schatten dieses hektischen Schwarms zu sein. Felix Ballhorn stand kurz vor seinem 30sten Geburtstag. Er musste sich beeilen, endlich außergewöhnlich zu werden.

    Ein Quietschen ließ ihn aufschrecken. Es klang, als wäre es direkt aus seinem Zimmer gekommen. Hinter ihm ragte ein Regal mit Computerspielen, Comics, und originalverpackten Actionfiguren bis unter die Decke. Daneben lehnte eine lebensgroße Stormtrooper-Figur. Das Soldatenkostüm mit weißer Plastikrüstung und Helm war zu so etwas wie seinem Markenzeichen geworden und immer im Hintergrund seiner Videos.

    „Hallo?, rief er und lauschte gegen die Wände. Bis auf die eigenen Atemzüge und das Pochen an seinem Hals, war da nichts. Draußen rauschte ein Auto vorbei. Er tapste in den Flur und sah sich in Bad und Küche seiner 33 Quadratmeter Einzimmerwohnung um. „Hallo, flüsterte er. Niemand antwortete – nicht einmal ein verdächtiges Geräusch. Er nahm den Schlüssel von der Kommode, sperrte zweimal ab und ließ ihn stecken. Der Schuhabtreter lag schräg im Flur und er rückte ihn mit dem Fuß gerade. Sein Herz pochte noch immer zu laut und er drückte die Hand dagegen, um es zu beruhigen. So wie das damals seine Mutter gemacht hatte, wenn er nicht einschlafen konnte.

    Zurück in seinem Zimmer fiel ihm zum ersten Mal dieser eigenartige Geruch auf. Es roch nach abgestandener Luft und alter Bettwäsche. Doch da war noch etwas anderes, süßlicher und feiner, wie die verschwommene Spur eines Billigparfüms. Er ging zum Fenster und atmete hinaus in die Nacht. Ballhorn drückte den Rahmen wieder zu und der Gestank hatte sich verflüchtigt.

    „Keine Panik, murmelte er, als er am Schreibtisch durch seine Notizen scrollte. Er kontrollierte sein Gesicht im Bildschirm der Kamera. Erst die Zähne, die Zunge und die Nasenlöcher – gerade bei der Nase konnte man nie gründlich genug sein –, dann strich er sich über die gezupften Augenbrauen, und rückte die Kappe mit dem Aufdruck „Fire zurecht, sodass seine dunkelblaue Haarsträhne genau richtig herausguckte. Noch einmal betrachtete er sein Spiegelbild. Erst ehrlich lachend, dann nachdenklich, zornig, gutmütig und schließlich ironisch grinsend. Das Ironische gefiel ihm am besten. Die Stormtrooper Figur neben dem Regal gaffte ihn wie immer missmutig an. „Lach doch auch mal, Junge", raunte er dem Deko-Kostüm scherzhaft zu und drückte den Aufnahmeknopf.

    „Dieser Formel-Typ ist echt die Härte, begann er. „Er hat mir sein „Manifest gestern als Brief an meine private Adresse geschickt. Keine Ahnung woher er die hat. Das ist verdammt gruslig. Ich bin seriöser Videoblogger und berichte hier über Nachrichten und Computerspiele. Ich verbreite keine Verschwörungstheorien und werde auch an keiner hirnverbrannten Revolution teilnehmen! Uns geht es gut. Und ich will, dass das verdammt noch mal so bleibt."

    Felix Ballhorn hielt inne und suchte sein Lächeln. Für einen Augenblick schien es ihm, als könne er den fremden Duft wieder riechen. Dieses leicht süßliche Parfüm.

    „Deine Formel‘ interessiert keine Sau. Verstanden? Stell dich auf `nen Berg und halt `ne Predigt. Aber lass uns in Ruhe."

    Hinter sich hörte er ein Knacken, dieses Mal etwas leiser, doch weil die Aufnahme gerade so gut lief, blickte er weiter in die Kamera. Hätte er sich umgedreht, möglicherweise wäre ihm aufgefallen, dass sich die Finger des lebensgroßen Stormtrooper-Kostüms zu bewegen begannen.

    „So und jetzt folgen: Die Top 10, der dümmsten Mails, die mir je geschrieben wurden. Ach, und nächste Woche gibt es dann einen ganz besonderen Einblick in die Welt der Internetaktivisten."

    Plötzlich ging es ganz schnell. Der Stormtrooper sprang aus der Ecke und streckte ihn mit einem Schlag gegen den Hals nieder. Der Angreifer kniete sich über ihn und presste seine Hände an Felix Ballhorns Luftröhre, während er ihn mit den Beinen fixierte. Das Licht an der Kamera leuchtete unbeeindruckt rot.

    Ballhorn versuchte zu schreien. Er brachte keinen Ton heraus. Benommen schlug er mit Armen und Beinen nach dem Eindringling. Er zappelte und wand sich. Wenn er das überleben sollte, dachte er in seinen letzten Atemzügen, bekommt das Video seines Todeskampfes sicherlich millionenfache Klicks. So etwas ist Gold wert. Zum Glück nimmt die Kamera alles auf.

    „Hey Leute, hier ist euer Herr Schmitz. Ihr glaubt nicht, was mir bei meinem Videodreh passiert ist. Plötzlich kommt diese Gestalt aus dem Nichts. Der Freak ist in meine Wohnung eingebrochen und hat sich in meinem Stormtrooper-Kostüm hinter mir versteckt. Dann kam er angeschlichen. Stellt euch das mal vor! Seltsam nur, wie er reingekommen ist. Die Wohnung war verschlossen. Na ja, jedenfalls hat er mir eins verpasst. Zack, lag ich auf dem Boden. Ich hatte Todesangst, das könnt ihr mir glauben! „Brutaler Angriff auf Videoblogger, könnte er es betiteln, oder „Killer im YouTube-Zimmer". Vielleicht ließe sich sogar noch ein Produkttipp unterbringen. Einbruchssichere Schlösser oder Pfefferspray, dachte er, bis ihm die Sinne schwanden und er nach mehrmaligem Zucken regungslos auf dem Boden erstarrte. Der Kostümierte lockerte den Griff, streifte die Handschuhe ab und fühlte nach dem Puls des Internet-Stars. Felix Ballhorn war tot.

    02 Blumen

    Das Ladenfenster der Schillergasse 23 war dekoriert mit Farnen, Gummibäumen, Yuccas, Birkenfeigen, Orchideen und Kakteen, sodass man kaum hineinblicken konnte. Die vom Rost zerfressene Hausnummer hing schief daneben. Auf einem bohnengrünen Schild stand in abgewetzten Lettern: „Blumen- und Pflanzenhaus Familie Rott. Wobei die Bezeichnung „Haus bei weitem übertrieben war, da es sich um einen einzigen Verkaufsraum mit angrenzendem Arbeitszimmer und Lager handelte. Auch von „Familie Rott" war lediglich eine vertrocknete Witwe übriggeblieben, die selten selbst im Laden stand, und den Verkauf ihrer schlecht bezahlten Aushilfe überließ. Wer immer sich in das Geschäft wagte, betrat eine üppige Oase, die mehr an ein Tropenhaus erinnerte, als an einen Blumenladen.

    Hanne Bergstrom platzierte fünf Rosen auf einem Bambusbrett und fuhr mit dem Messer über die Stiele. Mit einer beiläufigen Handbewegung warf sie einige Zweige, Gräser und Blätter zu den Blumen, genauso wie ein Koch, der Salz und Kräuter in seine Brühe schnippt. Sie schnürte die Blumen zusammen und präsentierte sie einem Mädchen vor dem Tresen.

    „Das ist ja ein Paradies hier", meinte die Kundin, ohne sich von der Ecke mit den Orchideen, Agaven, Jasminblüten und Magnolien zu lösen.

    „Stimmt. Das macht 18,50 Euro", sagte Hanne lächelnd. Sie zeigte gut gelaunt auf die zwei Messingdosen vor der Kasse.

    „Falls du was spenden willst. Die eine Dose ist für ein Schulprojekt in Tansania. Die andere ist für prekäre Blumenverkäuferinnen, die sich um das Pflanzenhaus hier kümmern. So ein Paradies ist schließlich auch immer bedroht."

    Hanne wickelte die Blumen in Papier, nahm das Geld und bevor die Kundin ging, warf sie einige Münzen in die Dose mit Hannes Namensschild, und in die Büchse daneben, auf die Hanne das Foto eines abgemagerten, schwarzen Babys geklebt hatte.

    Es schien, als schluckten die Pflanzen alles Lärmen, Brummen und Stinken der Stadt. Ein Duft von Blüten, feuchter Erde und tropfenden Blättern durchtränkte die Luft. Hanne war gern allein. Sie atmete tief ein, und die Gedanken stoppten für einen Moment. Sie war Ende zwanzig, hochgewachsen, hatte flachsblonde, schulterlange Haare, eine grotesk große Brille auf der schmalen Nase und wenn sie redete, warf sie ihre Stirn in Falten, um ihren Worten mehr Bedeutung zu unterstellen. Das Blumen- und Pflanzenhaus war ihre liebste Zuflucht. Während der Schichten vergaß sie die gescheiterten Bewerbungen nach dem abgebrochenen Studium. Die Enge ihrer Pärchen-Wohnung, die mit ihren auserzählten Ikea-Möbeln, überpinselten Schimmelflecken, geduckten Decken und dem falschen Mann auf der Couch, nichts als Stagnation versprach. Im Grün des Blumenladens erinnerte wenig an die Betonwelt vor dem Schaufenster. Sie zog einen Arbeitshocker heran und ließ sich auf die Sitzfläche fallen. Hanne trug ein einfarbiges Top, mit knielangen Jeanshosen, die ihre stoppeligen Beine entblößten. Sich die Körperhaare wachsen zu lassen, war für sie ein Statement. Eine Revolution im Kleinen.

    Eine „Eilmeldung" von 23 Toten vibrierte auf ihrem Smartphone. Ein Anschlag irgendwo. Enttäuscht schob sie das Gerät zurück auf die Kasse und starrte das erloschene Display an wie eine Leiche. Oder waren es 24 Tote gewesen? Sie hatte es schon vergessen. Hanne wusste, dass es unwahrscheinlich war, aber vielleicht hatte Herrn Schmitz ihre Idee ja gefallen. Sie versuchte sich vorzustellen, dass er ihr jeden Moment antworten würde und etwas ihre Leben wie Zahnräder ineinanderschob. Sicher hatte er ihre eindringliche, handgeschriebene Nachricht bereits aus seinem Briefkasten gefischt. Nur was, wenn er die Idee nicht verstand, quälte sie sich. Was, wenn die Formel als Witz im Internet verpuffen würde? Wie verlockend war es, neue Gedanken zu verspotten, wenn man selbst keine besaß! Als Absender des Briefes hatte sie ein Pseudonym verwendet und nur eine Mailadresse zur Kontaktaufnahme hinterlegt: Joinus@the-formula.info.

    „Meine Formel", murmelte sie und als sie aufsah, stand zu ihrem Erstaunen schon wieder jemand im Laden. Die Lichtschranke der elektronischen Klingel musste ausgefallen sein, weil sie den Mann nicht hatte kommen hören.

    Er war wenige Jahre älter als sie und unter den stoppelig abstehenden Haaren musterte sie ein zusammengekniffenes Augenpaar. Die Hände vergrub er in der Bauchtasche seines Kapuzenpullovers. Es schien Hanne, als reichten sich seine Finger hinter dem Stoff einen Gegenstand hin und her, dessen Konturen sich immer wieder dadurch abzeichneten.

    „Blumen", meinte er stockend.

    „Du verkaufst Blumen?"

    Hanne seufzte lächelnd. „Ne, wir machen hier Autoreparaturen. Das sieht man doch. Lass deinen Wagen einfach auf der Straße stehen und gib mir den Schlüssel. Ich fahre ihn gleich rein."

    Der Mann zeigte keine Regung. Nur seine Hände hörten auf in der Bauchtasche zu kramen, als müsste er über etwas nachdenken, das seine ganze Konzentration beanspruchte.

    „Ich wollte einen Strauß kaufen.", sagte er und zog die rechte Hand heraus, um auf die Blumenkübel am Fenster zu zeigen. Die andere Hand hielt er weiter unter seinem Pullover versteckt. Daneben drückte sich etwas durch die Tasche. Es besaß etwa die Größe eines Geldbeutels, doch war eher länglich und hatte unregelmäßige Ecken und Kanten.

    Hanne hüpfte von ihrem Hocker. Während sie zu den Kübeln mit Amaryllis, Rosen, Gerbera und Lilien steuerte, spürte sie, wie seine Blicke jede ihrer Bewegungen verfolgten. Auf ihrem Arm stellten sich die Härchen auf.

    „Guck, hier steht alles, was wir an Schnittblumen haben. Genau 15 verschiedene Sorten. Für wen soll der Strauß denn sein?"

    Er antwortete nicht und glotzte sie weggetreten an. Sein Kopf war etwas zu klein für den 1,92 Meter Körper, als hätten die Wachstumshormone kurz nach den Schultern keine Lust mehr gehabt den Menschen vernünftig zu Ende zu bauen. Seine Mimik war festgefroren in einem unentschiedenen Zustand zwischen Lächeln, Wut und ein bisschen Glückseligkeit.

    „Hallo? Was willst du denn für Blumen?"

    Sie wedelte mit der Hand vor seiner Nase, bis er aufschreckte und sich ein Grinsen abmühte. Es wirkte, als würde er eines der Smileys aus Chatprogrammen nachahmen.

    „Was ist das denn, was du gerade gemurmelt hast: Die Formel?" Sie bemerkte, dass die linke Hand in seinem Pullover zu zittern begann.

    „Willst du Blumen kaufen, oder warum bist du hier? Wie gesagt, eigentlich sind wir auch ein Autohaus. Das mit den Blumenkübeln ist nur Tarnung. Also ich könnte dein Auto …"

    Er entschuldigte sich und zeigte auf die gelben Chrysanthemen. „Vielleicht solche. Ist für meine Mutter. Sie liegt drüben im Krankenhaus und hat nicht mehr lange."

    Hanne mühte sich ein freundliches Verkaufsgesicht ab. Der Mann jagte ihr starkes Unbehagen ein. Sie konnte sich nicht genau erklären warum. Seine bloße Anwesenheit störte sie ungemein. Perverse Typen gab es ja genug, aber was sollte so einer in ihrem Blumenladen? Misslaunig pickte sie ihm aus den Eimern einen sommerlichen Strauß zusammen und eilte in den Arbeitsraum hinter dem Tresen, um einige Zweige und eine Strelitzie dazu zu stecken. Im Verkaufsraum sah sie ihn hin und her laufen, während sie das Grün um die Blumen steckte.

    „Es tut mir leid, aber…, rief er zu ihr hinein. „Du siehst einer Bekannten von mir ziemlich ähnlich. Wie heißt du denn?

    Sie band ein rotes Papier um das Bouquet und überreichte ihm den Strauß, den er behutsam mit der rechten Hand auf den Tresen legte, ohne die linke Hand aus der Bauchtasche zu nehmen. Anschließend drückte er mit der gleichen Hand einen Geldbeutel aus der Jeans. Er entdeckte die beiden beschrifteten Trinkgelddosen.

    „Meinen Namen kann ich dir leider nicht verraten. Ich bin Datenschützerin. Sie musste schmunzeln. „Und deine Bekannte kenne ich nicht.

    „Ich bin erst vor kurzem in die Gegend gezogen", meinte er.

    „Naja mein Lieber, in einem Blumenladen wirst du wohl keine neue Freundin kennenlernen", antworte Hanne und schnippte ihm die zwanzig Euro aus der Hand.

    „Wir sammeln für Kinder in Tansania. Und für den Blumenladen und seine Verkäuferin. 230 Euro haben wir schon. Davon kann man mindestens 30 Schulbücher kaufen. Also für die Kinder."

    Sie zeigte auf die zwei Messingdosen. Er nahm den Strauß und drehte sich noch einmal zerstreut nach ihr um, bevor er den Laden in Richtung Krankenhaus verließ. Dieses Mal surrte die elektronische Klingel, als seine Beine die Lichtschranke passierten.

    „Geiziges Arschloch", dachte Hanne. Sie zog einen Flachmann unter dem Tresen hervor und nahm einige Schlucke, um wieder gute Laune zu bekommen.

    03 Visionen

    Es war eine dieser schwarzen, dampfigen Nächte, als Kommissar Wiebke zum Tatort gerufen wurde. Ein Toter, wahrscheinlich erdrosselt, die Eltern hätten ihn gefunden. Vor dem Haus sah Wiebke seinen neuen Partner im Blinklicht der Streifenwagen. Paul Zweideck, ein kräftiger Bursche, frisch von der Hochschule der Polizei hatte entweder aus Höflichkeit gewartet oder weil er sich nicht alleine nach oben traute. Sie würden sich ausgezeichnet verstehen, hatte der Chef gemeint und jeden Vorwurf an Kommissar Wiebke ausgespart. Was konnte er auch dafür, dass sich seine Partner so häufig mit ihm zerstritten?

    „Dann wollen wir uns den armen Teufel mal angucken", Wiebke reichte Paul die Hand und stampfte nach oben. Ein süßlicher Gestank drang ihm entgegen, ein Geruch, der einem den Atem nimmt, bei dem sich die Lunge vor Ekel zusammenzieht und weigert, die Luft in sich einzusaugen. Diesen Geruch brauchte er niemandem erklären.

    „Der liegt hier schon länger", raunte er Paul auf der Treppe zu, um trotzdem irgendetwas zu sagen. Kommissar Wiebke konnte sich genau erinnern, wann er den Geruch zum ersten Mal in der Nase hatte. Sein erster Mordfall. Wie die Jahre vergingen. Heute hatte er graue Schläfen, eine kreisrunde Brille und eine sich ausbreitende Glatze auf dem Hinterkopf. Nur groß und hagerer war er noch immer.

    Der arme Teufel lag mit aufgerissenen Augen auf dem Boden, sein Hals war blau geschwollen. Die Kollegen schossen Fotos und nahmen Abzüge. Wiebke wartete vor der Tür und machte Anweisungen. Paul beobachtete abwechselnd ihn und die Leiche, die man durch den offenen Wohnungsflur sehen konnte, so als müsse er sicher gehen, dass der Tote sich nicht plötzlich wieder bewege.

    „Man gewöhnt sich daran. Es zeigt einem, dass man gebraucht wird." Die letzten Worte hätte Kommissar Wiebke am liebsten wieder zurück in seinen Mund gezogen. Es war nicht gut, im Beruf zu viel von sich selbst Preis zu geben. Paul schien zu sehr mit den eigenen Gedanken beschäftigt und nickte abwesend. Die Welt war wieder einmal im Chaos versunken. Und er, Kommissar Wiebke, musste ihr die Ordnung zurückbringen. Welche Irrungen des Lebens wohl dazu geführt hatten, dass dieser arme Teufel hier tot in seinem Schlafzimmer verrottete, dachte er.

    „Sein Abschiedsbrief? Der Kollege der Spurensicherung hielt ihm einen in Plastikfolie eingepackten Zettel vors Gesicht. „Dachten wir auch erst. Aber der ist nicht von ihm. Der Brief lag auf seinem Schreibtisch. Er muss ihn kurz vor seinem Tod gelesen haben. Ziemlich verrückter Quatsch steht da drinnen. Ist wahrscheinlich von einem Fan.

    „Habt ihr den Briefumschlag noch?, schaltete sich Paul ein. Wiebke sah ihn verwundert an. „Na den Briefumschlag! Guckt mal im Müll nach. Vielleicht brauchen wir seine Adresse.

    Wiebke zuckte nachgiebig mit den Achseln und der Kollege im Schutzanzug verschwand zurück in der Wohnung. Er wollte Paul nicht entmutigen. So war er schließlich auch einmal gewesen, forsch und voller Tatendrang. Der Kommissar hielt sich den Brief nah vor die Augen, um die Überschrift zu entziffern: „Die Formel. Mit künstlicher Intelligenz in eine bessere Welt."

    Die Taschenlampe funkelte über den Beton der Landstraße. 1000 Lumen. Hanne bog ihre Hand hinauf und das Licht fiel in eine Gruppe magerer Fichtenstämme. Ob hier der Wald beginnt, überlegte sie und stolperte in Richtung der Bäume. Der Seitenstreifen reflektierte signalweiß, durchbrochen von ein paar blutroten Tropfen, die hinunter die Straße führten. Sie folgte der Spur. Die Lampe wackelte hin und her, und so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte das Zittern ihrer Hand nicht beruhigen. An den Rändern des schmalen Lichtkreises war es stockfinster. In ihrer Angst lauerten überall dort, wo die Taschenlampe nicht leuchtete, Raubtiere, Mörder und Vergewaltiger, die nur darauf warteten, sie anzufallen. Zwar konnte sie einen Teil ihrer Umgebung besser wahrnehmen, doch die restliche Welt verschwand in einem undurchdringlichen Schwarz. Sie beschloss die Taschenlampe auszuknipsen und rieb sich die weißen Flecken aus den Augen. In der Ferne hörte sie Rufe. Sie tat ein paar Schritte, die Arme hielt sie vor sich, ohne zu wissen wohin. Sie fühlte sich wie gefangen in einer fremden Egoperspektive, vielleicht aus einem anderen Menschenleben, als sei ihr eigentliches Wesen weit entfernt von den Schatten dieses Waldes. Nur wo befand sie sich? Die Rufe kamen näher. Doch da war noch etwas anderes: Ein Keuchen wie von einem Tier. Irgendwo im Gebüsch. Sie verließ die Straße und tastete sich den Straßengraben hinab. Inzwischen konnte sie die flauen Konturen ihrer Umwelt schemenhaft erkennen. Direkt vor ihr lag etwas im Moos und bewegte sich kaum merklich auf und ab. Sie holte die Taschenlampe hervor und das Licht stach ihr ins Gesicht. Ein Junge, kaum sechs Jahre alt, mit triefender Wunde am Kopf starrte ihr entgegen. Sein Ausdruck hatte etwas Liebevolles und zugleich Hoffnungsloses, Verlorenes, als wollte er alles auf einmal sagen, was das Leben so ausmachte. Von seinen Pupillen floss es die Wangen hinunter, während ihm das Blut über die Stirn strömte und in den Waldboden sickerte, zu den Würmern und Wurzeln. Es war meine Schuld, dachte sie. Die Taschenlampe fiel ihr aus der Hand und sie fing an zu rennen, so schnell sie konnte, bis zwei kalte Arme nach ihr packten. Hanne versuchte sich loszuschlagen. Der Griff um ihre Hüften ließ nicht locker.

    „Komm zu dir, Hanne!"

    Die Stimme redete weiter, bis sie aufhörte zu kämpfen und erschöpft um Atem rang. Als sie die Lider öffnete, erkannte sie den Kühlschrank wieder, die Plastikstühle, den Metalltisch, den Blumenkalender und Clemens. Er schob sie vorsichtig auf einen Stuhl und setzte sich in seinem gemusterten Schlafanzug daneben.

    „Du machst Sachen, Hanne, sagte er und zwang ihr einen Kuss auf den Mund. Es schmeckte meeresbitter. Sie schlug benommen nach seinem Gesicht. „Vorsicht, du fällst noch vom Stuhl, lachte Clemens schwach. „Ich dachte, das mit dem Herumlaufen wäre vorbei."

    Am nächsten Tag kämpfte sich Hanne Bergstrom trotz Kopfweh und Krämpfen im Unterleib zum Frühstückstisch und schlürfte den Kaffee mit Sojamilch, den ihr Clemens aufgebrüht hatte. Sie vertiefte sich schweigend in ihren Laptop, und ignorierte seine Fragen nach dem Abendessen – „wir könnten doch Couscous-Salat machen!" – bis er sich beleidigt aufs Sofa verzog.

    „Die erste Konferenz der Formel, hieß die Überschrift ihres aktuellsten Textes. Der Artikel hatte noch immer keine Kommentare, doch ihr Mail-Programm listete mehrere neue Nachrichten auf. Zu ihrer Überraschung hatten sich über Nacht zehn Personen anonym für das erste Treffen ihrer Gruppe am nächsten Tag angemeldet. Sie googelte gerade nach schlecht besuchten Kneipen in der Nähe, die sich als mögliche Treffpunkte eignen könnten, als ihr Chatprogramm aufleuchtete, mit einer Nachricht von „Deroga17.

    „Hallo Kämpferin."

    „Hallo", schrieb sie zurück, ohne auf die ungewöhnliche Ansprache des fremden Profils einzugehen.

    „Hab deine Seite durchforstet, schrieb der Nutzer weiter. „Spannende Ideen hast du. Willst du die Konferenz morgen in Berlin machen?

    Sie schickte einen Daumen nach oben. „Wer bist du denn, Deroga?", schrieb sie hinterher.

    „Ich komm mal zu dem Treffen. Dann lernen wir uns kennen. Schreib mir wo und die genaue Uhrzeit, antwortete der Nutzer nach einer Weile. „Am besten wäre etwas Abgeschiedenes, ohne Überwachung, ohne Polizei. Und Mittag passt bei mir gut. Deroga hängte einen Link an die Nachricht. „Vielleicht ja dort?"

    „Ich veröffentliche drei Stunden vorher die Koordinaten. Kannst du alles auf dem Blog nachlesen."

    Sie tippte einen zwinkernden Smiley in das Chatprogramm.

    „Alles klar, antwortete Deroga. „Und zu deiner Frage nach meiner Person: Ich bin ein Freund. Wenn die Polizei gleich kommt, darfst du ihnen nichts von mir erzählen.

    Hanne hackte Fragezeichen in ihre Tastatur, als die Wohnungsklingel hell läutete. Sie hörte Clemens, der aus dem Wohnzimmer in den Flur trottete.

    „Die Leute sind nicht immer die, für die sie sich ausgeben", schrieb der Nutzer zurück, bevor er offline ging.

    Deroga17, murmelte Hanne. Sie hatte diesen Namen noch nie gehört. Zögernd klickte sie auf den Link in der Nachricht. Es erschien eine Fotogalerie des verlassenen Instituts für Anatomie, samt Hörsaal mit Bänken, Pulten und Tafel. Sie drückte auf die Satellitenbilder. Gleich neben dem Botanischen Garten, in einem der gepflegtesten Viertel der Stadt, verbarg es sich hinter einer Mauer aus Unkraut. Es war perfekt.

    „Hanne?, rief Clemens. „Es ist für dich!

    An der Wohnungstür standen zwei Polizisten. Als sie Hanne entdeckten, stoppte das Gespräch.

    „Kommissar Wiebke, angenehm."

    Ein hagerer Mann in seinen frühen Sechzigern reichte ihr die Hand. An seinem rechten Handgelenk trug er eine Bandage, als quäle ihn eine Sehnenscheidenentzündung, wie einen Büroarbeiter.

    „Dürfen wir reinkommen? Bevor Hanne etwas erwidern konnte, bat Clemens die Kommissare herein. Sie versetzte ihm einen Tritt. „Was soll das? Ich will die nicht in der Wohnung, zischte sie ihn an. Die Beamten waren schon vorgegangen. Sie setzten sich an den Küchentisch und Hanne folgte ihnen. Der jüngere von beiden wich ihren Augen aus und blähte seine Brust auf, um etwas selbstbewusster zu wirken. Er hatte sich als Paul Zweideck vorgestellt, vertiefte sich sogleich in sein Notizbuch und beobachtete die Situation, ohne etwas zu sagen.

    Kommissar Wiebke lächelte Hanne gütig an, als hätte er in seinen Berufsjahren schon alles erlebt und wüsste genau, wie sie sich fühlte und warum sie ihre Hände gegeneinander rieb. Vielleicht arbeitete er tatsächlich meistens im Büro, überlegte Hanne. Möglicherweise war er einer, der kaum noch vor die Tür ging und seine Fälle am Computer und in Verbrecherdatenbanken löste. Oder er saß deshalb so viel vor dem PC, weil sein Einsatzgebiet im Netz lag. Cyberkriminalität. „Die Polizisten sind nicht die, für die sie sich ausgeben", hatte Deroga geschrieben. Hanne spürte wie ihr kalt wurde. Clemens kochte stumm das Wasser für den Kaffee und begann klimpernd in den Schränken nach Filtern, Pulver und Tassen zu wühlen.

    „Ganz schön frisch für Anfang Mai. Ich sehe ja, dass sie sich schon für den Sommer angezogen haben mit ihren Shorts", begann Kommissar Wiebke mit einem der Eröffnungssätze seiner Verhörtaktik, die den Verdächtigen in ein lockeres Gespräch verwickeln sollten. Hanne antwortete nicht. Sexistisches Arschloch, dachte sie.

    „Wissen Sie, warum wir hier sind?", fuhr der Kommissar fort.

    „Bei allem Respekt, mein lieber Herr Wachmann. Sie wissen also selbst nicht, warum Sie hier sind. Wollten Sie einfach mal einen Gratis-Kaffee bei mir abstauben und mich mit Kommentaren zu meinem Outfit langweilen, oder wie muss ich das verstehen?", entgegnete sie.

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