Familie, Lebensgefühl und Gesundheit: Kindeswohl und Elternwohl zwischen Familienzerrüttung und Patchwork
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Über dieses E-Book
Welche Anforderungen müssen besonders in komplexen Familienstrukturen erfüllt sein, damit ein positives Familiengelingen mit einem ausbalancierten Familienklima möglich ist?
Sebastian Viertel
1978 in Freiberg / Sachsen geboren.
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Buchvorschau
Familie, Lebensgefühl und Gesundheit - Sebastian Viertel
Familie, Lebensgefühl und Gesundheit
Titelseite
Familie im Wandel der Zeit
Familie heute – Fakten zu ausgewählten Schwerpunktthemen
Trennung, Scheidung, Familienzerrüttung
Familienpsychologie
Bindung und sozial-emotionale Entwicklung
Die Rolle der Familie für die Entwicklung der Kinder
Familienzerrüttung aus verschiedenen Perspektiven
Familienzerrüttung und Kindeswohlgefährdung
Rechtsgrundlagen
Zweit-, Stief- und Patchwork-Familien als Versuche der Schadensbegrenzung nach vollständiger Familienzerrüttung
Bedeutung der Kommunikation
Das biopsychosoziale Modell und mögliche Auswirkungen von Familienzerrüttung auf die Entwicklung und Gesundheit
Untersuchung zum Zusammenhang Scheidung und Depression
Wenn Scheidung weh tut
Scheidung muss nicht wehtun
Literatur
Impressum
Sebastian Viertel
Familie, Lebensgefühl und Gesundheit
Kindeswohl und Elternwohl zwischen Familienzerrüttung und Patchwork
Familie im Wandel der Zeit
Bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts war der primäre Wirtschaftssektor das maßgebliche wirtschaftliche Tätigkeitsfeld der Menschen in Mitteleuropa. In dieser vorindustriellen Zeit waren Landwirtschaft, Handwerk und Hausindustrie die wesentlichen Produktionsformen. Die Einheit von Wohnstätte und Arbeitsplatz charakterisierte somit auch einen Großteil der Familienstrukturen der damaligen Zeit (Bender, Fettköter, Hirt, Kümmerle, & von der Ruhren, 2002). Innerhalb der Mehrgenerationenfamilie wurde Handwerk von Generation zu Generation weitergereicht und Ehepartner waren gleichermaßen in Produktionsprozesse eingebunden und ihre Existenz hing nicht selten von reibungslosen, sich gegenseitig ergänzenden Arbeitsprozessen innerhalb der Großfamilie ab (nach Sander, 1999). Beispielhaft sei an dieser Stelle die Tuchmacherei genannt. Diese wurde auf Basis einheimischer Rohstoffe, wie Schafwolle und Leinen, betrieben. Die Tuchmacherei gilt als Vorläufer der Textilindustrie. Diese wiederum wird gern als die Mutter der Industrie bezeichnet, da sie in zahlreichen Ländern am Beginn der Industrialisierung stand. Als sogenannte Wachstumsindustrie im 19. Jahrhundert, bezeichnet man sie sogar als den Motor der Industrialisierung. Um 1850 dominierte die Textilindustrie, mit einem Anteil von rund 50% der Beschäftigten, den sekundären Wirtschaftssektor (Bender et al., 2002). Im Zuge der industriellen Revolution vollzog sich mehr und mehr die Trennung von Arbeit und privatem Leben. Die ökonomische Bedeutung von Groß- oder Mehrgenerationenfamilie nahm, parallel mit der Zahl familiärer wirtschaftlicher Kleinstbetriebe, ab. Die Pflichten von Frau und Mann wurden noch intensiver unterschiedlichen Lebens-bereichen zugeordnet. Auf Grundlage der bereits bestehenden Annahmen unterschiedlicher Geschlechtercharakteristika kristallisierten sich zunehmend die typischen Rollenverteilungen innerhalb der Familie heraus, bei der die Frau überwiegend für hauswirtschaftliche Arbeiten und das harmonische Familienleben zuständig war, während der Mann die Existenzsicherung der Familie durch aushäusige Arbeitstätigkeit übernahm (nach Sander, 1999). Als Ursprünge dieser Rollenverteilung, die heute teilweise als altmodisch oder unmodern wahrgenommen wird, können wahrscheinlich die biologischen Grundlagen von Mann und Frau angenommen werden. Demnach hat es die Natur so eingerichtet, dass, nach der körperlich-geschlechtlichen Vereinigung und der damit verbundenen Befruchtung der Eizelle der Frau durch die Samenzelle des Mannes, die Frau Kinder gebären kann und den Säugling stillt. Der Mann übernahm die Aufgaben des Schutzes der Familie und der Sicherung des heimischen Nestes sowie der Nahrungsbeschaffung. Diese vermeintlich steinzeitlichen Rollenstrukturen der Kernfamilie haben sich im Laufe der Zeit mehr und mehr gewandelt und heute sind die einst auf natürlichen Grundlagen basierenden Rollenverteilungen in vielerlei Hinsicht flexibler, weniger statisch und zeitgleich anspruchsvoller und herausfordernder geworden. Abgesehen von der industriellen Entwicklung, war die Familie immer auch ideologischen Einflüssen ausgesetzt, wie beispielsweise denen der Romantik oder später dem bürgerlichen Eheideal (nach Sander, 1999). Ab den 1960er Jahren haben nicht-eheliche Lebensgemeinschaften und alternative Familienformen in ihrer Akzeptanz zugenommen (Sander, 1999) und heute haben sich inzwischen, neben dem klassischen Mutter–Vater–Kind(er) Modell, mannigfaltigste Familienformen herauskristallisiert. Die Familie als Institution innerhalb der Gesellschaft muss, neben den zahlreichen innerfamiliären Anforderungen, die insbesondere ein Familienleben mit Kindern in sich birgt, einer Vielzahl von außerfamiliären Herausforderungen gerecht werden. Als aktuelle Probleme seien hier zunächst beispielhaft die prekäre Beschäftigung sowie fehlende Betreuungsplätze genannt. Entwicklungen wie die Industrie 4.0, welche eine weitere Umgestaltung der Arbeitswelt durch den weiteren Ausbau der Automatisierung befeuern wird, werden sehr wahrscheinlich ebenso ihre Spuren in den Familien hinterlassen, wie alle vorangegangenen Entwicklungen es bereits ebenfalls taten. Je komplexer die Gesellschaft und je mehr neue Fertigkeiten und Fähigkeiten sie von ihren Mitgliedern verlangt, desto stärker differenzieren sich auch die gesellschaftlichen Strukturen (Minuchin, 1992, S. 61). Die Familie oder die Ehe als Institution hat sich in den vergangenen 200 Jahren stets den Veränderungen ihrer Umwelt und den damit verbundenen Anforderungen angepasst. Und obwohl die Bedeutung der Familie immer eine ganz individuelle Angelegenheit geblieben ist, haben sich die familiären Strukturen während des genannten Zeitraumes scheinbar stark verändert. Mit den sich ständig wandelnden Rahmenbedingungen der Gesellschaft, werden auch die individuellen Erwartungen, die an die Familie gestellt werden, beeinflusst. Minuchin (1992) folgend, dienen die Funktionen der Familie im Wesentlichen zwei unterschiedlichen Zwecken: nach innen gerichtete dem psychosozialen Schutz der Familien-mitglieder, nach außen gerichtet der Anpassung und Weitergabe der jeweiligen Kultur. Das klassische Familienbild wird inzwischen zum Teil als alte verstaubte oder konservative Missdeutung wahrgenommen und, ganz im Sinne der erwähnten individuellen Bedeutung von Familie, haben sich mannigfaltigste, familienähnlich Konstellationen herauskristallisiert, die für sich den Anspruch erheben, ebenfalls dem Begriff Familie gerecht werden zu können. Neben dem herkömmlichen Mutter-Vater-Kind(er) Modell und den Adoptivfamilien sind alleinerziehende Mütter und Väter, gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Ehen, Zweit- und Stieffamilien oder wie sie heut ganz modern bezeichnet werden: Patchwork Familien, ganz alltägliche Erscheinungen geworden. Wie wir sehen, ist die Definition von Familie immer subjektiv geprägt. Familie wurde und wird immer wieder durch individuelle, subjektive Werte und Vorstellungen neu entstehen. Was auch im Zeitalter der Globalisierung gleich geblieben ist: die Familie stellt, nach wie vor, das kleinste soziale Gefüge einer jeden Gesellschaft, unabhängig von Rasse oder Ethnie, Religion und politischer Weltanschauung, dar. Und gerade in der Psychologie wird immer wieder hervorgehoben, wie wichtig diese sozialen Ressourcen sind, dass der Mensch ein Herdentier ist, das sozial-emotionale Kompetenzen nicht nur im privaten sondern auch im beruflichen Bereich von höchster Bedeutung und das soziale Kontakte und prosoziales Verhalten auch für die Gesunderhaltung des Menschen überaus wichtig sind.
Familie heute – Fakten zu ausgewählten Schwerpunktthemen
Kulturelle, gesellschaftliche, politische und auch religiöse Rahmenbedingungen sind für Familien immer maßgebend und beeinflussen zudem die Arbeit mit Familien und Kindern. Diese weit gefasste Formulierung soll nicht die individuelle Verantwortlichkeit der Eltern für ihre Kinder oder die Verantwortung der Eltern für ihr eigenes Wohlergehen schmählern, vielmehr soll dies verdeutlichen, dass Familie, Elternschaft und Erziehung in steter Wechselwirkung mit einem breiten Spektrum an kulturellen, gesellschaftlichen, politischen und religiösen Einflussgrößen stehen und das eine Betrachtung von Familie, Elternschaft und Erziehung losgelöst von diesen Elementen nahezu unmöglich ist. Gleiches gilt dementsprechend für die Gestaltung präventiver Maßnahmen zur Unterstützung in der Familienplanung oder werdender Eltern sowie für beratende oder Interventionsmaßnahmen im Trennungs- oder Scheidungskontext. Aktuell finden wir einerseits ein scheinbar stark ausgeprägtes Bewusstsein um die Bedeutung und Wichtigkeit sozialer Aspekte des menschlichen Zusammenlebens, wie z.B. soziale Ressourcen, Kommunikation und prosoziales Verhalten. Insbesondere die Zusammenhänge dieser Variablen mit der physischen und psychischen Gesundheit sind längst keine Geheimnisse mehr. Weiterhin gibt es inzwischen zahlreiche Programme, die präventive Unterstützung bieten, etwa für junge werdende Eltern oder für Eltern mit Kindern im Vorschulalter. Deutschlandweit, vor allem in den Großstädten, stehen zudem Anlauf- und Beratungsstellen für Familien zur Verfügung, die ganz individuelle Interventions-Maßnahmen bereithalten, wie etwa für Familien mit Kindern, in denen beide oder ein Elternteil alkoholkrank oder von anderen, illegalen Substanzen abhängig sind. Denn zum anderen können wir mit zunehmender Tendenz, neben dem oben beschriebenen, scheinbar stark ausgeprägten Bewusstsein über die Zusammenhänge sozialer Aspekte einerseits und dem menschlichen Wohlergehen andererseits, hohe Defizite und geradezu selbstzerstörerische Facetten innerhalb der Familien beobachten. Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, hat sich die Zahl der in Obhut genommenen Kinder und Jugendlichen seit 1995 mehr als verdreifacht.
Abbildung 1 Datenquelle: Statistisches Bundesamt (Destatis), Genesis-Online, Datenlizenz by-2-0;
www.govdata.de/dl-de/by-2-0; eigene Darstellung.
Laut Statistischem Bundesamt gab es im Jahr 2015 Deutschlandweit insgesamt 129.485 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls nach § 8a Absatz 1 SGB VIII. In knapp 45.000 dieser Verfahren wurde im Ergebnis eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. Im gleichen Jahr wurden 77.645 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen, gem. § 42 SGB VIII. Weiterhin geht aus dem Drogen- und Suchtbericht der Drogen Beauftragten der Bundesregierung des Bundes-ministeriums für Gesundheit hervor, dass eine besonders relevante Konsumentengruppe im Bereich Crystal Meth, konsumierende Eltern sind und das jedes sechste Kind in einer Familie mit mindestens einem suchtkranken Elternteil aufwächst und allein in Köln 2015 über 17.000 Kinder betroffen waren (Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Bundesministerium für Gesundheit, Juni 2016, S. 72-73). Bei diesen Zahlen ist ausschließlich die Rede von illegalem Methamphetamin. Aus dem gleichen Bericht geht weiter hervor, dass in Deutschland 2,65 Millionen Kinder bei suchtbelasteten Eltern leben. Wobei schätzungsweise 40.000 bis 60.000 dieser Eltern drogensüchtig sind. Alle anderen sind alkoholabhängig (Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Bundesministerium für Gesundheit, Juni 2016, S. 117). Dem aktuellen Drogen- und Suchtbericht 2017 ist auf Seite 83 zu entnehmen, dass „Studien zeigen, dass über 3 Millionen Kinder und Jugendliche – vermutlich deutlich mehr – mindestens einen suchtkranken Elternteil haben" (Klein, Thomasius, & Moesgen, 2017). Mehr als 3 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland werden von mindestens einem Alkohol- und/oder Drogenabhängigen Elternteil aufgezogen. Bereits in den Ende 2003 vereinbarten 10 Eckpunkten zur Verbesserung der Situation von Kindern aus suchtbelasteten Familien, spricht die Drogenbeauftragte der Bundesregierung von über 2,5 Mio. Kindern unter 18 Jahren in Deutschland, die mit mindestens einem suchtkranken Elternteil aufwachsen (Hinze, & Jost, 2006). Angesichts der steigenden Zahl der Kinder und Jugendlichen aus suchtbelasteten Familien (Abbildung 2) seit Ende 2003 bis 2017, über einen Zeitraum von 14 Jahren und somit über 3,5 Legislaturperioden hinweg, konnten durch politische Maßnahmen offenbar keine wirksamen Effekte erzielt werden.
Abbildung 2 Kinder und