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Vaticano
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eBook455 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

León Dupré verdient sein Geld als Autor von Büchern über Verschwörungstheorien. Nicht ganz freiwillig allerdings. Im Jahr 1999 hatte er seinen Job als Antiterror-Experte beim BND hingeschmissen, wie auch sein Freund Sean O'Brian bei der CIA. Beide waren zu dieser Zeit in Afghanistan als Kontaktpersonen von Osama bin Laden stationiert. Bin Laden hatte den beiden damals eine Videobotschaft übergeben, aus der hervorging, dass er detailliert informiert war von einem Terroranschlag, der als 11. September in die Geschichte eingehen sollte. Er bezichtigte in dem Video gewisse Kreise in Amerika und im Vatikan als die Drahtzieher. Mit Hilfe dieser Fakten wäre 9/11 zu verhindern gewesen. Doch sowohl beim BND als auch bei der CIA verschwanden die Videos auf mysteriöse Weise. Eine Reaktion gab es immerhin: Wenige Monate später, im September 1999, wird Osama bin Laden in seiner Festung Tora Bora von einem Kommando der Navy Seals ermordet. Die USA hielten seinen Tod jedoch streng geheim und machten nach den Anschlägen vom 11. September sogar offiziell Jagd auf ihn, Jagd auf einen Toten, der angeblich hinter diesem Terrorakt stecken soll. Wegen Recherchen zu seinem jüngsten Buchprojekt über eine bislang unbekannte Zelle der Illuminaten in Italien ist León in den Abruzzen unterwegs, als er von der Nachricht überrascht wird, Osama bin Laden sei soeben erschossen worden. Er weiß, dass Bin Laden bereits seit über zehn Jahren tot ist. Warum jetzt also diese fingierte Todesbotschaft? Soll sie nur ablenken von den aktuellen politischen Problemen der USA oder soll sie gar als Alibi dienen für einen bevorstehenden Terrorakt, der 9/11 noch in den Schatten stellen könnte? In den Bergen der Abruzzen stößt León Dupré bei seinen Recherchen tatsächlich auf ein Dorf mit dem Namen Illuminati und auf dessen geheimnisvollen Patriarchen, bei dem Vergangenheit und Gegenwart auf mörderische Weise zusammenfinden. Aus dem friedvollen Plan, ein Buch zu schreiben, wir ein tödliches Abenteuer für León.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum1. Jan. 2012
ISBN9783844210842
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    Buchvorschau

    Vaticano - Michele Boscarelli

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    „Osama Bin Laden ist tot. Das verlautete soeben aus dem Weißen Haus in Washington. Einer Spezialeinheit der Navy Seals gelang es ersten Meldungen zufolge mit Unterstützung des Auslandsgeheimdienstes CIA, den islamischen Terroristenführer in seinem Haus im pakistanischen Abottabad aufzuspüren. Bei dem anschließenden Feuergefecht wurde Bin Laden mit zwei Schüssen in Brust und Kopf tödlich getroffen. Damit geht die über ein Jahrzehnt dauernde Jagd auf den meist gesuchten Terroristen der Welt zu Ende." Der Sprecher des italienischen Senders RAI bemühte sich um einen hörbar unaufgeregten Tonfall, als er die Sensationsmeldung dieses Tages in den Abendnachrichten verlas.

    León drehte das Autoradio lauter und lauschte entsetzt und angewidert zugleich der Stimme des Nachrichtensprechers: „Wie aus dem Weißen Haus weiter verlautete, hatte es sich bei dem Einsatz um eine chirurgisch präzise Razzia eines kleinen Teams der Spezialeinheit gehandelt. Nachdem ein sofort durchgeführter DNA-Test eindeutig bestätigt haben soll, dass der Tote tatsächlich Osama Bin Laden ist, wurde sein Leichnam unverzüglich im Arabischen Meer bestattet."

    Es folgten die üblichen Verlautbarungen der Politiker. Einige gaben unverhohlen erfreute Kommentare ab, andere gratulierten dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama zu der gelungenen Aktion im Kampf gegen den internationalen Terrorismus. Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ließ mitteilen: „Israel ist nach der Liquidierung Bin Ladens in Freude mit dem amerikanischen Volk vereint. Und auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, Osama Bin Laden zu töten.

    León war fassungslos. „Jetzt geht das wieder von vorne los", murmelte er verärgert, während er seinen schneeweißen Audi R8 Spyder viel zu schnell in eine scharfe Rechtskurve zwang. Auf dem Weg in die kleine italienische Stadt Teramo war er in L’Aquila links abgebogen, hatte die Autostrada verlassen, um eine kleine, kurvenreiche Bergstraße zu erkunden, die über viele Umwege ebenfalls nach Teramo führte, weit weniger komfortabel allerdings.

    León hatte Osama Bin Laden gekannt. Er hatte ihn im Jahren 1999 zweimal getroffen, als Agent der Antiterroreinheit beim Bundesnachrichtendienst. Und wegen Bin Laden hatte León auch seinen Dienst beim BND quittiert. Ihm war der ganze Verein zu verlogen, zu „diplomatisch" geworden. León hatte ein paar Jahre zu lang gebraucht, um zu merken, dass es bei seiner Arbeit nicht um Wahrheit ging, sondern lediglich um die richtige Nachricht zur richtigen Zeit. Wahrheit war gegenüber dem diplomatischen Timing ein Luxusgut, auf das beim BND und im Bundeskanzleramt keiner wirklich Wert legte. Das wurde León erneut schmerzlich bewusst, als er die Nachricht vom angeblichen Tod Bin Ladens im Radio hörte. Denn dass Osama zwar ein Terrorist war, der aber nichts zu tun haben konnte mit den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001, das wusste keiner besser als León. Denn 2001 war Osama Bin Laden bereits zwei Jahre tot.

    * * *

    Die Sonne verabschiedete sich allmählich mit einem rötlich-gelben Farbenspiel hinter der bergigen Landschaft der Abruzzen, die kargen Waldstreifen rasten auf der engen Straße links und rechts an León vorbei und er brauchte seine ganze Konzentration, um die abenteuerlichen Kurven der löcherigen Provinzstraße richtig einzuschätzen, als das Klingeln des Handys León aus seinen Gedanken riss. Er ging etwas vom Gas und drückte auf den Knopf der Freisprechanlage.

    „Ist da Beethoven?, meldete sich eine tiefe männliche Stimme. León erstarrte. „Wer spricht da?

    „Ich habe eine vertrauliche Nachricht für Beethoven", fuhr der Anrufer ungerührt fort, als hätte er die Gegenfrage nicht gehört.

    Beethoven war Leóns Codename gewesen während seiner Zeit bei der Bundeswehr und beim Nachrichtendienst. Weil er als Jugendlicher eigentlich Pianist werden wollte, hatte sein Chef bei der Bundeswehrspezialeinheit KSK, Brigadegeneral Karl Waldmann, ihm in Anlehnung an die gleichnamige Figur aus der amerikanischen Comicserie „Peanuts" diesen Namen verpasst, den er fortan nicht mehr loswerden sollte.

    Weil die Fahrgeräusche störend laut waren, brachte León seinen R8 mit quietschenden Reifen und nicht gerade elegant am Straßenrand zum Stehen und stellte den Motor ab.

    „Woher haben Sie diese Nummer?, versuchte es León noch mal mit einer Gegenfrage. Stille am anderen Ende. Plötzlich ein amüsiertes Gelächter. „Mensch León, alter Junge, kennst Du mich denn nicht mehr?

    „Sean? Sean, bist Du das?"

    „Na endlich. Ich habe langsam wirklich geglaubt, Du hättest mich völlig vergessen."

    Sean O’Brian war ein irischstämmiger Bär von einem Mann, ein Hüne von knapp zwei Metern, ein sommersprossiger Rotschopf mit einem gutmütigen Gesicht und in den Jahren beim BND ein guter Freund für León geworden. Ebenso wie León war O’Brian bis 1999 in Afghanistan stationiert, als Verbindungsmann der CIA. Über ihn kam auch Leóns Kontakt zu Osama Bin Laden zustande. Und auch Sean O’Brian hatte 1999 nach seinem letzten Einsatz am Hindukusch die „Firma" nicht ganz freiwillig verlassen.

    „Hast Du schon Nachrichten gehört?", fragte Sean. Offensichtlich war er ebenso entsetzt von der Meldung wie León.

    „Klar. Ich denke, unser Lieblingsterrorist muss wohl wieder auferstanden sein."

    „So sehe ich das auch, bemerkte Sean. „Ich weiß zwar noch nicht, welche Absicht hinter dieser Falschmeldung steckt. Aber ich fürchte, da kommt eine ganz große Sauerei auf uns zu. Gott sei Dank geht das uns beide nichts mehr an.

    Sean lachte, aber es klang nicht überzeugend. Wie León war auch Sean O’Brian aus Idealismus zum Geheimdienst gegangen, in der Überzeugung, seinem Vaterland aufrichtig dienen zu können. Doch diese Überzeugung hatte man ihm schnell ausgetrieben.

    „Hör mal, León, wir sollten uns treffen. Was meinst Du? Seans Stimme klang mit einem Mal wieder etwas heller. „Ich bin für ein paar Tage in Venedig, fuhr er fort, „und Du bist ja auch gerade in Italien unterwegs . . . kurz hinter L’Aquila, wie ich sehe."

    „Woher zum Teufel weißt Du das?, unterbrach ihn León, „und woher hast Du eigentlich meine neue Handynummer?

    „León, León, hast Du vergessen, für wen ich gearbeitet habe?"

    León kam sich in der Tat etwas dumm vor ob der naiven Frage und verzichtete kleinlaut auf die Antwort.

    „Okay Sean, gerne. Wie wäre es mit morgen?"

    „Passt mir gut. Und wo?"

    „Auf einen Bellini um 15 Uhr?"

    „Roger", meinte Sean lakonisch. Beide wussten ohne viel Worte verlieren zu müssen: Für den, der auf sich hält, gibt es nur einen Ort, wo man stilvoll seinen Bellini trinken konnte. In Harrys Bar in der Calle Vallaresso 1323 in Venedig. Sie waren oft zusammen dort gesessen und hatten in der legendären Bar am Canal Grande manchen Bellini vernichtet.

    „Bis morgen dann", erwiderte León, beendete das Gespräch und gab seinem Sportwagen wieder die Sporen.

    Harrys Bar ist nur ein paar Schritte vom Markusplatz entfernt und hat ihren Namen von dem Amerikaner Harry Pickering, der das Lokal 1931 zusammen mit seinem Freund Giuseppe Arrigo Cipriani gegründet hatte. In den 1950er Jahren wurde die Bar dann vom internationalen Jet-Set entdeckt. Stammgäste wie Truman Capote, Orson Welles und Ernest Hemingway ließen die Preise bis ins Absurde klettern. Hemingway verewigte sie sogar in seinem Roman „Über den Fluss und die Wälder". Und der Bellini dort, eine Mischung aus Prosecco und Pfirsichmark, war nicht nur von sensationellem Geschmack, sondern Pflichtgetränk für jeden, der einen Hauch Gastronomiegeschichte atmen wollte.

    Hier also würde León morgen seinen alten Freund Sean O’Brian treffen. León überlegte kurz. Über zehn Jahre waren vergangen, seit er zum letzten Mal etwas von Sean gehört hatte. Wie oft hatte er sich vorgenommen, ihn einfach mal anzurufen. Doch irgendwie hat es nie gepasst. Oder sollte nicht passen. Denn León wusste, dass jedes Gespräch mit Sean ihn unweigerlich an alte Zeiten erinnern würde, an Zeiten, an die er eigentlich nicht mehr erinnert werden wollte.

    León hatte abgeschlossen mit dem Bundesnachrichtendienst, mit Terrorabwehr, fragwürdigen Verhörmethoden, mit Staatsfeinden, die eliminiert werden mussten und vor allem mit einem Leben, das ihn gezwungen hatte, gegen sein Gewissen, gegen seine Überzeugung und auch gegen geltendes Recht zu handeln.

    Mitte 1999 hatte León, nachdem er von heute auf morgen aus der Antiterroreinheit in die Abteilung „SI", die Abteilung für Eigensicherung, versetzt worden war, den Dienst quittiert. Er wollte nicht für den Rest seines Lebens an irgendeinem Schreibtisch in Pullach Akten abstauben. Es war eine klare Strafversetzung gewesen, weil León etwas wusste, was er besser nicht gewusst hätte. Und er funktionierte, das spürte er schon länger, nicht mehr, wie ein willenloser und loyaler Agent zu funktionieren hat. Selbst im Dienst für das Vaterland schien León nicht mehr alles erlaubt. Und dass der Zweck alle Mittel heiligt, das war für ihn seit jeher nicht mehr als ein dummer Spruch gewesen.

    León war mit 24 Jahren als Berufssoldat von seiner Einheit, dem Kommando Spezialkräfte in der Graf-Zeppelin-Kaserne im schwäbischen Calw, in das Amt für Militärkunde versetzt worden. Das AMK ist nichts weiter als eine Tarninstitution für den Nachrichtendienst, über die der BND seine militärischen Mitarbeiter rekrutiert. Und auf Oberleutnant León Dupré hatte der Bundesnachrichtendienst schnell ein Auge geworfen. Er war ein bestens ausgebildeter Fallschirmjäger und Aufklärer, ein Spezialist in Terrorismusbekämpfung und Kommandokriegsführung geworden, ein kühler Analytiker, entschlossen und präzise. Vor allem aber war León, der mit unglaublicher Energie von Kindesbeinen an alle möglichen asiatischen Kampfsportarten trainiert hatte, im Laufe der Jahre zu einem absoluten Profi in Sachen Nahkampf geworden. Es gab keinen Kampfstil, den er nicht kannte, er war Träger des vierten Dan im koreanischen Taekwondo, ein Meister in Kung Fu, beherrschte Kendo, Karate und Ju Jutsu. Deswegen hatte man ihn nach seiner eigenen Ausbildung beim BND auch erst einmal als Nahkampf-Ausbilder eingesetzt, bevor er dann der Abteilung Internationaler Terrorismus und Internationale organisierte Kriminalität „TE" zugeteilt wurde. Hamas, Hisbollah, Al Kaida und Ansar al-Islam sollten von da an seinen Tagesablauf diktieren.

    * * *

    Seit dem Gespräch mit Sean tanzten die Gespenster der Vergangenheit wieder in Leóns Kopf und ließen ihn beinahe vergessen, warum er gerade durch diese gottverlassene italienische Berglandschaft fuhr. Seine Eltern, die beide bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, als León 30 Jahre alt war, hatten ihm ein stattliches Vermögen hinterlassen, was es ihm 1999 ermöglichte, Hals über Kopf den Dienst beim BND zu quittieren. Seit damals schrieb er Bücher, Sachbücher. Zunächst hatte er einige Wälzer über Kampfsport und Nahkampf geschrieben, die schnell zu Standardwerken für die Ausbildung bei Nachrichtendiensten und Sicherheitsorganisationen geworden waren. Danach hatte sich León darauf spezialisiert, populärwissenschaftliche Bücher über diverse Verschwörungstheorien zu schreiben, eine Reminiszenz an seinen früheren Job beim Nachrichtendienst und ein nahezu unendliches Gebiet. Im Augenblick schrieb er an einem Buch über den Ingolstädter Geheimbund der Illuminaten.

    In einer Facharbeit, deren Kopie er im Stadtarchiv von Ingolstadt gefunden hatte, war León an einer Passage hängengeblieben, in der er gelesen hatte, der Geheimbund der Illuminaten lebe in den italienischen Abruzzen noch heute weiter. Sogar ein ganzes Dorf soll nach ihm benannt sein. Trotz intensiver Recherchen konnte León ein Dorf dieses Namens indes auf keiner Landkarte finden und in keinem italienischen Ortsverzeichnis. Doch nur ein oberflächliches Gerücht? León wollte dem auf den Grund gehen, klang es doch so schön nach einer neuen Verschwörungstheorie. Doch obschon er seit sieben Tagen durch die Abruzzen streifte, fand er keine Bestätigung für diese Legende. „Wäre ein schöner Ansatz für mein Buch gewesen. Mal was wirklich Neues", dachte er. León war kurz davor, resigniert aufzugeben. Zumal ihm das Telefonat mit Sean und die Meldung über Osama Bin Laden irgendwie die Lust geraubt hatten, seine Suche mit der notwendigen Akribie fortzusetzen. Es war wahrscheinlich ohnehin nicht mehr als ein Mythos.

    „So what", dachte er, ließ sich von seinem iPod, der mit der Bang&Olufsen-Anlage des Fahrzeugs verbunden war, lautstark mit Ouvertüren von Rossini und Verdi berieseln und trat noch etwas entschlossener aufs Gas. Die zehn Zylinder heulten dumpf auf, dann drückte ihn die enorme Beschleunigung der 525 PS wohltuend in den Sitz. León liebte es, diese Kraft zu spüren und zu hören, den Wagen bis an die Grenze der Beherrschbarkeit zu beschleunigen. Immer wieder zirkelte er den Boliden mit abenteuerlichen Geschwindigkeiten durch die mit Schlaglöchern übersäten Kurven. Noch 40 Kilometer hatte er auf der kleinen, kurvigen Provinzstraße vor sich, bevor sie wieder in die gut ausgebaute Autostrada A24 nach Teramo mündete und dem anarchischen Fahrspaß ein jähes Ende bereiten würde. Aber hier gab es so gut wie keinen Verkehr, niemand kam ihm entgegen. León konnte die unglaubliche Kraft des Motors in allen Facetten genießen. Mit jedem Adrenalinschub trat er noch ein wenig energischer aufs Gas.

    Die einsetzende Dämmerung raubte León allerdings allmählich die notwendige Sicht für seine Beschleunigungsorgien. Eben wollte er, nachdem er ein kleines, scheinbar menschenleeres Dorf hinter sich gelassen hatte, wieder in die Eisen steigen, als sein rechter Fuß plötzlich voll auf die Bremse trat. León wusste nicht, warum er eine so massive Vollbremsung hingelegt hatte. So heftig, dass er sogar vergessen hatte, die Kupplung zu treten und nun mit abgestorbenem Motor mitten auf der Fahrbahn stand. Es war kein Mensch auf der Straße, kein Tier, kein Hindernis. León ärgerte sich über seine unerklärliche Fehlreaktion, während er mit dem Zeigefinger den Startknopf an der Mittelkonsole drückte und das Triebwerk sich mit sonorem Blubbern zurückmeldete.

    Gerade hatte er den ersten Gang in die Aluminium-Schaltkulisse gerammt, als sein Blick in den Rückspiegel fiel. Wäre es noch etwas heller gewesen, hätte man sehen könne, wie León blass wurde. Im roten Schein der Bremsleuchten las er das Ortsschild. Illuminati. Hastig ließ er das Seitenfenster herunter, streckte den Kopf aus dem Auto und schaute nach hinten, um das, was er da seitenverkehrt im Spiegel gelesen hatte, zu verifizieren. Kein Zweifel. Illuminati stand auf dem schmalen, rechteckigen Schild am Ortseingang.

    „Verdammt, dieses Dorf gibt es wirklich", stieß er halblaut hervor und hatte mit einem Mal alles vergessen, Osama Bin Laden, das Gespräch mit Sean, die lästigen Gedanken an seine Vergangenheit. Er war wieder ganz der Buchautor, den seine Spürnase und seine Hartnäckigkeit wieder einmal belohnt hatten.

    León wendete den Wagen auf der engen Straße und fuhr andächtig langsam in den Ort zurück. Nur in wenigen Häusern verrieten die beleuchteten Fenster, dass dort jemand wohnte. Ansonsten wirkte das Dorf auf seltsame Art ausgestorben, wie die achtlos zurückgelassene Kulisse für einen längst abgedrehten Film. Lediglich ein paar enge Gassen zweigten von der Durchgangsstraße ab. Kaum mehr als zwei-, dreihundert Menschen konnten hier wohnen in den alten Bruchsteinhäusern, an denen die Jahrhunderte spurlos vorüber gegangen zu sein schienen.

    León ließ seinen Blick über die schmucklosen Fassaden gleiten, während sein Wagen langsam ans andere Ende des Dorfes rollte. Es gab keine Geschäfte und, für italienische Dörfer völlig untypisch, keine Kirche in dem Ort. Lediglich aus einem Haus in der Mitte von Illuminati drang durch eine geöffnete Doppeltür Licht ins Freie. Darüber stand auf einer schlichten Holztafel das Wort „Bar". León parkte seinen R8 vor dem Lokal und programmierte vorsichtshalber noch den aktuellen Standort ins Navigationsgerät ein, bevor er ausstieg und auf die kleine Bar zusteuerte.

    Kein „Buonasera, kein „Salve war zu hören, als er mit einem Gruß den Raum betrat. Was er zu sehen bekam, nötigte León allerdings ein bewunderndes „wow" ab. Er stand in einem liebevoll mit Holzpaneelen getäfelten Gastraum, ausgestattet mit geschmackvoll-schlichten Naturholzmöbeln, einem wunderschönen Terrakotta-Boden und einem wuchtigen Tresen aus Sandsteinblöcken, bedeckt von einer Platte aus dunklem Edelholz.

    Es befanden sich kaum mehr als zehn Gäste in der Bar, allesamt ältere Männer in rustikaler Kleidung. Sie sahen aus, als wären sie gerade von der Arbeit in den Weinbergen zurückgekehrt. Lediglich der Mann, der am Tresen saß, war anders. Er kehrte León den Rücken zu. Sein weißes Haar war beinahe schulterlang, aber überaus gepflegt, seine Kleidung vornehm lässig. Er blätterte in einem großformatigen, ledergebundenen Buch und nahm keinerlei Notiz von León. Keiner der Gäste würdigte ihn eines Blickes. Nur der Mann hinter dem Tresen. Er mochte um die 35 Jahre alt sein, war mittelgroß und von drahtiger Statur. Er trug eine weiße Schürze über einer ausgewaschenen Jeans und einem dunkelblauen, kurzärmeligen Hemd. Seine schwarzen, halblangen Haare waren streng nach hinten gekämmt. Und sein Blick war alles andere als einladend.

    León trat an den Tresen und bestellte nach einem knappen, unerwiderten „Salve" einen Cappuccino. Der Wirt nahm die Bestellung wortlos entgegen, drehte sich um und begann, sich der Maschine an der hinteren Wand des Raumes zu widmen, einer fast neuen Faema, der Königin unter den Espressomaschinen. Als der Wirt León den Rücken zukehrte, bemerkte er an der Rückseite seines rechten Unterarmes die Tätowierung einer Eule, die den Betrachter mit großen, leeren Augen anstarrte. Jeder andere hätte sich wohl nur gewundert über das eigenartige Tattoo. León jedoch erkannte das Symbol sofort. Es war die Eule der Minerva, das Symbol des Illuminaten-Ordens.

    Das musste er unbedingt festhalten. León trat schnell ein paar Schritte zurück und zückte seine Nikon Coolpix, die er beinahe ständig mit sich trug. Beim Geräusch des ausklappenden Blitzes hielt der Wirt an der Maschine regungslos inne. Doch er hatte keine Zeit mehr sich umzudrehen, da hatte León seine Aufnahme auch schon geschossen. Der schwarzhaarige Schürzenträger fuhr herum, der weißhaarige Mann, der neben León am Tresen saß, schlug eilends sein Buch zu, in dem er eben noch scheinbar völlig versunken gelesen hatte.

    „No pictures" herrschte der Wirt León verärgert an, und das in einem wutentbrannten Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass er es ernst meinte und widrigenfalls auch einschreiten würde. Obwohl León noch immer den Mann hinter dem Tresen fixierte, spürte er, wie sich plötzlich die Blicke sämtlicher Gäste in seinen Rücken bohrten.

    Was war hier los? León konnte sich nicht erinnern, jemals unfreundlicher in einem Lokal empfangen worden zu sein. Gerade noch wollte er den Wirt unmissverständlich in die Schranken weisen, besann sich dann aber seines jahrelangen Deeskalationstrainings und steckte die Kamera mit einem kurzen Nicken wieder zurück in die Tasche. „Mein Cappuccino, bitte", sagte er ruhig. Der Wirt drehte sich wieder um. Nur das Brummen der Espressomaschine unterbrach die seltsame Stille in dieser eigenartigen Bar. Erst jetzt fiel León auf, dass keiner der Gäste auch nur ein Wort gesprochen hatte, seit er den Raum betreten hatte. Sie saßen nur da, unterhielten sich aber nicht. Sein Auftauchen war zweifelsohne der Grund dafür.

    Absichtlich unwirsch knallte der Wirt die Cappuccinotasse vor León auf den Tresen. „Ihr Cappuccino, raunzte er, nicht ohne ein energisches „Schnell hinterher zu schieben. León war hier unerwünscht. Um das zu bemerken, bedurfte es keiner ausgesprochenen Feinfühligkeit. Ein Gespräch beginnen zu wollen, was es mit dem Ort auf sich hat, war in dieser angespannten Situation völlig aussichtslos. Keiner würde auch nur ein Wort mit ihm wechseln. Auch nicht der Mann mit den weißen Haaren, der León immerhin interessiert beäugte, als der seinen Cappuccino trank. León sah ihm für einen kurzen Moment in die Augen, als er nach rechts blickte, musterte sein Gesicht, das gar nicht so alt war, wie die weißen Haare es hätten vermuten lassen. León schätzte seinen Nachbarn auf 65 Jahre. Sein markantes und trotz des Alters schönes Gesicht strahlte Bildung und Intelligenz aus, der Blick seiner stahlblauen Augen war stechend und hellwach. Ein Blick, dem nichts zu entgehen schien. Unter seinem weißen Leinenhemd zeichnete sich eine gut ausgebildete Muskulatur ab und seine Hände waren die eines kultivierten Mannes, der sein Brot nicht mit harter Arbeit verdient zu haben schien. Trotz seines Alters vermittelte die ganze Erscheinung, dass es sich um einen Mann handelte, der sich im Zweifelsfall zu verteidigen wusste.

    Auch der Weißhaarige musterte León ausgiebig, bemerkte den kraftvollen, sportlichen Körper, der das jahrzehntelange Training als Kampfsportler widerspiegelte, und versuchte, aus Leóns Gesicht zu lesen, was ihn hierher verschlagen haben könnte. Denn er sah nicht aus wie einer der üblichen Italienurlauber. Nein, dieser Mann war kein Tourist. Er machte aber auch nicht den Eindruck, als sei er per Zufall in diesen vergessenen Ort geschneit.

    Die beiden Männer checkten sich gegenseitig von oben bis unten ab, beinahe wie zwei Boxer, die sich auf diesem Weg ihre Chancen für einen Sieg ausrechneten. Dabei waren sie sich spontan eigentlich nicht unsympathisch. Aber keiner wollte als erster das Schweigen brechen. So wandte sich León wieder seinem Cappuccino zu, als sein Nachbar mit tiefer, ruhiger Stimme sagte: „Ich denke, Sie sollten jetzt besser gehen."

    León sah ihn verwundert an. Denn der Weißhaarige hatte das nicht auf Italienisch gesagt, sondern in perfektem, akzentfreiem Deutsch. Vermutlich, um León vor den anderen im Raum nicht zu kompromittieren. Woher wusste er überhaupt, dass León Deutscher war? Er sprach ein ebenso akzentfreies Italienisch wie sein Gegenüber Deutsch. Aber dies war wohl nicht die Stunde, um das zu klären. Er nickte dem Weißhaarigen freundlich zu, legte zwei Euro auf den Tresen und verließ grußlos die Bar. Als sein Audi dröhnend Richtung Ortsausgang rollte, glaubte León im Rückspiegel den Wirt zu bemerken, der ihm lange nachsah, nicht ohne dabei seine Autonummer zu notieren.

    Auch wenn der Besuch der Bar keinerlei Erkenntnisse gebracht hatte, die León für sein Buch hätte verwerten können, war er fasziniert von dem unerwarteten Intermezzo. Er würde wiederkommen. Und er würde erfahren, was es mit diesem Ort auf sich hat, der den ungewöhnlichen Namen der Illuminaten, der Erleuchteten, trug.

    * * *

    Der Orden der Illuminaten war eine im Mai 1776 in Ingolstadt gegründete Geheimgesellschaft. Adam Weishaupt, der Gründer, war Professor für Philosophie und Kirchenrecht an der Ingolstädter Universität, der ersten in Bayern. Sein Streben war es, durch Aufklärung und sittliche Vervollkommnung die Herrschaft von Menschen über Menschen überflüssig zu machen. Obwohl der Geheimbund bereits wenige Jahre später wieder verboten worden war, ranken sich bis heute Mythen und Legenden um die Illuminaten. Verschwörerischen Theorien zufolge lebt der Bund bis heute weiter und strebt mit Hilfe der Unterwanderung einflussreicher Positionen in Politik und Gesellschaft sowie durch zweifelhafte Machenschaften die Weltherrschaft an. All das eben, was man jeder Geheimgesellschaft nachsagt.

    Ein faszinierendes Thema und ein Fundus für aberwitzige Hirngespinste. Aber selbst die verbriefte Geschichte ist fernab aller Mythen durchaus bemerkenswert. Der Bund, dem berühmte Persönlichkeiten wie Adolph Freiherr von Knigge, Goethe und Johann Gottfried Herder angehörten, hatte eine den Freimaurern ähnliche Struktur. Seine aufklärerischen Ziele brachten den Illuminatenorden rasch in den Fokus der Machthaber, die den Geheimbund kurzerhand nach nur neun Jahren verboten. Goethe, so sagt die Legende, sei dem Orden nur beigetreten, um ihn, wie man heute sagen würde, undercover auszuspionieren.

    Auch wenn sich nach dem Verbot die Verfolgung der Ordensmitglieder in Grenzen hielt, kam es doch zu zahllosen Hausdurchsuchungen und Berufsverboten, der Gründer Adam Weishaupt musste aus Ingolstadt fliehen. Die Angst vor den Illuminaten war immerhin so groß, dass die Rekrutierung neuer Ordensmitglieder in Bayern unter Todesstrafe gestellt worden war. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert glaubten dennoch viele an den Fortbestand der Illuminaten im Geheimen. Und selbst heute noch sind Millionen Menschen von der Existenz der Illuminaten überzeugt. Glaubt man den hunderttausenden von Interneteinträgen und -foren, dann sind die Illuminaten nach wie vor omnipräsent.

    León musste unwillkürlich schmunzeln, als er daran dachte, dass er ausgerechnet mit derartigen Verschwörungstheorien gutes Geld verdiente. Er wusste, dass die meisten dieser Theorien pure Fantasie waren, im günstigsten Fall mit etwas Halbwissen verbrämte Mythen, denen man eine gewisse Faszination indes nicht absprechen konnte. Das Manuskript für sein neues Buch über die Illuminaten war fast fertig und bediente sich ebenfalls ungeniert derartiger Legenden. Das war es doch, was diese Menschen lesen wollten und was natürlich auch eine gewisse Auflage garantierte.

    Seit einer halben Stunde allerdings war sich León gar nicht mehr so sicher, was Dichtung ist und was Wahrheit, seit er tief in den italienischen Abruzzen durch ein Dorf gefahren war, auf dessen Ortsschild „Illuminati" stand und dessen Bewohner so seltsam waren, dass man spontan bereit war, an eine weltumspannende Verschwörung zu glauben. Die geheimnisvoll stille Bar, der Wirt mit der Tätowierung der Eule der Minerva, der weißhaarige Mann mit seinem perfekten Deutsch. War das alles nur Zufall?

    León nahm sich vor, noch einmal intensiv die Archive zu durchforsten, sobald er wieder zu Hause war, um nach Hinweisen auf dieses italienische Dorf zu suchen, das auf keiner Karte verzeichnet, das jedem Navigationsgerät unbekannt war und in dem man als Fremder offenbar alles andere als gern gesehen wurde.

    Der weißhaarige Mann, der ihn so intensiv gemustert hatte, ging León nicht mehr aus dem Kopf. Er strahlte soviel Wissen aus, barg offenbar manches Geheimnis, an dem León gerne teilhaben würde. Am liebsten hätte er sofort seinen Wagen gewendet und wäre zurückgefahren nach Illuminati. Solange er aber nicht mehr wusste als den Namen des Ortes, solange würde er wohl kaum etwas erfahren von ihm oder den anderen schweigsamen und feindseligen Bewohnern.

    Als León in die Autostrada nach Teramo einbog, stand seine Strategie fest. Zuerst zurück zur Archivarbeit. Dann erst würde er zurückkommen und in den Orten rings um Illuminati anfangen zu recherchieren. Und recherchieren hatte er ja gelernt in den Jahren beim BND.

    * * *

    In Teramo führte die Straße nach links Richtung Guazzano hinauf nach Castel di Lama, wo León im Hotel Borgo Storico Seghetti Panichi für diesen Abend ein Zimmer gebucht hatte. Erst als er seinen Audi die Via San Pancrazio hochsteuerte auf den Hügel, auf dem das Hotel stand und der einen unvergleichlichen Ausblick bot auf die Sibillini-Berge bis hin zu den Apenninen, erst jetzt ließen ihn seine Gedanken an Illuminaten und Verschwörungstheorien wieder los.

    Nachdem er eingecheckt hatte, brachte León sein Gepäck aufs Zimmer, nahm ein Bad und zog sich etwas Frisches an. Eine hellblaue Jeans und ein weißes, tailliertes Hemd. Er holte die Docking-Station, die er auf Reisen stets mit sich führte, aus dem Koffer, steckte seine iPhone in die Halterung und suchte nach der passenden Musik für diesen Abend. Puccini, das war es, was er jetzt hören wollte. Schließlich befand er sich tief in Italien.

    León liebte die Opern von Puccini, bewunderte den Komponisten, der es wie nur wenige andere große Musiker geschafft hatte, seine Kunst mit einem Leben zu vereinen, das er in vollen Zügen zu genießen verstand. Er war begeisterter Jäger, liebte schöne und für die damalige Zeit schnelle Autos, wusste gute Kleidung zu schätzen, besaß mehrere Schiffe und sein Liebesleben war ausufernd genug, um ihm die musikalischen Ideen zu liefern für seine Opern, für seine unsterblich romantischen Arien und Duette.

    Für León hatte die italienische Oper keine schöneren Momente zu bieten. La Bohème, Tosca oder Turandot: Die schlichte Perfektion in Puccinis Melodien, sein filigraner Umgang mit Dissonanzen und die emotionale Kraft seiner Arrangements faszinierten León. Verdi, Donizetti oder Rossini hatten auch grandiose Opern komponiert. Aber deren Musik endete für León dort, wo Puccini erst zu erzählen begann, über die tragische Liebe der schwindsüchtigen Mimi zu ihrem Rudolfo, über die Hingabe der Tosca für ihren Maler Mario Cavaradossi, über die tiefe Sehnsucht von Prinzessin Turandot.

    Erst als León sein Hotelzimmer in eine italienische Opernbühne verwandelt hatte, klappte er sein Laptop auf, ein federleichtes Macbook Air, und nahm die Speicherkarte aus der Kamera, um sie in den Computer einzulesen. Ein zögerliches Klopfen an der Zimmertür unterbrach ihn.

    León stand auf, wobei die Speicherkarte zu Boden fiel. Er hob die SD-Card auf und steckte sie in die Hosentasche, bevor er öffnete. „Möchten Sie noch etwas zu essen?, fragte ein kleines, schüchternes Zimmermädchen mit verlegenem Lächeln, „unsere Küche schließt nämlich in einer halben Stunde.

    „Gut, erwiderte León, „lassen Sie mir ein Filetto di manzo in Balsamico-Sauce machen mit etwas Grillgemüse. Das Zimmermädchen trat lächelnd den Rückzug an, als León ihr noch nachrief: „medium, bitte. Und lassen Sie es im Garten servieren. Ich bin sofort unten. Ach ja, und eine Flasche Ornellaia 2004." León liebte diesen toskanischen Rotwein, einen des sogenannten Supertoskaner, bei dem er ähnlich wie bei Puccinis Musik alles um sich vergessen konnte.

    Das Weingut in Bolgheri, von wo dieser Wein stammt, ist nicht etwa eine jener traditionsreichen italienischen Tenutas mit einer unendlich langen Geschichte, sondern wurde erst 1981 gegründet mit der Absicht, die Wiege für einen Spitzenwein zu werden. Das Mikroklima in Bolgheri und die geeigneten Böden ließen diese Vision innerhalb von nur zwanzig Jahren Realität werden. Die Trauben werden auf diesem Weingut auch heute noch von Hand gelesen, die Erntemenge ist stark limitiert. Das Ergebnis ist ein Wein, dessen kraftvolle Fülle und Komplexität die meisten anderen toskanischen Weine in den Schatten stellt. Und nicht nur die.

    León war im Lauf der Jahre ein Weinkenner geworden, ein Spezialist für italienische Rotweine, speziell für die aus der Toskana. Auch wenn die hochwertigsten Weine der Welt nach wie vor aus dem französischen Bordelais stammen. Die aus der Toskana, das jedenfalls fand León, hatten mehr ursprüngliche Kraft, mehr Persönlichkeit und Charakter. Selbst wenn der nicht immer perfekt war, schätzte León doch die permanenten Bemühungen vieler Winzer, von Jahr zu Jahr besser, noch besser zu werden. Und er kannte viele von ihnen sehr gut. Auch mit den Jahrgängen war León bestens vertraut. Deswegen hatte er sich den Ornellaia 2004 bestellt, der von Weinpäpsten wie Robert Parker mit beinahe 100 Punkten ebenso hoch eingestuft wurde wie der aus dem Jahr 2001.

    León setzte sich in den malerischen, von großen Palmen gesäumten Garten. Der Ornellaia stand bereits entkorkt auf dem Tisch. Obwohl erst Anfang Mai, war die Abendluft wohltuend mild. Die Sterne funkelten durch die Blätter der Palmen und in der Ferne tanzten kleine Lichter an den Hängen der Sibillini-Berge. „Ein perfekter Abend für eine perfekte Flasche Wein", dachte León und ließ den ersten Schluck Ornellaia im Mund aufblühen. 2004 war in der Tat ein bemerkenswerter Jahrgang gewesen für diesen Wein, den León mit echter Andacht trank. Das Filetto ließ nicht lange auf sich warten. Es war nahezu perfekt. Obwohl León keinen sonderlichen Appetit hatte, ließ er kaum etwas auf dem Teller zurück.

    „Signore Dupré, Sie werden am Telefon verlangt. Das verlegene Lächeln in Form des kleinen Zimmermädchens war wieder da und hielt León ein drahtloses Telefon hin. „Wer weiß denn, dass ich hier bin?, grübelte León, „vermutlich wieder ein Gag von Sean. Er hielt den Hörer ans Ohr und meldete sich mit dem landestypischen „Pronto.

    „Sie fragen sich jetzt sicher, woher ich weiß, in welchem Hotel Sie abgestiegen sind, meldete sich eine tiefe Männerstimme am anderen Ende. Verdammt noch mal, das war der Weißhaarige aus Illuminati. León hatte die Stimme sofort wiedererkannt, obwohl der Mann jetzt italienisch sprach. Und noch bevor León auch nur eine Frage formulieren konnte, fuhr er fort: „Es war nicht meine Absicht, unhöflich zu sein gerade eben. Aber ich musste die Situation etwas entschärfen. Sie hätten nicht ohne zu fragen fotografieren sollen. Das mag nicht jeder. Vielleicht kommen Sie ja mal wieder durch unsere Gegend. Buona serata. Ein leises Knacken in der Leitung signalisierte León, dass sein Gesprächspartner aufgelegt hatte. „Verflucht, woher weiß der, wo ich bin?, dachte er, kam aber zu keiner brauchbaren Antwort. Der Fremde gab ihm wirklich Rätsel auf. Immerhin war sein „Vielleicht kommen Sie ja mal wieder durch unsere Gegend durchaus auch als Einladung zu verstehen. León wollte es jedenfalls so verstanden haben.

    * * *

    Der Ornellaia ging langsam zur Neige und León nahm noch einen letzten Schluck, bevor er aufstand, um auf sein Zimmer zu gehen. „Ist das Ihr Sportwagen da draußen?, stoppte ihn eine sanfte Frauenstimme in der Lobby. León drehte sich um und stand einer vielleicht 28-jährigen brünetten Schönheit gegenüber, die ihn mit großen braunen Augen ansah. „Ich würde ihn mir gerne mal etwas genauer ansehen, wenn ich darf.

    Sie hatte eine überaus charmante Stimme mit verführerischem Timbre und sah in ihrem halblangen schwarzen Kleid aus wie einem Modemagazin entsprungen. Eigentlich wollte León ja gerade aufs Zimmer gehen. „Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung, schoss ihm jedoch ein Aphorismus von Oscar Wilde durch den Kopf und er hörte sich selbst ein süßliches „Certo säuseln, bevor er die junge Frau zu seinem Sportwagen begleitete. Sie hatte eine überwältigend gute Figur, schlank und doch sehr weiblich. Ihre wohlgeformte, beachtlich große Brust wurde von ihrem schwarzen Kleid eindrucksvoll in Szene gesetzt. Und ihr Gesicht war das eines Engels. Unschuld und Selbstbewusstsein paarten sich im Blick ihrer finessenreich geschminkten Augen. Die langen, brünetten Haare fielen locker über ihre Schultern und reflektierten das Licht in unzähligen Nuancen von Schwarz bis Rot. Irgendwie hatte León den Eindruck, er habe dieses Gesicht schon einmal gesehen. Aber wo? An wen erinnerte es ihn?

    Mit einem Griff an den Türöffner schaltete die Innenraumbeleuchtung des Audi R8 ein und León zog die Fahrertür auf, um den Blick freizugeben auf das Cockpit. „Ich heiße Chiara, sagte sie wie beiläufig, als sie auf dem Fahrersitz Platz nahm und fachmännisch die Instrumente und Bedienelemente begutachtete. Sie ließ ihre schmalen Finger über die Schaltkulisse gleiten, strich über die Knöpfe aus glänzendem Klavierlack und legte ihre Händen auf das Lenkrad. „Fantastico, säuselte sie, „seit wann baut man in Deutschland so schöne Sportwagen?" Und León fand, dass sein Auto durch eine Frau wie diese Chiara auf dem Fahrersitz noch deutlich an Attraktivität zugelegt hatte.

    Sie fragte fachmännisch nach Hubraum, PS, Drehmoment und den Beschleunigungswerten, als León schon längst klar war, dass er so eine Frau nicht einfach in der Lobby verabschieden und ins Bett schicken würde. Seit frühester Jugend war er ein ausgesprochener Casanova gewesen. Seine Beziehungen hatten zwar nie lange gehalten. Aber er verehrte das schöne Geschlecht und stand, wie er gerne scherzhaft sagte, immer stark unter dem Eindruck, den er auf eine Frau gemacht hat.

    „Darf ich Sie noch zu einem Glas Champagner einladen?, fragte er auf dem Weg zurück zum Hoteleingang und sie antwortete wie León zuvor mit einem zarten „Certo und musste dabei lachen. León war bereits nach wenigen Minuten überwältigt von dem bezwingenden Charme Chiaras und ihrer unwiderstehlichen Ausstrahlung.

    „An der Rezeption hat man mir gesagt, sie seien ein deutscher Schriftsteller. Sie müssen sehr erfolgreich sein, wenn Sie sich so ein Auto leisten können", bemerkte Chiara und León wurde erneut warm ums Herz, als er ihr dabei in die Augen sah. Er fühlte sich Chiara irgendwie hilflos ausgeliefert. Und er liebte diese Art der Hilflosigkeit.

    „Ich dachte zuerst, Sie seien Franzose. Dupré ist kein deutscher Name? „Mein Vater war Franzose, aus einem kleinen Ort in der Nähe von Paris. Und auf dem Weg in der Garten erzählte ihr León mit launigem Ton, wie sein Vater, Pierre Dupré, seine Mutter bei einem Deutschlandurlaub kennengelernt und unglaublicher Hartnäckigkeit innerhalb von zwei Wochen heiratsfähig geflirtet hatte. Diese Geschichte hatte sich León als Kind immer und immer wieder anhören müssen.

    Der kleine Tisch unter den Palmen im Garten des Hotels war wirklich der ideale Ort für einen kleinen italienischen Flirt. Und die Flasche Dom Perignon, die León geordert hatte, das ideale Getränk. Chiara war eine über die Maßen begehrenswerte Frau und augenscheinlich auch von León ziemlich angetan. Seine 38 Jahre sah man ihm auch nicht unbedingt an. Der lässige Schnitt seiner dunkelblonden Haare und der überaus muskulöse Körperbau ließen ihn um Einiges jünger aussehen.

    León war ein gut

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