Zwei Taler für den Pastor, siebzehn Schilling für den Lehrer: Heimatgeschichtlicher Rundgang durch Drensteinfurt und Walstedde
Von Peter Gabriel
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Über dieses E-Book
Peter Gabriel
Peter Gabriel (1928-2023) wuchs im östlichen Ruhrgebiet auf und begann 1950 ein Studium der klassischen Archäologie, alten Geschichte und der Kunstgeschichte in Münster. Ab 1955 studierte er Pädagogik in Bielefeld. Nach dem Studium wurde er Lehrer und war bis zu seiner Pensionierung 1991 Rektor einer Grundschule in Hamm. Gabriel war Autor mehrerer Jugendbücher. Daneben schrieb er heimatgeschichtliche Artikel im Westfälischen Anzeiger und weiteren Zeitungen, im Jahrbuch Westfalen und in Heimatkalendern sowie Kindergeschichten in der Westfälischen Rundschau.
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Buchvorschau
Zwei Taler für den Pastor, siebzehn Schilling für den Lehrer - Peter Gabriel
Vorwort
Das beschauliche Leben im westfälischen Provinzstädtchen Drensteinfurt in der beginnenden Neuzeit – eine schöne Vorstellung, aber so war es nicht nur. Wie überall sonst auch lebten die Menschen mal friedlich zusammen, mal stritten sie sich: Während sie eben noch gemeinsam Schützenfest gefeiert hatten, beschwerten sich schon im nächsten Augenblick die Alteingesessenen über die rauen Sitten der zugezogenen Bergleute.
Und natürlich stand die Stadt mitten in den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Stürmen der Zeit: Die kurze Blüte des Strontianitbergbaus, die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Gemeinde im Dritten Reich und die Aufnahme schlesischer Vertriebener nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten Drensteinfurt jedesmal aufs Neue.
Seit 40 Jahren wohne ich in Drensteinfurt und Walstedde und beschäftige mich seitdem mit der faszinierenden Lokalgeschichte meines Heimatorts. In diesem Buch habe ich eine Reihe meiner Veröffentlichungen über Drensteinfurt und seine heutigen Ortsteile Walstedde, Mersch und Ameke zusammengestellt. Ich lade Sie ein, mich auf den folgenden Seiten auf einem heimatgeschichtlichen Rundgang durch Drensteinfurt und Walstedde zu begleiten. Wandern Sie mit mir von der Loreto-Kapelle über die Alte Post bis hin zur ehemaligen jüdischen Synagoge und gewinnen Sie einen Eindruck vom früheren Leben in der westfälischen Provinz.
Drensteinfurt, im Februar 2006
Eine Loreto-Kapelle in Westfalen
Engel sollen das Geburtshaus der Maria im Jahre 1291 vor der Zerstörung durch die Mohammedaner gerettet haben. Sie brachten es von Nazareth nach Rijeka, ins heutige Jugoslawien. Drei Jahre und sieben Monate danach, erzählt die Legende weiter, trugen die Engel das Haus wieder fort, diesmal über das Adriatische Meer zur Ostküste Italiens. Dort fand es zunächst bei Recanati und schließlich im benachbarten Loreto seinen Platz. Der Ort lag auf einem Hügelrücken und hieß nach den Lorbeerbäumen, die auf ihm wuchsen, Lauretum, der Lorbeerhain.
Später wurde das Haus kostbar mit Marmor verkleidet und von einer Basilika umbaut. Loreto entwickelte sich rasch zu einem der bedeutendsten Wallfahrtsorte Italiens. Berühmt war der Reichtum seiner Schatzkammer, wo die Weihgeschenke von Kaisern, Königen, Päpsten und Bischöfen aufbewahrt wurden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts plünderten französische Soldaten Kapelle und Schatzkammer. Das aus Zedernholz geschnitzte Madonnenbild wurde nach Frankreich verschleppt, bald darauf aber wieder zurückgegeben.
Da die Pilgerfahrten ins Ausland weit und beschwerlich waren, entstanden Nachbildungen der Casa Santa außerhalb Italiens, zu ihnen gehört die Loreto-Kapelle in Drensteinfurt. Johann Matthias von der Reck ließ sie 1726 an der Grenze seines Gerichts, der „Herrlichkeit Steinfurt", erbauen. Architekt war Lambert Friedrich von Corfey, von dem auch das Schloss in Drensteinfurt stammt. Nah bei der Kapelle wurde ein Fachwerkhaus errichtet, dessen Bewohner den Küsterdienst zu versehen hatten.
Die Wallfahrt zur Loreto-Kapelle fand solchen Anklang, dass zwei Franziskaner aus Münster die Geistlichkeit Drensteinfurts in den Jahren von 1730 bis 1779 unterstützen mussten. Da der Raum in der Kapelle beengt war, hielt man Beichten und Messen für die Pilger in der Pfarrkirche St. Regina ab. Als diese Kirche wegen Baufälligkeit abgerissen werden musste, unterbrach man die Wallfahrt. Sicher war vorgesehen, sie nach Fertigstellung der neuen Kirche wieder aufleben zu lassen. Die Bauarbeiten zogen sich aber bis 1790 hin. Es scheint finanzielle Schwierigkeiten gegeben zu haben. Ein Jahr zuvor war die Französische Revolution ausgebrochen, ein neuer Zeitgeist rüttelte an den überlieferten Ordnungen. Wahrscheinlich ist ihm die Wallfahrt nach Drensteinfurt zum Opfer gefallen. Seitdem hat die Kapelle nur noch örtliche Bedeutung.
Heute führt eine asphaltierte Straße, die sich vor dem Ortsausgang Drensteinfurt gabelt, an der Loreto-Kapelle vorbei. Früher verließ man die befestigte Stadt durch das Münstertor, überquerte die Wersebrücke und benutzte ein Stück der alten münsterischen Landstraße. Sie war zum Damm aufgeschüttet worden, da sie im Überschwemmungsgebiet der Werse lag. Der Weg führte an Lömkes Kotten und den Fischteichen des Schlossherrn vorbei; er mündete in den Heubrink, wie das dreieckige Stück Land zwischen Sendenhorster und Albersloher Straße genannt wurde. Hier stand die Loreto-Kapelle auf einer kleinen Erhebung des Geländes, ein Ziegelsteinbau von 5 × 15 m Grundfläche, mit einer Vorhalle und einem Glockentürmchen als Dachreiter.
Den Weg zum Heubrink war auch der Jesuitenmörder Johann Slömer, humpelnd und auf Krücken, gegangen. Ein Leineweber hatte ihm bei der Festnahme durchs Knie geschossen. Am Eingang der Lindenallee, wo heute das Kreuz steht, wurde Slömer enthauptet, sein Körper aufs Rad geflochten. Dies geschah vor 1712, als auf dem Heubrink noch eine Vorgängerin der Loreto-Kapelle stand. Auch zu ihr hatte es schon eine Wallfahrt gegeben. Mitte des 17. Jahrhunderts war sie erbaut worden; in den zeitgenössischen Quellen wird sie „sacellum prope Leprosorium" genannt, die Kapelle beim Aussätzigenhaus. Drensteinfurt besaß auf dem Heubrink also einen Leprosenhof. Obwohl die unheilbar Kranken aus der menschlichen Gesellschaft verstoßen waren und isoliert lebten, hielt man Gottesdienst für sie in der Kapelle und reichte ihnen die Sakramente. Der Dienst an den Aussätzigen gehörte zu den Pflichten des Drensteinfurter Vikars. Als erster wird Franz Melschede genannt, die Fundation der Vikarie war bereits 1426 erfolgt.
Man betritt die Vorhalle der Loreto-Kapelle durch ein blau gestrichenes Holztor. Kräftige, hohe Bögen öffnen das Mauerwerk nach drei Seiten; eine Fensterreihe in der vierten Seite erlaubt den Blick in den Innenraum, wo ein paar Bänke und der schmucklose Altar stehen. In den Feldern der gemalten Kassettendecke leuchten goldene Sterne auf blauem Grund. Sechs Sterne sind in die Sandsteinplatten des Fußbodens eingelassen. Nach Drensteinfurter Überlieferung liegen hier sechs Mönche begraben. Rechts in der Wand ist ein imitierter Mauerriss zu sehen, den ein Blitz verursacht haben soll, als das Vorbild der Kapelle übers Meer getragen wurde. Abgeteilt durch den Altar und ein weißes Gitter liegt im hintersten Teil des Raumes die Sakristei, dort befindet sich die Küche des heiligen Hauses mit Feuerstelle und Brunnen.
Von der Kanonenkugel unter der Decke heißt es, sie habe auf wundersame Weise Papst Julius II. im Jahr 1511 bei der Belagerung einer Stadt verfehlt. Die Madonna in einer Nische hinter dem Altar und die anderen Plastiken gehören nicht zur ursprünglichen Ausstattung. Wegen Diebstahlsgefahr wird das alte Wallfahrtsbild, die Mutter Gottes von Drensteinfurt, nicht mehr in der Kapelle aufbewahrt. Das Gleiche gilt für den armen Lazarus, dem zwei Hunde die Wunden lecken. Die eindrucksvolle Holzfigur stammt noch aus der Leprosenkapelle und erinnert an die Kranken, deren Schutzpatron Lazarus war.
Vorzügliche Bildhauerarbeiten sind die Reliefs über den Türen beider Außenwände. Sie werden Johann Wilhelm Gröninger zugeschrieben. Plastisch und mit bewegten Umrissen heben sich die Figuren vom flachen Hintergrund ab. Das eine Relief stellt die Verkündigung Marias, das andere die Überführung ihres Hauses nach Loreto, translata 1291, dar. Unbefangen und realistisch hat Gröninger die Legende illustriert: Drei Engel tragen das Haus, das die Gestalt einer Kapelle hat, übers Meer. Auf dem Dach sitzt Maria mit dem Jesuskind. Unten am linken Bildrand sieht man eine von Mauern umgebene Stadt; mit geblähten Segeln fährt ein Schiff zum gegenüberliegenden Ufer, wo sich ein Baum vor dem heranschwebenden Haus verneigt. Unmittelbar an die Loreto-Kapelle ließ Engelbert von Landsberg im Jahr 1863 eine Familiengruft anbauen, die später erweitert wurde. Ihre Mauern ruhen auf einem bossierten Sockel. Wie bei der Kapelle sind die Wände durch Blendpfeiler gegliedert. Über dem Eingang hängen ein Kreuz und das Landsberger Wappen.
Am 2. November 1915 wurde hier der Reichsfreiherr Ignatz von Landsberg-Velen beigesetzt. Es war Landrat des Altkreises Lüdinghausen, Mitglied des Herrenhauses und des Reichstags in Berlin gewesen. Als er während des Kulturkampfes Stellung für seine Kirche bezog, versetzte man ihn in den einstweiligen Ruhestand. Landsbergs Beisetzung fand weit über die Grenzen des Münsterlandes hinaus Beachtung. Die Abschiedsstimmung des grauen Novembermorgens scheint das Ende des zweiten deutschen Kaiserreichs vorwegzunehmen. Drei Jahre später brach es, ebenfalls im November, nach dem verlorenen Weltkrieg zusammen.
Den heutigen Besucher der Loreto-Kapelle und der Landsberggruft bewegen Eindrücke ganz anderer Art. Im Sommer duftet es stark nach der Lindenblüte; gelegentlich rauschen Autos an den hoch gewachsenen Alleebäumen und dem Wäldchen vorbei, in dem sich Kapelle und Gruft verstecken. Besorgt schaut jemand vom renovierten Küsterhaus herüber, das wenige Schritte entfernt liegt. Fast scheint es, als seien Besucher hier nicht willkommen. Aber der Eindruck täuscht. Die Sorge gilt ungebetenen Gästen. Mehrfach drangen sie gewaltsam in die Kapelle ein. Beim letzten Mal versuchten Halbwüchsige sogar, von der Sakristei aus in die Gruft zu gelangen, scheiterten jedoch an den dicken Mauern.
Französische Emigranten in Drensteinfurt
Am 14. Juli 1789 wurde in Paris die Bastille, das berüchtigte Staatsgefängnis, von einer aufgebrachten Menschenmenge gestürmt; zwei Jahre später starb Ludwig XVI. unter dem Fallbeil, es folgte die Schreckensherrschaft Robespierres. Die französische Revolution löste eine Massenflucht in die Nachbarländer aus; der Prinz von Artois, ein Bruder des Königs fand mit seinem Gefolge Unterkunft im westfälischen Hamm; etwa 2000 Geistlichen, die sich geweigert hatten, den Eid auf die Verfassung zu schwören, gewährte das Fürstbistum Münster Unterschlupf. Unter dem Schutz des Generalvikars Franz von Fürstenberg hielten sich die Emigranten in Städten und Dörfern auf; Drensteinfurt, Walstedde und Rinkerode wurden vorübergehend Heimat für 30 Flüchtlinge.
Eine Liste gibt Aufschluss über Namen, Stand, Herkunft und Aufenthaltsort. In der Reihe Veröffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen behandelt Peter Veddeler das Thema Französische Emigranten in Westfalen und führt ausgewählte Quellen an. In Drensteinfurt werden 30 Geistliche aufgeführt, je drei davon in Walstedde und Rinkerode. Außer Rang, Herkunftsland und Aufenthaltsort bleiben die meisten anonym, nur bei ganz wenigen erfährt man Näheres über die Art und Weise, wie sie aufgenommen und behandelt wurden. Eine Ausnahme ist der Kanoniker Denis Robelot, der im Schloss von Drensteinfurt mehrere Jahre gewohnt hat. Nachdem in Frankreich wieder geregelte