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Lang lebe die Lüge!
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eBook368 Seiten5 Stunden

Lang lebe die Lüge!

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Über dieses E-Book

Wenn die eigene Mutter über Vergangenheit und Herkunft schweigt, dann bleiben Überraschungen nicht aus. Das muss auch Violett nach dem frühen Tod ihrer Mutter Laura erfahren. Plötzlich wird ihr bekannt, dass sie Erbin einer englischen Bierbrauerdynastie ist, die jeden Eindringling von außen mit Einschüchterung vom zu verteilenden Erbe fernhalten will. Doch Violett entdeckt ihren Kampfgeist. Sie will sich das ihr zustehende Erbe erkämpfen – komme, was wolle. Eine neue Liebe macht sie stark, so stark, dass sie den Einschüchterungsversuchen zunächst standhält.
Aber wie weit wird eine mächtige Familie gehen, um zu verteidigen, was ihr heilig ist?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum25. Aug. 2016
ISBN9783741842375
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    Buchvorschau

    Lang lebe die Lüge! - Liliana Dahlberg

    Kapitel 1

    Violetts Lider regten sich langsam, als sie spürte, wie sich wärmende Sonnenstrahlen, die durch die spärlichen Vorhänge des Wohnzimmers drangen, auf ihr Gesicht legten. Es war, als wolle die Sonne Violett behutsam und sanft aus ihrem Schlaf wecken. Violetts Augen öffneten sich nun vollends und sahen sich dann im Zimmer um, als gäbe es im Raum etwas Besonderes zu entdecken. Die Sonne mochte im Augenblick Violett entgegenscheinen, doch ob sie auch ihr Herz würde erwärmen können, war mehr als fraglich. Denn dieses musste einen unglaublichen Schmerz ertragen. Einen, der kaum in Worte zu fassen war. Emotionaler Schmerz ist genauso kompromisslos wie schlimme Erinnerungen. Sie klopfen an keine Türen, damit man ihnen Einlass gewährt, sondern bemächtigen sich des Opfers gänzlich unerwartet. Violett seufzte nun tief und strich sich eine der vielen goldbraunen Locken aus der Stirn, die momentan widerspenstig über dieser lagen. Violett blickte weiter durch den Raum, als sähe sie ihn zum ersten Mal, und das hatte seinen Grund.

    Die Wohnung hatte aus Violetts Sicht viel von ihrer Behaglichkeit eingebüßt und schien ihr mit einem Mal entfremdet, da der Mensch, den sie am meisten geliebt hatte, sie nicht länger mit ihr teilte und die Räume nicht mehr mit seinem Wesen belebte. Violett hatte am Vortag völlig unerwartet und auf tragische Weise ihre Mutter Laura verloren. Ihre langen, weit ausgreifenden Schritte in den alten Pantoffeln würden nie mehr auf dem Parkettboden widerklingen und Lauras Stimme in der Wohnung nie wieder zu hören sein. Violett war sich darüber im Klaren, dass es nun an ihr lag, ein neues Leben zu beginnen. Das gestrige furchtbare Ereignis, das für sie erschlagend und betäubend zugleich gewesen war, forderte dieses Opfer mit aller Deutlichkeit: eine Trennung vom Alten und den Beginn von etwas Neuem. Alles andere wäre eine Kapitulation vor der Wirklichkeit.

    Violetts Mund fühlte sich auch nach ein paar Stunden Schlaf noch trocken und ihre Kehle wie zugeschnürt an. Ihr war, als hätten sie gestern mehrere Blitze gleichzeitig getroffen. Ihr Herz, so glaubte sie, schlug nur noch zur Hälfte. Sie empfand eine Leere, die ungeheuer schmerzte.

    Violett hatte bei all den Emotionen, die von ihr Besitz ergriffen, Mühe, ihre Gedanken zu ordnen. Sie lag auf der knarrenden alten Couch des Wohnzimmers und fasste sich an den Kopf, um ihre Schläfen ein wenig zu massieren, da sich in ihrem Schädel ein unangenehmes Dröhnen gemeldet hatte, das sie durch die sanften Bewegungen zu vertreiben versuchte. Auch die angenehme Müdigkeit, die sie sonst immer dazu verleitet hatte, noch ein wenig vor sich hin zu dösen, war einem flauen Gefühl im Magen gewichen. Doch sie wollte sich nicht unterkriegen lassen, denn sie war eine Frau mit starkem Willen und Charakter.

    Violett wusste, dass ihre Mutter Laura nicht gewollt hätte, dass sie sich innerlich von ihrem Leben verabschiedete, nur weil das Schicksal es vorgesehen hatte, dass sie nicht länger zusammen sein konnten. Sie hatte vielmehr das Gefühl, eine Mission erfüllen zu müssen, die ihrer Mutter zeitlebens nicht geglückt war. Dahinter verbarg sich ein Familiengeheimnis, das seit Ewigkeiten wie eine tiefschwarze, schwere Gewitterwolke über ihrer Haustür zu schweben schien, die selbst die Kraft des Glücks, das Violett in ihrem Leben bisher erfahren hatte, nicht zu vertreiben wusste. Es gelang ihr nicht, dass sich die Wolke in der Atmosphäre in Wohlgefallen auflöste, gerade so, als würde der Wohnblock, in dem sie in einer kleinen Wohnung lebte, konstant von einem mysteriösen Schatten umgeben, den sie nun in Licht verwandeln wollte, indem sie all ihre Energie bündelte.

    Violett musste endlich Antworten finden, weil sie nicht länger im Land der Ungewissheit zu leben gedachte, das ihre Mutter kreiert und in dem sie selbst notgedrungen ausgeharrt hatte. Eine Welt, die einer Scheinwelt glich und von großer Geldknappheit und wenig materiellem Wohlstand geprägt gewesen war. Allerdings schien dies nur eine Fassade gewesen zu sein, Requisiten eines Potemkinschen Dorfes – als wäre es eine inszenierte Armut, die einem sehr verletzten Menschen als Schutzwall diente. Laura hatte so nicht nur ihre Tochter, sondern auch viele Fragen hinterlassen, die nach Antworten verlangten.

    Doch zunächst, das war Violett klar, musste die Bestattung organisiert werden. Dass ihre Mutter eine Urnenbeisetzung wünschte, wusste Violett aus einem Gespräch, das sie an einem Abend vor etlichen Monaten zwischen Tür und Angel geführt hatten. Laura meinte, dass sie einmal genauso abtreten wolle, wie sie gelebt hatte: unauffällig.

    Auf die Unterstützung ihres Freundes Brian konnte Violett leider nicht zählen. Er wohnte zwar in Schottland, sodass sie ihn nach einigen Stunden Zugfahrt problemlos in seinem Wohnort erreichen könnte, aber er musste, seinem Jurastudium zuliebe, zu einer von seiner Universität organisierten Reise nach Rom aufbrechen. Da dort bekanntlich der Ursprung der Rechtsprechung zu finden war, erhofften sich die Professoren wohl, dass ihre Studenten in Italiens Hauptstadt den Atem der »Justitia« spüren würden.

    Violett war also ganz auf sich gestellt. Aber das Wort »mutterseelenallein« strich sie augenblicklich aus ihrem Wortschatz. Sie wollte sich unter keinen Umständen selbst bemitleiden. Doch natürlich wäre es ihr tausendmal leichter gefallen, sich an Brians Seite ihren neuen Aufgaben und Herausforderungen zu stellen.

    Während sie sich wie in Trance auf die andere Seite der Couch wälzte, erinnerte sie sich schmerzlich daran, dass ihre Mutter Laura außer einer Urnenbeisetzung auch noch ausdrücklich den Wunsch geäußert hatte, auf eine Trauerfeier zu verzichten. Sie meinte, es gäbe sowieso keine Menschen, die sich von ihr verabschieden wollten, denn schließlich sei mit niemandem aus Westshire, dem Dorf, in dem sie lebten, eine Freundschaft entstanden. Westshire lag etwas versteckt – unweit der Küste. Violett fing bewusst an, gedanklich in den Ereignissen der Vergangenheit zu forschen. Sie hatte noch keiner Menschenseele hier in Westshire den Gedanken anvertraut, den sie schon Ewigkeiten mit sich herumtrug: Laura musste ein besonderer Kummer gequält haben. Diesen Eindruck hatte Violett schon in frühen Kindertagen gewonnen. Es war mehr als ein Verdacht. Es schien Gewissheit zu sein. Ein Kummer, der in Lauras Vergangenheit lag und wie Blei auf ihrer Seele gelastet haben musste. Er wog augenscheinlich so schwer, dass Laura mit allen Mitteln verhindern wollte, dass seine wahre Ursache je auch nur durch ein Wort an die Oberfläche gelangte.

    Laura hatte grundsätzlich nie über ihre Gefühle gesprochen, als sei dies die Maxime ihres Daseins gewesen. Ihr Gesicht, das oft so starr wie Marmor wirkte, war ihr größter Schutz und gleichzeitig auch ihr stärkstes Instrument.

    Laura hatte durch ihr Verhalten ihrer Tochter schon früh Rätsel aufgegeben. Diese Rätsel schienen von Jahr zu Jahr unlösbarer zu werden. Violett fragte sich oft, ob es einem erwachsenen Menschen selbst bei aller innerlichen Disziplin nicht möglich sein musste, die eigene Gefühlswelt doch zumindest der eigenen Tochter darzulegen, sobald sie das nötige Alter erreicht hatte, um diese zu verstehen. Sie war doch Lauras einziges Kind. Laura hatte außer ihr keine andere Bezugsperson. Doch Laura hatte, seit Violett denken konnte, ihre Festung der Gefühle stets unbeirrt verteidigt.

    Ihr seelisches Innenleben verbarg Violetts Mutter aber natürlich nicht nur vor ihrer Tochter. Auch gegenüber den Einwohnern ihres Wohnortes setzte sie eine Miene auf, die verbittert und keineswegs einladend oder herzlich wirkte und auf niemanden in Westshire eine anziehende Wirkung ausübte. Doch Laura erreichte durch ihr kühles Auftreten im Grunde ihr Ziel. Keine Menschenseele kam auf die Idee, sich nach ihrem werten Befinden zu erkundigen. Das Gespräch ging nie über die übliche Grußformel hinaus, wenn sich Lauras Wege mit denen der Einwohner kreuzte. Für echte Briten war dies eine außergewöhnliche Leistung.

    Violetts Gedankenkarussell begann, sich weiterzudrehen. In ihr stieg eine Erinnerung auf, die vielleicht so aussagekräftig war wie keine zweite. Vor ihrem inneren Auge erschienen Bilder eines besonderen Abends Anfang Oktober, als sie gerade fünf Jahre alt war. Denn an diesem Abend teilte Laura mit ihrer Tochter zum einzigen Mal eine Erinnerung, die für Violett der Schlüssel zur Lösung des Rätsels ihres Lebens werden könnte. Violett versuchte krampfhaft, sich an jedes Detail zu erinnern.

    Der raue Herbst hatte die Insel gepackt. Ein starker Wind wirbelte die letzten Blätter von den Bäumen, die sich bisher noch nicht seiner Macht gebeugt hatten, und verabschiedete mit viel Geheul und Getöse den Spätsommer, der sehr mild gewesen und mit für Großbritannien selten langen Sonnenstunden bedacht worden war. Doch nun wurde, für jedermann hörbar, die neue Jahreszeit eingeläutet. Die alten Rollläden an den Wohnhäusern klapperten bedenklich. Der Wind pfiff mit einer solchen Stärke durch die Straßen, dass jeder froh war, zu dieser Stunde nicht mehr unterwegs sein zu müssen. Nur ein großer Romantiker hätte dem Lärm etwas abgewinnen und behaupten können, der Wind spiele seine eigene Melodie.

    So manchen Insulaner schauderte es in seinem gemütlichen Bett. Zu dem Naturschauspiel gesellten sich auch noch Blitze, die sekündlich einzuschlagen schienen. Die Themse wurde aufgewühlt und wirkte so unruhig wie sonst nur das Meer an der Küste und schien von einer mystischen Kraft bestimmt zu sein. Einzig die Meteorologen verfolgten das Geschehen an jenem Abend wohl eher mit interessierten als mit ängstlichen Augen. Sie wollten schließlich wissen, ob die Vorhersagen zutrafen, die sie in all den Zeitungen und über die Nachrichten verbreitet hatten.

    Zwar lebte Laura, seit sie Violett zur Welt gebracht hatte, viele Kilometer von der Hauptstadt, die das Epizentrum des Unwetters zu sein schien, entfernt, aber an diesem Abend blieb kein Flecken auf der Insel davon verschont. So blickte Laura besorgt aus dem Fenster und auf ihre kleine Violett, die sich mit aller Kraft an ihre Bettdecke klammerte, als könne sie der draußen tobende starke Wind ihren winzigen Händen entreißen. Die angespannte Stimmung, die für eine Kinderseele nicht gerade leicht zu verkraften war, schien sich jedoch unerwartet zu wandeln, weil Laura es selbst tat. In einem Augenblick, der nicht lange währte, aber dennoch …

    Lauras sonst so gut versiegelte Lippen, denen bisher noch kein Sterbenswörtchen über ihre Vergangenheit vor Violetts Geburt entschlüpft war, öffneten sich in dem Moment zum ersten Mal. Es war, als lüfte sich für einen kurzen Moment ein Schleier, der eine andere Welt zeigte, die nur Laura selbst zu kennen schien. Er ließ einen flüchtigen Blick auf ein anderes Leben zu, das wohl nicht mehr viel mit Lauras jetzigem gemein hatte.

    Als Laura sah, wie sehr sich ihre Tochter fürchtete, wollte sie Violett beruhigen und ihr die Angst nehmen. Sie setzte sich zu ihr auf die Bettkante, die im Lichtkegel einer alten Tischlampe lag. Die restlichen Winkel des Raumes wurden nur durch die wiederkehrenden Blitze am Himmel beleuchtet. Laura beugte sich zu Violett vor, um ihr über den Kopf zu streicheln. Kaum war sie ihrer Tochter durch deren goldbraun-gelocktes Haar gefahren, was diese mit einem seligen Seufzer zur Kenntnis nahm, richtete Laura sich wieder auf und gab ganz unerwartet etwas von einem Menschen preis, den sie einmal sehr geliebt haben musste. Dabei ließ ihre Tonlage zunächst darauf schließen, dass ihre Worte einer reinen Erzählung entstammten, die ihr Leben nicht berührte und in der sie überhaupt keine Rolle spielte. Auch wenn ganz sicher das Gegenteil der Fall war. Ganz so, als lese sie ihrer Tochter aus einem Buch vor.

    »Es gab einmal einen Menschen, der sich sehr über dich gefreut hätte, wenn er dich nur einmal zu Gesicht bekommen hätte. Er besaß nicht das Geld, mit dem er dich hätte ernähren können, aber sicher wäre seine Liebe dafür schon ausreichend gewesen.« Das waren zunächst Worte, die die kleine Violett nicht verstand. Die Stimme ihrer Mutter klang plötzlich sehr weit entfernt.

    Sie fuhr fort: »Dein Vater war ein außergewöhnlicher Mann.«

    Violett war überrascht, zum ersten Mal etwas über ihren Vater zu erfahren, und vergaß das Gewitter vor ihrer Haustür ganz und gar. Sie horchte merklich auf.

    »Wie heißt er?«, schoss es wie einer der draußen niedergehenden Blitze aus ihrem kleinen Kindermund.

    Laura schloss kurz die Augen, als wollte sie sich sein Gesicht ins Gedächtnis rufen. Ihr eigenes veränderte sich dabei unübersehbar. Ein glückerfülltes Lächeln zeichnete sich darauf ab. Ein Lächeln, das Violett so noch nie zuvor an ihrer Mutter gesehen hatte. Für das kleine Geschöpf war es schön und fremd zugleich. Laura antwortete in einer Tonlage, die schon um einiges gegenwärtiger klang.

    »Dein Vater hieß Cedric. Wie Frances Hodgson Burnetts ›Der kleine Lord‹. Ein Buch, das du sicher einmal später in der Schule lesen wirst.« Sie hielt kurz inne, ehe sie fortfuhr: »Man hätte in den Adern deines Vaters wirklich blaues Blut vermuten können. Für mich war er das, was man früher unter einem Edelmann verstand. Doch leider war er dies nicht in den Augen von …« Sie stockte kurz. Ihr Gesicht nahm wieder die ursprüngliche Spannung an. Eine Träne kämpfte sich schüchtern aus Lauras rechtem Augenwinkel hervor. Geweint hatte Laura in Violetts Beisein bis dahin noch nie.

    Laura rang sichtlich um Fassung und sagte: »Ich war damals als Einzige fähig, einen Adligen in alter und abgenutzter Kleidung zu erkennen. Denn mir war klar, dass diese vermeintlich so feinen Herrschaften nicht nur auf dem Papier und in den Villen Englands zu finden sind. Aber die Gesellschaft war wohl noch nicht reif …«

    Dann schloss Laura noch einmal die Augen. Doch diesmal sah man ihr an, dass sie eine Erinnerung genoss, offensichtlich die schönste, die sie besaß. Denn sie wirkte trotz der geschlossenen Augen wie ein seliger und glücklicher Mensch. Sogar ein sehr glücklicher.

    So schenkten sowohl Laura als auch Violett dem Unwetter keine Beachtung mehr, das draußen nach wie vor, durch das Fenster sichtbar, tobte und schwarze Wolken an den Himmel malte. Violett fühlte sich getröstet und Laura um eine wunderbare Emotion reicher. Sie hatte nicht nur Violett, sondern auch sich die Angst genommen. Doch dann fiel der Schleier ihres so gut gehüteten Geheimnisses wieder. Seitdem hatte er sich nie mehr gelüftet.

    Violett blieb in der Retrospektive und suchte in ihrem Gedächtnis weiter nach Anhaltspunkten. Sie wusste, dass dieser Moment an einem stürmischen Oktoberabend das einzige und letzte Mal gewesen war, dass Laura sie an ihrem Leben vor ihrer Schwangerschaft teilhaben ließ. Violett konnte sich natürlich nur ein schemenhaftes Bild von ihrem Vater machen, doch wusste sie schon als kleines Kind instinktiv, dass ihr das vorerst reichen musste.

    Violett dachte an ihre damalige Gefühlswelt.

    In ihr war von Jahr zu Jahr immer häufiger der unsagbar große Wunsch aufgekeimt und wie wilder Wein eine innerliche Mauer hochgekrochen, endlich mehr über ihren Vater und ihre Wurzeln zu erfahren, doch wusste sie diese Sehnsucht lange zu unterdrücken. Eine bemerkenswerte Leistung für einen so jungen Menschen. Darauf war Violett nun aber keineswegs mehr stolz. Sie blieb gedanklich weiter in der Vergangenheit, denn bei der Lösung des Rätsels schienen ihr die Fakten aus dieser Zeit genauso wichtig wie jene aus der Gegenwart.

    Die Dinge nahmen für sie als Kind trotz allem einen recht normalen Lauf. Laura verdiente ihren Unterhalt als Schneiderin in einem kleinen Geschäft, das sie günstig gepachtet hatte, um den geringen Unterhalt, den sie und Violett brauchten, aufzubringen. Kaum hatte sie den Laden abgeschlossen, lief sie auf direktem Weg nach Hause, es sei denn, es standen wichtige Einkäufe an. Denn ihre freie Zeit wollte Laura einzig und allein Violett widmen. Als kleines Mädchen hatte Violett es schnell als ganz gewöhnlich angesehen, der ständige Mittelpunkt im Leben ihrer Mutter zu sein. Denn sobald Laura die Wohnung betreten hatte, hatten sie an ihrem kleinen Tisch im Wohnzimmer stets guten alten englischen Tee, meist Earl Grey, getrunken. Bei dieser Erinnerung huschte Violett ein seliges Lächeln übers Gesicht. Während dieser gemütlichen Stunden hatte sie entweder von ihren Hausaufgaben, von Treffen mit Freunden oder ganz allgemein von ihren Sorgen und Nöten berichtet. Dabei konnte Violett immer beobachten, dass sich in den Stunden, die sie zusammen verbrachten, der Gesichtsausdruck ihrer Mutter wandelte. Sie wirkte um viele Jahre jünger, als würde sie all ihre Sorgen vergessen, welche es auch immer sein mochten. So kannte sie leider keiner der Einwohner von Westshire. Laura hoffte sicher, durch ihre Tochter den Ballast der Vergangenheit irgendwann fallen lassen zu können.

    In Violetts Gegenwart war sie von einem Lächeln beseelt, das man sonst nie an ihr entdecken konnte. Eines, das Violett zum ersten Mal, wenn auch etwas stärker ausgeprägt, während des großen Herbstgewitters in ihrem sechsten Lebensjahr an ihr wahrgenommen hatte. Auf diese Weise kamen Violett bei Lauras gelöstem Lächeln in den kommenden Jahren immer wieder die Bilder des Oktoberabends in Erinnerung und die Fragen, die daraus erwachsen waren. So steckte für Violett selbst in Lauras entspanntem Lächeln stets auch etwas Wehmut.

    Als Violett an ihrem neunten Geburtstag die Kerzen auf ihrer Torte ausblies, hatte sie nur einen einzigen Wunsch: Sie wollte ihre Familie kennenlernen. Sie wünschte sich sehnlichst, zu erfahren, wo ihr Zuhause war. So stark wie nie zuvor verspürte sie das Bedürfnis, ihrer Mutter weitere Fragen zu stellen. Doch letztlich kam sie zunächst zu dem Schluss, dass sie ihre Mutter nicht unglücklich machen wollte. Sie schien doch stets der einzige Sonnenschein in ihrem Leben zu sein. Nur wenige Male während der Pubertät brach Violett das ungeschriebene Gesetz ihrer Mutter, nach etwas zu fragen, was in deren Vergangenheit lag. In einem anderen Leben und einer fernen Welt.

    Doch eine Antwort blieb Laura Violett immer schuldig. Laura bewies ein besonderes Durchhaltevermögen.

    Violett fuhr innerlich zusammen und machte sich, einen Tag nach Lauras Tod, wieder schwere Vorwürfe, dass sie nicht auf die so wichtigen Antworten gepocht, nein, bestanden hatte. Aber wie hätte sie es anstellen sollen? Ihre Mutter so lange schütteln, bis ihr die Antworten buchstäblich aus dem Mund fielen? Nun musste Violett also die Spuren lesen, die ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, und das waren nicht viele.

    Violett war sich sicher, dass sie beide glücklicher geworden wären, wenn es damals diese Antworten gegeben hätte. Sie versuchte, sich all die Worte, die Lauras Mund während des Gewitters entglitten waren, erneut in Erinnerung zu rufen und sich darauf einen Reim zu machen. Was genau hatte ihre Mutter doch gleich wieder gesagt? Violett schüttelte sich, weil in ihr schmerzhafte Emotionen aufstiegen. Aber sie musste sich jetzt konzentrieren.

    Ein Edelmann, der in den Augen der anderen keiner war … Sie überlegte fieberhaft. Waren diese anderen vielleicht Menschen gewesen, die Laura nahegestanden hatten? Womöglich ihre eigenen Eltern? Das schien Violett durchaus logisch. Doch besser fühlte sie sich dadurch nicht. Denn nach Lauras Bekunden – das hatte sie auch jedermann im Dorf erzählt, der hartnäckig versucht hatte, ihren Panzer zu durchbrechen – waren ihre Familienmitglieder auf einer Safari in Afrika allesamt ums Leben gekommen. Das hatte sich Violett jedoch nie so richtig vorstellen können. Selbst die große Fantasie eines Kindes kannte Grenzen. Waren etwa all ihre Angehörigen von Löwen gefressen worden oder mit dem Reisebus gegen einen mächtigen Baum gefahren? Dennoch hatte sie diese Aussage Laura gegenüber nur einmal, während eines Streits – der letzte, den sie führen sollten –, in Zweifel gezogen.

    Lange hatte Violett nicht gewollt, dass ihre Mutter dachte, sie halte sie für eine Lügnerin. Außerdem erinnerte sie sich mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust daran, dass jede Frage nach ihrem Leben vor ihrer Schwangerschaft Laura noch verschlossener und fast apathisch werden ließ. Nicht nur Laura selbst, auch die Wände ihrer Wohnung schienen in diesen Momenten zu beben. Meist entstand dann ein langes Schweigen, und Laura lieferte Violett somit einer niederdrückenden Stille aus. Deshalb fand sich Violett als Kind zunächst auch schnell mit ihrem Schicksal ab, dass sie nie etwas über ihre Familie erfahren würde. Für andere wäre es wohl mehr als schwierig gewesen, aufzuwachsen mit dem Wissen, dass es ein großes und unausgesprochenes Geheimnis im eigenen Leben und dem der Mutter gab, doch Violett wurde trotzdem ein lebensbejahender Mensch, der keineswegs scheu oder verängstigt war. Sie hatte sich all die Jahre hindurch meist mit der Ansicht getröstet, dass das Geheimnis ihrer Mutter mit einem Dachboden gleichzusetzen war, auf dem sich bekanntermaßen Geheimnisse verbergen konnten. Bedauerlicherweise fehlte zu diesem der Aufstieg, und somit war er unerreichbar. Die Frage, welches Geheimnis auf ihm ruhte, wurde meistens verdrängt. Bis es zu diesem heftigen Streit zwischen Violett und ihrer Mutter kam, der die alte Frage wieder aufwarf, was Laura ihrer Tochter zeitlebens verheimlicht hatte. Dieser Streit war für beide Seiten kurz darauf wieder vorbei, da man die andere liebte und sich verzieh, aber innerlich hatte er für Violett nur weitere Fäden durch das unlösbare Geheimnis gezogen und ein noch undurchsichtigeres Strickmuster entstehen lassen.

    Die Liste der Unklarheiten war so lang, dass sie Violett innerlich erdrückte. Es fühlte sich an wie schleichendes Gift. Aber sie würde schon das passende Gegenmittel dafür finden, da war sie sich sicher.

    Ihr Blick wanderte durch die Wohnung, die noch im Halbdunkel lag, und die sie bis gestern noch gemeinsam mit ihrer Mutter bewohnt hatte. Sie befand sich in einem eher desolaten Zustand, und das war noch eine milde Beschreibung. Doch Laura hatte sich einfach strikt geweigert, ihre Dreizimmerwohnung zu modernisieren, selbst als ihre Geschäfte gut gelaufen waren und Geld dafür da gewesen wäre. Sie wurde ihrem Charakter und Wesen entsprechend wortkarg und einsilbig, wenn Violett als kleines Kind wissen wollte, aus welchem Grund sie immer noch in einer Wohnung lebten, die mit alten Sanitäranlagen und einer Heizung ausgestattet war, die selbst im tiefsten Winter nur eine lauwarme Temperatur verströmte, und sie auf Möbeln saßen, die alle so aussahen, als hätte es sie schon gegeben, als Georg VI. regierte und Queen Elisabeth noch nicht den Thron bestiegen hatte. Es gab nur zwei Ausnahmen und Anlässe, für die Laura ihren Geldbeutel zückte: Violetts Geburtstag und Weihnachten. Aber Violett bekam zu ihrem Geburtstag auch nur Wünsche erfüllt, wenn es sich um Spielsachen oder andere Gegenstände handelte, die ihr Freude bereiten sollten, und nicht, wenn diese der besseren Ausstattung der Wohnung oder der Änderung ihrer Lebensverhältnisse gedient hätten. Violett hatte deshalb schnell den Eindruck gewonnen, ihre Mutter wolle sich in ihrer inszenierten Armut vor irgendeinem Ereignis aus ihrer Vergangenheit verstecken.

    Bei dem stetig wiederkehrenden Gedanken an den stürmischen Oktoberabend lag dies für Violett natürlich auf der Hand. Sie verzog schuldbewusst das Gesicht und stoppte ihre Reise der Erinnerungen.

    Sie beruhigte sich etwas. Sie würde Lauras Geheimnis schon noch lüften. Sie musste es einfach.

    Violett überlegte, welche Indizien es in ihrer Wohnung geben konnte, die irgendetwas über Lauras Vergangenheit verraten. Wahrscheinlich hatte Laura sie wissentlich entfernt. Aber waren vielleicht hinter einem Schrank oder unter ihrem Bett Briefe versteckt, die etwas über ihre Geschichte erzählen konnten? Seit sie ein kleines Mädchen war, hatte Violett Lauras Schlafzimmer aus reinem Respekt nicht betreten. Zumal es Laura heilig gewesen war. Wie ein Rückzugswinkel ihrer Seele. Violett dachte an die Fotoalben, die in dem Schrank neben der antiken Kommode steckten, doch diese würden sich nicht als sonderlich hilfreich erweisen. Denn darin waren nur Aufnahmen zu finden, die sie selbst zeigten.

    Laura hatte stets darauf bestanden, wenn überhaupt, nur mit ihrer Tochter fotografiert zu werden, als sei sie selbst den Film im Fotoapparat nicht wert. Aber vielleicht fühlte sie sich auf einem Foto ohne Violett auch einfach nur verloren. Violett setzte ihren Streifzug der Erinnerungen unbewusst fort. Wohl auch, weil es leichter war, als direkt zur Tat zu schreiten.

    Da Laura allen in Westshire konsequent die kalte Schulter zeigte, interessierte sich bald niemand mehr für das so ominöse Geheimnis ihrer Herkunft. Es passierten schließlich genug andere Dinge im Dorf. Man betrat Lauras Laden, weil sie gute Arbeit leistete, war aber jedes Mal froh, diesen bald darauf wieder verlassen zu können. Lauras Kunden bezeichneten ihr Geschäft scherzhaft gerne als getarnte Eisdiele und spielten damit unverhohlen auf die Kälte an, die dort durch Lauras frostige und distanzierte Art vorherrschte. Ihre glasklaren blauen Augen unterstrichen diesen Eindruck zusätzlich.

    Violett dagegen schätzte man in Westshire sehr, weil sie schon von klein auf all das war, was Laura nie zu sein vermochte: offenherzig und mit einer besonderen kindlichen Neugier ausgestattet. Viele meinten, sie hätte wohl ausschließlich die Gene ihres Vaters abbekommen, der ein netter Mann gewesen sein musste. Der einzige Klatsch, der Laura sicher nicht besonders störte. Wie dieser Mann, der natürlich ein großes Fragezeichen blieb, sich je in Laura hatte verlieben können, wusste keiner in Westshire zu sagen.

    Da Violett natürlich merkte, dass ihre Mutter keine sozialen Kontakte in der Stadt pflegte, hatte sie geglaubt, sich besonders anstrengen zu müssen, um sie glücklich zu machen. Sie gab sich in der Schule deswegen besonders viel Mühe und hörte den Lehrern selbst in ungeliebten Fächern wie Mathematik und Physik aufmerksam zu. Doch selbst wenn sie ihrer Mutter ausnahmsweise einmal eine schlechte Klausur präsentieren musste, bemerkte diese nur mit einem Lächeln, am Tag der Klausur habe sie wohl das »Vergesslichkeitsgespenst« aufgesucht. Trotzdem war Violett weiterhin bemüht, gute Noten nach Hause zu bringen, was ihr auch meistens gelang. Sie lernte außerdem schon früh, Verantwortung zu übernehmen, wurde während ihrer Schulzeit viermal zur Klassensprecherin gewählt und bekam bei ihrem Schulabschluss schließlich eines der besten Abgangszeugnisse überreicht. Violett wollte sich, nur wenige Wochen nach dem Schulabgang, nach einem geeigneten Studienplatz umsehen. Sie hatte nicht vor, sich bei ihrer Suche auf England zu beschränken.

    Ihr Freund Brian war bereits Student gewesen, als sie ihm zufällig an seiner Universität St. Sebastian in Schottland begegnet war, die sie näher inspizieren wollte. Auf den Fluren der Hochschule hatten sich ihre Blicke getroffen und Amor hatte wohl das Übrige getan. Das war vor knapp einem Jahr gewesen. Ihre Liebe war also noch ziemlich frisch.

    Beide hatten sich bis kurz vor Lauras Tod fast ausschließlich in Edinburgh in Brians doch recht luxuriöser Bleibe getroffen. Brian hatte es nicht nötig, in einem Studentenwohnheim zu leben, da seine Familie – als bestehe eine erbliche Veranlagung – beinahe ausschließlich aus Juristen bestand. Sehr renommierten noch dazu. Violett sah es mit einem Augenzwinkern als Erbkrankheit von Brians Familie an. Sie zog ihn nicht selten damit auf, wobei Brian ihre Bemerkung in der Regel alles andere als lustig fand. Doch beide verband eine Leidenschaft, die sie einander schnell nähergebracht hatte und die Violett zu ihrem Studienfach machen wollte: die Meeresbiologie. Violett liebte das Meer, das an der Küste Englands noch so ursprünglich und rau wirkte. Es gab dort nur wenige Strände, sodass man das Meer häufig nur von einem Kliff oder einer Felssteinküste aus beobachten konnte. Die wenigen Strände blieben, zumindest von den Einheimischen, verhältnismäßig unberührt, und Touristen verirrten sich auch nur äußerst selten dorthin. Brighton bildete da natürlich eine Ausnahme.

    Violett hatte schon von Kindesbeinen an gerne nach Muscheln Ausschau gehalten und sie vom Boden aufgelesen. Sie fragte sich immer, woher sie wohl kamen und wie alt ihr Gehäuse war. Auch andere Gegenstände, die das Meer anschwemmte, nahm sie genauestens unter die Lupe und in Augenschein. Violett besaß eine wirklich ansteckende und besondere kindliche Neugier. Obwohl Brian, wie er Violett einmal offenbarte, als kleiner Junge ganz ähnlich empfunden hatte, wagte er es später aus familiären Gründen nie, den Weg zu wählen, den sich Violett erträumte. Sein Vater Steven hielt den Hang seines Sohnes für ein Hirngespinst und die Meeresbiologie für eine überflüssige Wissenschaft. Nur ein Jurastudium könne ihm einmal den Wohlstand sichern, den er von zu Hause gewohnt sei, repetierte er Brian gegenüber fortlaufend.

    Bei Violetts Besuchen am Meer war, als sie noch in den Kinderschuhen steckte, auch immer ihre Mutter zugegen gewesen. Violetts Interesse an der Meereskunde hatte Laura erfreut zur Kenntnis genommen. Doch diese Freude währte nur bis zu Violetts Schulabgang. Denn als Violett erfuhr, dass man das Fach an der altehrwürdigen Universität Londons belegen konnte, hatte sich Laura ihrer Tochter plötzlich in einem bislang unbekannten Licht gezeigt. Laura war ungehalten, richtig aufbrausend geworden. Ein seltener Gefühlsausbruch, der an ein Phänomen grenzte. Die sanften Gesichtszüge, mit denen sie ihrer Tochter sonst gegenübertrat, waren verschwunden und einer sehr angespannten Physiognomie gewichen. Laura hatte mit gereizter Stimme gemeint, dass es doch auch noch andere Universitäten im Land gäbe. London müsse es zwangsläufig nicht sein, und außerdem könne sie doch wie Brian in

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