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Der Klang des Meeres - Auf dem Zen-Weg zur Erfahrung der Einheit
Der Klang des Meeres - Auf dem Zen-Weg zur Erfahrung der Einheit
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eBook246 Seiten3 Stunden

Der Klang des Meeres - Auf dem Zen-Weg zur Erfahrung der Einheit

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Über dieses E-Book

Der Klang des Meeres beschreibt die Erlebnisse des Autors in einem zenbuddhistischen Laienkloster. Der Text schildert einen 44-tägigen Aufenthalt im Oktober, November und Dezember des Jahres 2006, das Bemühen um die Lösung des Koans, jener rätselhaft erscheinenden, paradoxen Aufgabe, die dem Schüler von seinem Meister gegeben wird. Er berichtet von dem Ringen um die Lösung der Frage, stellt sie als eine Herausforderung dar, die Tag für Tag gestellt und bewältigt werden will.
Von zentraler Bedeutung ist hierbei die Begegnung des Schülers mit dem Meister, in der er ihm seine Antwort – erfolgreich oder nicht – zeigt.
Der Klang des Meeres zeichnet den Tagesablauf im Kloster nach, das Bemühen um die Erforschung des "Weltinnenraumes", die schlussendliche Lösung des Koans und die damit verbundene außerordentliche Erfahrung.
Der Klang des Meeres versucht, die Konfrontation eines Mitteleuropäers mit einem Erkenntnisweg aufzuzeigen, der durch dessen Rezeption im Abendland auch Anpassungsprozessen unterworfen ist, die unter vielfältigen Aspekten zu betrachten sind.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum8. Apr. 2016
ISBN9783741801877
Der Klang des Meeres - Auf dem Zen-Weg zur Erfahrung der Einheit
Autor

Hubertus Tigges

1983-1988 Studium der Germanistik, Geschichte und Judaistik an der FU Berlin; 1992 Abschluss des Promotionsverfahrens in Germanistik; freiberuflich als Autor, Lektor und Heiler tätig.

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    Buchvorschau

    Der Klang des Meeres - Auf dem Zen-Weg zur Erfahrung der Einheit - Hubertus Tigges

    Für Anna

    Hubertus Tigges

    Der Klang des Meeres – Auf dem Zen-Weg zur Erfahrung der Einheit

    Grundsätzliches und Vorbereitungen

    Vorspann am See – Drei Tage zuvor

    Fortgehen und Ankommen

    Tag für Tag - 20. Oktober 2006 - 17. November 2006

    Rio de Janeiro - Buzios

    Der Klang des Meeres - 2. Dezember 2006 – 16. Dezember 2006

    Nachwort

    Der Klang des Meeres – Auf dem Zen-Weg zur Erfahrung der Einheit

    copyright 2012/2016 Hubertus Tigges

    Druck und Verlag: epubli GmbH Berlin

    www.epubli.de

    Grundsätzliches und Vorbereitungen

    „Aus dem Nichts bin ich gekommen,

    ins Nichts kehre ich zurück,

    alles, was ich dachte und tat,

    war nur ein Traum in einem Traum." – Japanisches Sterbegebet

    „Frei zu sein bedeutet, nichts zu besitzen und von nichts und niemanden besessen zu sein." – Swami Sivananda Radha

    Der Anfang der Reise ist immer schon ihr Ende.

    Ich will etwas – und genau das ist das Problem.

    Die grundlegende Lehre des Buddha, die er nach seiner Erleuchtung verkündete, bestand in der Darlegung der Vier Edlen Wahrheiten. Die erste dieser Wahrheiten besagt: Alles Leben ist Leiden. Leiden durchdringt unsere gesamte Existenz, unseren Körper, unsere Gedanken, unsere Gefühle. Die Ursache dieses Leidens, so der Buddha, ist das Wollen, das ewige Verlangen des Menschen oder konkreter: des Ego, etwas zu erreichen, der Durst nach dem Erfolg, das scheinbar nicht zu stillende Verlangen nach materiellem Reichtum, nach Genuss, aber auch der Hunger nach Erkenntnis.

    Eben: nach Erkenntnis.

    Mein Ich, das es nicht gibt, will etwas erkennen, das es ebenfalls nicht gibt.

    Ist das absurd? Widersinnig? Verrückt?

    In der Philosophie des Buddhismus ist es all das nicht. Im Gegenteil: Es ist die Quintessenz der Lehre. Dies zu verstehen, zu erleben, bedeutet das Ende der Suche, das  Sich-Auflösen der Illusionen, denn von Anfang an gibt es kein Ego, existiert kein Ziel.

    Es ist nichts da!

    Das zu erkennen, ist das Ziel der Reise. Nein, es muss nicht nur erkannt werden – es geht darum, es zu erleben, körperlich, emotional zu erfahren. Solange diese Erkenntnis nur eine des Verstandes ist, hat sie keinen Wert. Oder: Sie ist etwa so wertvoll wie die mathematische Erkenntnis, dass die Addition von eins und eins zwei ist.

    Das ständige Unbehagen am Ist-Zustand, unser Gefühl des Mangels, dem wir dadurch abzuhelfen trachten, indem wir Illusionen nachlaufen, ist scheinbar immer vorhanden: Ein neues Haus wird uns Ruhe vor den Nachbarn bringen, der Millionengewinn endlich finanzielle Freiheit, mit der neuen Freundin werden wir das ewige Glück finden, und ach ja! – eine neue Weltordnung schafft für alle Frieden, Reichtum und Wohlstand.

    Aber Buddha hat in seinen Vier Edlen Wahrheiten nicht nur konstatiert, dass alles Leben Leiden ist, dass die Ursache für dieses Leiden in unserer Gier und unserem Habenwollen besteht, nein, er hat auch – glücklicherweise – festgestellt, dass das Leiden überwunden werden kann – die dritte der Edlen Wahrheiten – und den Weg gewiesen, der zur Beendigung der Ursachen von Leiden führt: Das nun ist der Edle Achtfache Pfad, der praktische Anweisungen gibt, wie dem Leiden ein Ende bereitet werden kann, oder, wenn uns das in diesem Leben nicht gelingt, wie wir es minimieren können.

    Der Edle Achtfache Pfad besteht im rechten Verstehen, den rechten Gedanken, dem rechten Sprechen, der rechten Handlungsweise, dem rechten Lebensunterhalt, der rechten Bemühung, der rechten Achtsamkeit, der rechten Konzentration oder Meditation.

    Gehen wir diesen Weg, erkennen wir schließlich, dass es nichts zu erreichen gibt. Denn es gibt kein Selbst, dass irgendetwas erreichen könnte. Das Selbst, auf das wir uns so viel einbilden, um das wir Tag für Tag so ein Theater machen, gibt es nicht, gab es nie, wird es nie geben.

    Ist das nicht wunderbar!

    Das Ziel, das der sich unablässig in Verstrickungen und Illusionen Verfangende erreichen will – es ist nur Trug, eine Vorstellung, ein Konzept, ohne Substanz. Das Ich, das uns so viele Mühen bereitet, Schmerzen verursacht, weil es alles, was geschieht, auf sich bezieht, existiert nicht.

    All sein aufgeplustertes Gebaren – es ist nur ein sekundenhaft auftretendes Blendwerk aus Gedanken, Gefühlen, Verhalten, das aus dem Nichts auftaucht, erstrahlt wie ein Feuerwerkskörper, um gleich darauf wieder zu vergehen, ins Nichts zurückzufallen.

    Doch Freiheit, die Erlösung von allem Leid ist, ist in jedem Augenblick. Es gibt nichts zu erreichen. Es gibt nichts zu erkennen. Alles, was ist, ist nur eine Augenblicksentfaltung im Hier und Jetzt …- und schon wieder vorbei.

    Das ist das Ende der Reise.

    Ich stehe erst am Anfang.

    Ich will. Das ist das Problem.

    Doch bei Licht betrachtet, ist dieses Problem auch wieder keins. Denn es ist ebenso ohne alle Substanz, vollkommen leer – d. h. vergänglich, abhängig, bedingt, ohne Ich – wie alles andere. Wie alles, wie All und Es, zwischen denen es auch keinen Unterschied gibt. Denn das All und das Es sind von gleicher Beschaffenheit oder Nicht-Beschaffenheit wie das tausendfältige Sein: Sie sind leer!

    Das Ich, das sich in seinem unablässigem Bestreben, sich als Person zu konstituieren, abgrenzt, Mauern errichtet - es ist nicht. Es gibt lediglich eine Prozesshaftigkeit, ein Tun als Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken.

    Ein Ich aber, das nicht existiert, kann nicht leiden. Das leidende Ich ist immer eines, das anhaftet, sich festkrallt, sich verzehrt nach Vergangenem oder Zukünftigem, das sich aufbläst und aufbläst und leider! leider! – nie platzt!

    Geschähe das doch nur!

    Wie einfach ist es, loszulassen, die großen, schweren Bündel, die wir auf der Schulter tragen, fallen zu lassen – und frei zu werden. Frieden zu finden.

    Loslassen! In jedem Augenblick: loslassen! Alle Konzepte, alle Vorstellungen, alle Hoffnungen, alle Träume, alle Ängste.

    Es hat alles keine Substanz. Es ist nur ein Produkt des Geistes, der es hervorbringt, aber auch dieser Geist, und damit die Persönlichkeit, die sich durch des Geistes Tätigsein konstituiert, ist leer.

    Leer.

    Wie kann etwas sein, was nicht ist? Es ist und ist nicht, in unendlicher Prozesshaftigkeit, aber nie in einer Zuständlichkeit.

    Ich will.

    Und das ist das Problem.

    Vor allem will ich wissen. Verstehen. Erkennen.

    Ich will etwas sein, was ich schon längst bin.

    Nur ist mit das zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst.

    Oder doch?

    Vorspann am See – Drei Tage zuvor

    Es sind noch drei Tage bis zu meiner Abreise in ein zenbuddhistisches Laienkloster in Brasilien. Brasilien und Zen-Buddhismus – wie passt denn das zusammen?, fragte ich mich, als ich zum ersten Mal von der Einrichtung hörte, die etwa hundertfünfzig Kilometer von Petropolis, Brasiliens alter Kaiserstadt, entfernt liegt. Brasilien verband ich nicht unbedingt mit der Strenge der zenbuddhistischen Disziplin, aber im Grunde zeigte dieser Vorbehalt nur, wie eng mein Denken war. Natürlich „passt Zen genauso gut nach Brasilien, wie es nach Deutschland passt. Oder nach Australien. Oder Island. Oder wohin auch immer. Außerdem leben etwa 1,2 Millionen Menschen japanischer Abstammung in Brasilien, sodass es naheliegt, dass es in diesem vom Christentum geprägten Land eine „Minderheit gibt, die Zen praktiziert.

    Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurde ich auf diese Einrichtung aufmerksam. Die Mutter meiner Freundin drückte mir einen Flyer in die Hand und meinte, das könne mich interessieren. Ich sah eine Ansammlung kleiner Häuschen, ziemlich windschief und nicht sehr vertrauenserweckend. Es waren sieben oder acht, am Rand gab es ein größeres Haus, eine Wiese, auf der Kühe weideten, über allem ein makellos wolkenloser Himmel und eine Sonne, deren Gelb geradezu in die Augen stach. Zen do Brasil las ich und sah einen ungewöhnlich großen lächelnden Mann mit europäischen Gesichtszügen, die Hände artig vor einer Robe gefaltet, unter der er, so vermutete ich, ziemlich schwitzen musste. Ich faltete den Flyer auf, las das Programm des Zen do Brasil, das im Wesentlichen aus Tag für Tag stattfindenden Zeiten für das Zazen bestand. Außerdem gab es jeden Monat ein fünf Tage dauerndes Retreat, das in Schweigen verbracht wurde. Es gab die Möglichkeit, sich für längere Zeit in dem Laienkloster aufzuhalten. Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung waren nicht gerade gering. Außerdem wurde von jedem, der sich entschloss, für Wochen oder Monate am Klosterleben teilzunehmen, erwartet, dass er mehrere Stunden täglich arbeitete, um den Erhalt des Klosters zu gewährleisten.

    In dieses Kloster wollte ich. Den Flyer hatte ich aufbewahrt, er war nun sieben Jahre alt, aber die Website des Klosters war aktuell, und auch der japanische Vorsteher schien sich noch bester Gesundheit zu erfreuen.

    Obwohl dieses Zentrum nur knapp achtzig Kilometer von dem Haus entfernt liegt, in dem ich die Wochenenden mit meiner Freundin verbrachte, bin ich damals nicht dorthin gegangen. Ich hatte die Nase voll vom Zen. Eine unerfreuliche Begegnung mit dieser Form der buddhistischen Geistesschulung hatte ich in Japan kennen gelernt. Ich war nach Brasilien geflogen, weil ich eben nichts mit Zen zu tun haben wollte, aber irgendwie begegnete ich ihm überall.

    Es ist das Jahr 2006. Meine Freundin ist vor einem Jahr zurück nach Brasilien gegangen, weil sie nicht mehr in Berlin leben wollte. Immerhin hat sie vierzehn Jahre in Deutschland verbracht, studiert, ihren Abschluss gemacht, aber irgendwann hatte sie die Nase voll von Berlin im November, wochenlangem Grau und Regen, gepaart mit der Miesepetrigkeit der hauptstädtischen Bevölkerung. Ich konnte sie verstehen. Nur fand ich es nicht so toll, dass sie die Koffer packte und verschwand, während ich zurückblieb und die Frage beantworten durfte, wie es mit uns weitergehen sollte. Es würde nicht weitergehen, wenn ich in Berlin lebte und sie in Brasilien. Das wäre dann entschieden mehr als eine Fernbeziehung. Also entschloss ich mich, all mein Hab und Gut zu veräußern, meinen Besitz zu reduzieren, bis er in wenige Taschen passte, ein Ticket zu kaufen und nach Brasilien auszuwandern.

    Es ist im Augenblick einiges los in meinem Leben, und es fällt mir schwer, mit den Veränderungen Schritt zu halten.

    Ich bin auf dem Weg zum Liepnitzsee. Seit ich dieses kleine Juwel, das inmitten eines Waldgebietes liegt, zwei Jahre zuvor entdeckt habe, bin ich immer wieder dorthin gefahren. Mit der S- und Regionalbahn bin ich eine Stunde unterwegs zum Bahnhof Wandlitzsee. Von dort gehe ich dann noch einmal fünfzehn Minuten, bis ich den Rand des Waldes erreiche.

    Es ist der 6. September 2006, ein kalter, grauer Tag. Als ich in Wandlitz den Zug verlasse, bin ich froh, dass ich einen Pullover eingesteckt habe, den ich mir überziehen kann.

    Als ich am Morgen dieses Tages aus dem Bett stieg, musste ich nicht lange überlegen, wie ich diesen Tag verbringen wollte. Ich schmierte mir Brote, füllte die Thermoskanne mit Tee, packte alles in meinen Rucksack und verließ die Wohnung. Doch ich war etwas zu spät losgegangen, sodass mich Zweifel überkamen, ob ich die S-Bahn erreichen würde. Ja, mich ergriff eine gewisse Verzweiflung, als ich auf die Uhr schaute und feststellte, dass mir nur noch zwei Minuten blieben. Ich wollte auf jeden Fall zum Liepnitzsee und nicht zurück in die Wohnung. So lief ich die letzten Meter, hastete die Treppe zum Bahnsteig hinauf und kam gerade rechtzeitig. Der Fahrkartenautomat spuckte das Ticket aus, als die S-Bahn einfuhr. Bornholmer Straße stieg ich um, in Karow noch einmal, nun in die Regionalbahn. Trotz des trüben Wetters waren viele Menschen unterwegs, Familien, Fahrradfahrer.

    Der Liepnitzsee liegt inmitten eines Waldes, zu Fuß brauche ich etwa fünf Stunden, um ihn einmal zu umrunden. Das Laub der Bäume am See beginnt, sich zu verfärben. Im Wald sieht es jedoch noch anders aus. Die Blätter an den Zweigen der mächtigen, hoch aufragenden Buchen, deren Stämme wie Säulen wirken, so grade sind sie gewachsen, sind noch grün.

    Ich mache Rast an einem dem Liepnitzsee vorgelagerten kleineren Teiche, setze mich auf eine Steinbank, hole meine Thermoskanne heraus und schaue auf das Wasser, dessen Oberfläche sich kaum bewegt. Ich genieße die Stille dieses Ortes. Am Ufer hat jemand Steine, Äste und Laub so angeordnet, dass der Eindruck entsteht, vor einem Natur-Altar zu sitzen, den Geistern des Waldes – oder wem auch immer - gewidmet.

    Ich gehe weiter Richtung Ützdorf. Immer wieder bleibe ich stehen, um an besonders schönen Stellen den Ausblick auf den See und den Wald zu genießen. Der Weg führt am Ufersaum entlang, manchmal ergibt sich die Möglichkeit, von einem Bootssteg aus über das Wasser zu blicken. Doch als ich in Ützdorf aus dem Wald komme, fühle ich mich so flau, dass ich ohne zu zögern in die Gaststätte dort gehe. Fast alle Tische sind besetzt, doch ich finde noch einen Platz, bestelle einen Kaffee und Toast und mache mich nach einer halben Stunde auf den Rückweg entlang des gegenüberliegenden Ufers.

    Ich bin allein. Das schmerzt. Die Spaziergänger, denen ich begegne, sind fast immer als Paar oder in einer Gruppe unterwegs. Das Gefühl der Einsamkeit, das mich plötzlich überfällt, beißt in meiner Seele. Ich versuche es fortzuschieben, aber es gelingt nicht. Vielleicht mit einem Wunsch, der mich auf andere Gedanken bringt? Hätte ich doch meinen Aquarellmalkasten mitgenommen, um mich an dem einen oder anderen Motiv zu versuchen, das mir in dieser Landschaft begegnet.

    Ich setze mich noch einmal auf eine Bank, die unweit des Ufers steht. Schilfhalme wiegen sich leicht im Wind, der Himmel ist regengrau. Auf der anderen Uferseite erkenne ich inmitten der starken, gerade gewachsenen Bäume ein Gerippe, kahl, grau, ohne Zweige, tot, doch immer noch von imposanter Größe. Ein Caspar-David Friedrich-Motiv.

    Noch drei Tage, denke ich, und beim Nachdenken über die heutigen Stunden geht mir Buddhas Axiom vom Leiden durch den Sinn. Wie Recht er doch hatte. Hat! Ich leide unter Hunger, Schwäche, der Kälte, der Einsamkeit, unter dem Druck, wieder nach Berlin zurückfahren zu müssen, um die letzten Vorbereitungen für die Reise zu treffen. Immer ist da ein Mangel, ein Unwohlsein, und obwohl es unzweifelhaft viele schöne Augenblicke an diesem Tag gegeben hat, begegne ich ständig einem Zustand, in dem etwas nicht stimmt, mir etwas fehlt, ich nach etwas strebe, das ich erledigen, erreichen muss. Es ist kein die Existenz bedrohendes Leiden, ich habe genug Geld in der Tasche, um mir etwas essen kaufen zu können. Es geht nicht um Verhungern oder Erfrieren. Aber dennoch: Leiden ist immer da.

    Ich erinnere mich an das „Wunderwort": Loslassen! und seufze, schaue auf das Wasser des Sees, blicke hinüber zu dem alten toten Baum und plötzlich, wie aus dem Nichts – natürlich: Woher auch sonst? – denke ich: Bei allem, was ich fühle, denke, erlebe – ich begegne immer nur mir selbst. Aber: Ich bin …- NICHTS. Ich habe NICHTS. Ich werde NICHTS sein. Wie kann das, was nicht ist, sich sorgen? Wie kann NICHTS leiden? Vollkommenes NICHTS aber bedeutet vollkommene Freiheit, bedeutet immer-seiendes Hier und Jetzt.

    Und weiter: Dennoch ist da etwas, was mir Sorgen macht. Was ist das, was nicht NICHTS ist?

    Der Geist spielt Theater. Der Geist bewegt sich. Der Geist bewegt sich nicht.

    Hoppla! Was war denn das? Ein Haarriss im Universum? In meinem Geist? Ich blicke auf das Wasser des Sees, das sich leicht kräuselt. Abgefallene Blätter bewegen sich schaukelnd auf den Wellen. Eine Ente paddelt neugierig heran. Es ist ganz still. Ich bin da. Und doch nicht da. Ich blicke auf meine Füße. Die sind auch da. Aber wo bin „ich"? Ich war, so viel steht fest, wenige Augenblicke zuvor nicht da. Ich war beim Schauen nur Schauen, war das Wasser des Sees, der alte Baum …- doch all diese Worte reichen nicht, um das Erlebte auszudrücken. Ich, als der Schauende, war nicht mehr. Es war nur: Schauen.

    Ich bleibe noch eine halbe Stunde sitzen, bis der Geist, mein Geist, der Geist in mir wieder anfängt, die Vorhänge zur Seite zu ziehen und Theater spielt: Wenn du jetzt nicht losgehst, dann bekommst du den Zug nach Berlin nicht mehr … Es wird dunkel … Du musst packen … Hunger …

    Als ich durch den Wald zurückgehe, frage ich mich, warum dieser Tag in der Natur schon wieder vorbei sein muss. Tja – schon wieder reingefallen! Noch ein paar Gramm mehr auf der Waagschale des Leidens. Kurze Zeit zuvor habe ich mir noch klar gemacht, dass diese Stunden hier draußen am See auch von den vielfältigsten Erfahrungen des Schmerzes und des Leidens durchzogen gewesen sind. Aber offenbar habe ich das schon wieder vergessen.

    Es geht zurück. Vom Bahnhof Wandlitzsee nach Karow, von dort zur Bornholmer Straße, weiter zum Treptower Park. Hier steige ich um in einen Bus und schließlich in die U-Bahn. Ich bin wieder in meiner Wohnung. Ich koche mir einen Kaffee, esse die Brote, die ich am See nicht verzehrt habe.

    Nun sind es nur noch zweieinhalb Tage bis zu meinem Abflug. Die Wohnung ist gekündigt und vom Vermieter abgenommen. Es steht nichts mehr in den Räumen. Die Yogamatte, auf der ich die letzten Nächte geschlafen habe, werde ich mitnehmen. In der Woche zuvor habe ich all meine Bücher zu meinen Eltern gebracht. Es fühlt sich gut an, nichts mehr zu besitzen. Fast nichts. Etwas ist ja noch da. Das, was ich in meine Taschen gepackt habe, was mit soll nach Brasilien in ein neues Leben. Hört sich gut an: ein neues Leben. Ob es gelingt? Ich weiß es nicht.

    Bin ich mir eigentlich im Klaren darüber, auf was ich mich da einlasse? Was gebe ich auf? Eine Tätigkeit als Taxifahrer, die mir das Überleben sichert, aber auch nicht mehr. Ich gehöre zum akademischen Proletariat. Ein Taxifahrer mit Doktortitel. Nach fünfeinhalb Jahren Studium plus zweieinhalb Jahre Promotionsstudiengang sitze ich hinter dem Steuer eines Mercedes und arbeite zehn bis zwölf Stunden für einen Lohn von etwa fünf Euro pro Stunde. Das lasse ich gern hinter mir, diese stressige Schinderei im Berliner Stadtverkehr, die mir die Kraft aus Körper und Geist gesaugt hat. Warum es mir nie gelungen ist, als Doktor phil. zu arbeiten? Ich weiß es nicht. Es ist mir ein Rätsel. Immerhin war ich erst 29 Jahre alt, als ich die Doktorarbeit verteidigte. Aber niemand wollte mich: keine Zeitung, keine Radio- oder Fernsehsender, keine Universität. Ja, es ist mir ein Rätsel. Das Germanistikstudium habe ich mit Freude und Leidenschaft betrieben. Die Auseinandersetzung mit den Werken Thomas Manns, Hermann Hesses und Hermann Brochs in meiner Dissertation hat mir eine große intellektuelle Befriedigung verschafft. Und Freude. Den „Faustus zu lesen – und alle anderen Werke Thomas Manns – den „Tod des Vergil, das „Glasperlenspiel, die Werke zu spüren, zu „schmecken, ihre geistige Strahlkraft zu erleben, sie entsprechend meiner Arbeitsaufgabe in der Dissertation zu analysieren, war ein Geschenk. Gerne hätte ich literaturwissenschaftlich weitergearbeitet im universitären Rahmen. Aber das hat leider nicht geklappt.

    Ich habe meinen Aufenthalt im Zen do Brasil für den Oktober geplant. Vier Wochen will ich dort bleiben. Meine Freundin ist damit einverstanden. Sie scheint froh darüber zu

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