Der singende Physiklehrer: Eine Rückmeldung aus der Schule
Von Helmut Wolters
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Über dieses E-Book
Im Epilog geht es um den Ausklang meines Lehrerlebens auf einem Sommerfest. "Das Ende meines Lehrerlebens soll mir zufallen wie ein reifer Pfirsich, der vom Baum fällt, ohne dass man daran zieht und zerrt."
Der erste Block "Einstieg" beschreibt meinen Werdegang zum Physiklehrer, der ich trotz allen Widerstandes gegen den Lehrberuf doch wurde.
Ich starte chronologisch mit meinem Geburtsjahr 1944. Die erste Grundmelodie meines Lebens scheint als die Angst um mein Leben, die dieser Zeit geschuldet ist, auf.
Eine Schilderung meiner Schulzeit am Gymnasium, die ich als einen Alptraum von Druck und Getriebensein erlebte, macht klar, weshalb ich zunächst kein Lehrer werden wollte, sondern den Weg eines Forschers in der Physik wählte. Dieser Weg des Forschers, der die Hochschullehre streifte, bewirkte einen Umschwung in meiner Ablehnung gegen den Lehrerberuf.
Im zweiten Block "Der singende Physiklehrer: Gib der Welt dein Bestes" geht es um meine Entwicklung als Lehrer. Er startet mit den beiden Liedern, die ich getextet und auf einer Abiturfeier der Schule aufgeführt habe. Diese Episoden rund um die Lieder sind bedeutsam für das Buch und finden sich daher auch im Titel wieder, weil sie die zweite Grundmelodie meines Lebens – Selbstvertrauen – anklingen lassen.
Der Rest dieses zweiten Blockes erzählt chronologisch meine Entwicklung als Lehrer und Mensch von 1976 bis heute. Es geht um meine Entwicklung als Lehrer, um meine persönliche Krise und die Gegenmittel Atemübungen, Meditation, Therapiegruppen und Supervision.
Der dritte Block "Physik so lehren, dass sie dem Menschen dient" gibt eine Art Handlungsanweisung, wie ich mich darum bemüht habe, das Physiklehren so zu organisieren, dass es dem Menschen dient.
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Buchvorschau
Der singende Physiklehrer - Helmut Wolters
Leitspruch
„Jede Lektion, die du lehrst, lernst du."
Aus „A Course in Miracles"
Einstieg: Vom Forscher zum Lehrer
Die Chemie stimmt
Ich gehe auf einen grauen Betonbau mit orangefarbigen Fensterrahmen zu. Es ist ein sonniger Spätsommertag. Ich bin als Referendar mit dem Schulleiter meiner zukünftigen Ausbildungsschule verabredet. Viele Gedanken und Fragen schießen durch meinen Kopf, während ich über den Schulhof gehe.
Mir fallen die schlaflosen Nächte vor der Entscheidung, bei Dornier zu kündigen ein. Und musste mein Vater tatsächlich sterben, um diese Entscheidung treffen zu können?
War es klug bei Dornier zu kündigen und in den Referendardienst einzutreten? Ist Physiklehren wirklich meine Sache, der ich mein Leben widmen will? Fragen über Fragen.
Das Schulgebäude rückt näher, meine Gedanken kreisen weiter:Was ist, wenn ich für die Schule wirklich zu weichherzig bin? Wenn die Schüler mich „in die Pfanne hauen". Mein großer innerer Konflikt - Strenge versus Sanftheit - wie wird er aus gehen? Setze ich mich durch? Gelingt es mir zu kämpfen, oder werde ich untergebuttert? Anders ausgedrückt: Reicht mein Selbstvertrauen, um den Lehrerberuf auszufüllen oder werden meine Ängste mich aus dem Tritt bringen.
Beide Grundmelodien meines Lebens – hier die Angst, dort das Selbstvertrauen – klingen an.
Welche Melodie führt, welche begleitet?
Während ich auf den Verwaltungseingang zugehe, führt mein Selbstvertrauen. Ich gehe los, auf das Gespräch mit dem Schulleiter zu. Ich vertraue, dass mein Start gelingen wird.
Ich schaue auf und blicke nach vorne. Wäre mein ästhetisches Empfinden stärker ausgeprägt, würde ich beim Anblick des Schulgebäudes – 70-er Jahre Betonbau - sofort kehrtmachen. Doch meine Neugier auf das, was mich an dieser Schule erwartet, treibt mich vorwärts und lässt meine Angst in den Hintergrund treten.
Unbefangen betrete ich das Gebäude durch den schmalen Verwaltungseingang. Ich spüre eine leichte Anspannung in mir, halte kurz inne und klopfe am Sekretariat. Die Sekretärin bittet mich herein und führt mich ins Schulleiterzimmer. Ein ca. 45-jähriger Mann schaut mich mit klaren Augen an, steht auf und streckt mir seine Hand entgegen.
Nach dem üblichen Vorgeplänkel kommt er zügig zur Sache. Er hat meine Akte offensichtlich gelesen und fragt mich: Warum wollen sie Lehrer werden. Warum sind sie nicht als Forscher bei Dornier geblieben?
Ich beginne zu erzählen, und er hört mir wirklich zu, er will wissen, mit wem er es an seiner Schule zu tun bekommt. „Ich habe schon an der RWTH Aachen gerne die Übungen für theoretische Physik gehalten und meine Leidenschaft und mein Talent für das Lehren entdeckt", erzähle ich ihm.
Ich fühle, wie meine Anspannung nachlässt. Die Frage des Schulleiters zeigt mir, dass er an meinen Motiven interessiert ist. Schwungvoll fahre ich fort: „Ich habe die Firma Dornier und die Forschertätigkeit im Dienste eines Flugzeugunternehmens hinter mir gelassen, weil ich mich lösen wollte von der geheimen Militärforschung – wie tötet man Schweine und später eventuell auch Menschen am Besten mit Infraschall. Für solche Forschung wollte ich meine Arbeitskraft, Energie und mein Können nicht weiter zur Verfügung stellen."
Meine Ansichten zur Verantwortung eines Wissenschaftlers lassen den Schulleiter aufhorchen. Er findet das Thema Verantwortung und die Frage, wie weit man als Wissenschaftler für sein Handeln verantwortlich ist, für seine Schule bedeutsam. Er meint, dass man diesen Aspekt im fächerübergreifenden Unterricht von Physik und Philosophie in der Oberstufe seines Gymnasiums mit den Schülern diskutieren sollte und könnte.
Diese Idee gefällt mir. „Kreativ, der Schulleiter", denke ich bei mir.
Eine kurze Gesprächspause entsteht, wir schauen uns an. Der Schulleiter fährt fort: „Welche Vision von Schule haben Sie? Ich habe das bisher alle Lehrer gefragt, die hier anfangen wollten."
Ich hole tief Luft, mit einer solchen Frage habe ich nicht gerechnet. Ich komme aus einer Branche – der theoretischen Physik -, in der Visionen nicht so im Gespräch waren.
Dennoch fällt mir die Antwort, die spontan aus mir heraus kommt, nicht schwer: „Ich will weg von der autoritären Schule mit Zwang und Schlägen, wie ich sie erlebt habe. Hin zu einem demokratischen Miteinander, in dem Konflikte nicht mit Gewalt gelöst werden, sondern durch Gespräche, die durch Aufeinander - Hören, Toleranz und Kompromissbereitschaft geprägt sind. Auch will ich weg von dem Elitären meiner Schule. Ich will mein Wissen mit den Schülern teilen und sie befähigen, dieses Wissen zu verstehen. Ich will mich für eine Demokratisierung von Wissen einsetzen. Ich glaube daran, dass Schüler Raum zur Selbstentfaltung und zum Lernen brauchen, und ich will helfen, diesen Raum in Schule zu erschaffen"
Der Schulleiter nickt. „Gefällt mir und liegt auf meiner Linie", antwortet er.
Ich spüre Sympathie und habe das Gefühl, dass wir uns auf gleicher Augenhöhe begegnen. Hier kann und will ich bleiben und mein Lehren der Physik beginnen.
Wie als Dreingabe, um meine innere Entscheidung zu bestärken, kamen wir im weiteren Gespräch darauf, dass wir an der gleichen Schule in Uerdingen Abitur gemacht haben. Zufällig war es auch dieselbe Schule, an der mein Vater seinen mittleren Schulabschluss absolviert hatte. Kann es solche Zufälle geben?
Die Chemie stimmte, wie es so schön heißt, obwohl ich Physiklehrer war, und er die Fächer Geschichte und Englisch vertrat. Dieses Mal wurde mir vom Schicksal ein leichter Start beschert.
Zu der Zeit weiß ich noch nicht, dass 20 Jahre intensiver Zusammenarbeit vor uns liegen, die sich durch gegenseitige Wertschätzung auszeichneten. Vieles spricht für meinen Weg als Physiklehrer. Ob es ausreichen wird, als Lehrer zu bestehen und meine Vision zu verwirklichen, wird sich zeigen.
Wo ich herkomme
Die erste Grundmelodie
Mein Vater Josef Wolters war im Januar 1944 als Major der Wehrmacht in Frankreich stationiert.
Ich erblickte in Deggendorf das Licht der Welt. Meine Mutter erzählte, dass es draußen sehr kalt war.
Meine Eltern hatten 1929 in der kleinen Stadt Uerdingen am Rhein ein Haus gebaut, das ich erst später kennenlernen sollte. Da es in Deggendorf vermeintlich sicherer war, hatte mein Vater uns vier (meine Mutter, meine Schwester, meinen Bruder und mich) bei Tante Leni, einer Verwandten meines Vaters, untergebracht.
Als ich ungefähr ein Jahr alt war, unterhielt sich meine Mutter Karoline mit Tante Leni: Du, Leni, hast du heute schon den Briefträger gesehen?
Nein, Karoline, er kommt doch immer erst um 12 Uhr. Was für einen Brief erwartest du denn?
Na ja, der Josef hat sich schon zwei Monate nicht mehr gemeldet, und ich mache mir große Sorgen um sein Leben. Leni:
Mei was klagst du denn, der Maria ihrer hat sich schon drei Monate nicht mehr gemeldet und von der Ruath der, da hat die Ruath erst nach einem halben Jahr erfahren, dass er gefallen ist. Da geht es dir doch noch gut."
Die Angst meiner Mutter um das Leben meines Vaters, um ihr Leben und das ihrer Kinder habe ich wie mit der Muttermilch eingesogen. Angst blieb eine Grundmelodie in meinem Leben. Aber es gab noch andere Melodien. Wie greifen sie ineinander zu meinem Lebenslied?
Uerdingen, den 24.2.1954
Zehn Jahre später. Mein Vater hatte den Krieg wie auch seine mehrere Monate währende Flucht aus dem Berliner Raum nach Deggendorf, körperlich unbeschadet und mit viel Glück überlebt. Er hatte sich seine alte Stelle als Leiter der Kassenärtztlichen Vereinigung Duisburg wieder erkämpft, so dass die Zeiten des Mangels an Essbarem und auch an Geld langsam zu Ende gingen. Die Lok des Wirtschaftswunders nahm Fahrt auf, ich kam in die Volksschule und nach vier Jahren ging es für mich darum, wie meine schulische Laufbahn weitergeht. Wenn ich gefragt worden wäre, hätte ich gesagt: Ich bleibe auf der Volksschule und werde danach Schreiner.
Denn ich mochte den Geruch von Holz, hatte es mit Vergnügen in meinen Händen und bastelte oft damit.
Doch mein Vater hatte andere Pläne mit mir. Er war ganz klar der Chef der Familie, ein Patriarch alter Schule, der seine Familie mit strenger Hand führte, der - preußisch erzogen - zehn Jahre lang als Soldat diente und beide Weltkriege mit Glück überlebt hatte. Er wollte für mich seinen jüngsten Sohn eine akademische Ausbildung organisieren. Deshalb sollte ich auf das Gymnasium gehen und als Erster und Einziger der Familie Abitur machen. Diesem Ziel meines Vaters ordnete ich mich unter, wie es sich für einen gehorsamen Sohn, der ich ohne Zweifel war, gehörte.
Als Zehnjähriger stehe ich vor dem roten Backsteinbau, Lyzeum Uerdingen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch gehe ich die Treppe hinauf und durch die quietschende Glastüre in eine große Eingangshalle. Es riecht nach Bohnerwachs. Anspannung ist in mir. Meine Gedanken kreisen um ein Thema: Hoffentlich packe ich die Prüfung. Werde ich es schaffen? Mein Volksschullehrer Dr. Abel glaubte an mich. Er riet meinen Eltern: „Melden sie den Jungen am Gymnasium an, der schafft das." Was wird mein Vater sagen, wenn ich es nicht schaffe?
Ich frage mich, wo er wohl sein mag, der Raum, in dem die Aufnahmeprüfung stattfinden soll. Keine Hinweisschilder, nichts. Doch da hinten sehe ich eine geöffnete Türe, da wird es sein. Ich gehe in den Raum hinein. Viele Schüler meines Alters ca. 60 an der Zahl sitzen dort an Einzeltischen und warten auf das Aufnahmeritual, das jedes Jahr hier abläuft. Nur die Besten eines Jahrganges sind eingeladen. Die anderen landen auf der Volksschule, wie diese Schulform damals hieß.
Ein Lehrer raunzt mich unfreundlich an: Steh nicht so rum, setz dich da an den Tisch.
Ich folge seiner Anweisung und bald geht sie los die Prüfung. Ich kann mich heute nicht mehr an die Aufgaben erinnern, wohl noch an die Erleichterung, als ich es geschafft hatte. Die Gefühle klangen allmählich ab und der Alltag kehrte ein. Nach dieser glücklich bestandenen Prüfung begann die mühsame Reise durch meine Gymnasialzeit. Was machte die Schule aus mir? Auf welchen Weg führte mich dieser Ritt durch die Gymnasialzeit?