Staub des Lebens: Schicksalsroman vietnamesischer Straßenkinder
Von Anton Schaller
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"Staub des Lebens" ist ein aufwühlender Roman, der die Leser in eine exotische, völlig fremde Welt entführt.
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Staub des Lebens - Anton Schaller
Kapitel 1
Mit einem Lächeln auf seinem eingefallenen Gesicht wacht Tay auf. Verschlafen blickt sich der Junge um. Und schon erlischt das Lächeln wieder, als er erkennen muss, dass alles nur ein schöner Traum gewesen ist. Ein Traum, der sicher nie in Erfüllung gehen wird. Tay liegt auf einer schäbigen Reismatte, eingehüllt in schmutzige Baumwolltücher, die ihn vor den gefährlichen Moskitostichen schützen.
Sein primitives Nachtlager befindet sich mitten auf dem Gehsteig. Hinter ihm stehen baufällige Häuser, an denen der Schimmelpilz wuchert. Müll türmt sich am Straßenrand in großen Haufen und verbreitet einen widerwärtigen, fauligen Geruch.
Tay rümpft nicht einmal mehr die Nase. Er kennt den Gestank dieser Straße, hat sich im Laufe der Jahre ganz an ihn gewöhnt. Mit seinen abgemagerten Fingern schält sich der Junge aus den Baumwolldecken und steht langsam auf. Sein hagerer, ausgemergelter, kleiner Körper streckt sich, und mit einem wehmütigen Seufzer rollt Tay sein Nachtlager zusammen. Der Traum ist ausgeträumt. Das schöne Schloss, in dem der Junge auf Seidenkissen schlafen konnte, existiert in Wirklichkeit nicht. Die Fantasie ist grausam, gaukelt wunderbare Bilder vor, die sich in nichts auflösen.
Tay steckt sein zerrissenes T-Shirt in den Bund seiner kurzen Hose und fährt sich durch sein struppiges, verfilztes Haar.
Dann macht er sich auf den Weg. Die Stadt erwacht zu neuem Leben. Saigon ist riesengroß. Fast vier Millionen Menschen leben hier auf engstem Raum beisammen. Saigon, auch Ho-Chi-Minh-Stadt genannt, verkörpert am meisten das Elend und die Armut von allen Städten Vietnams. Hier leben Tausende weit unter dem Existenzminimum und wissen nicht, wie sie ihre hungrigen Mägen füllen sollen.
Tausende Schicksale, die vom reißenden Fluss des Lebens an die scharfkantigen Klippen gespült worden sind, junge und alte Menschen, um die sich niemand kümmert und deren einziges Zuhause die Straße ist. Täglich werden es mehr. Viele kommen aus den ländlichen Provinzen in die Ho-Chi-Minh-Stadt, weil sie glauben, hier das große Glück zu finden. Doch niemandem wird etwas geschenkt. Arbeit, die sie ernährt, finden die wenigsten. Die meisten landen als Bettler und Diebe bei den „Street people", den Menschen, die auf der Straße leben und bei denen jegliche Hoffnung auf ein besseres Leben erkaltet ist. Sie finden sich mit ihrem Schicksal ab und vegetieren ohne Chance auf ein besseres Morgen dahin.
So wie Tay. Kaum 13 und schon am Ende. Kinderschicksal. Eines von vielen. Stumpf blicken die Augen des Jungen. Nichts gibt es in dieser Stadt, was ihn seelisch wärmen könnte. Tay weiß, dass er aus eigenem Antrieb nie aus seinem Elend herauskommt. Einem wie ihm gibt man keine Chance. Straßenkinder in Saigon sind nicht mehr wert als die lästigen Ratten, die das Kanalsystem der Riesenstadt bevölkern und immer wieder in baufälligen Stadtteilen ans Tageslicht dringen.
Das alles weiß Tay und er hat den Hass der Menschen, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen, nur zu oft zu spüren bekommen. Unzählige Narben auf seinem geschundenen Körper zeugen von gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Kaufleuten und Polizisten.
Tay atmet tief durch. Sein hagerer Brustkorb hebt und senkt sich. Dann marschiert er los. Seine zerschlissenen Bastschuhe schleifen über den Boden.
Der Junge verlässt die dreckigen Straßen des baufälligen Stadtviertels und nähert sich immer mehr dem Zentrum, wo der Verkehr zusehends dichter wird. Fahrräder sausen an Tay vorbei und viele Motorroller, die sich zwischen den alten, klapprigen Autos hindurchschlängeln. Immer wieder sieht man die mit bunten Tüchern bespannten Cyclos - die vietnamesische Version der chinesischen Rikschas. Busse und Lastkraftwagen röhren überlaut und verstopfen die viel zu engen Straßen.
Tay genießt ein wenig das bunte Treiben, er stößt sich nicht an dem Höllenlärm, der seine Ohren martert, und nicht am rußigen, öligen Gestank, der aus unzähligen Auspuffen dringt. Hier hat der Junge ein wenig Ablenkung, ist mitten drin im pulsierenden Leben der Riesenstadt und fühlt sich auf irgendeine Weise sogar geborgen.
Tay schlendert über die Mang-Thang-Tam-Straße, wird von hastenden, eilenden Menschen mehrfach angerempelt, stolpert immer wieder über bettelnde Menschen, die am Straßenrand sitzen und ihre knochigen Hände bittend nach oben strecken. Frauen sitzen da mit ihren Säuglingen am Arm und flehen die Vorübereilenden um ein paar Dong an. 5000 Dong am Tag müssten sie bekommen, um sich eine heiße Suppe und ein Schüsselchen voll Reis leisten zu können. 5000 Dong sind für diese Menschen ein Vermögen. Tay weiß, wie schwer es ist, diese Summe durch Betteln zu verdienen.
Der Junge schlurft weiter durch die Straßen. Die Luft wird immer wärmer, und zugleich nimmt die Feuchtigkeit in der Atmosphäre zu. Das Atmen wird immer mühsamer. Schon klebt Tay das T-Shirt am Körper fest. Wiederum bläst ihm ein vorüberfahrender Bus eine pechschwarze Rußwolke ins Gesicht, dass Tay nach Luft schnappt. Das Klingeln der vielen Fahrräder zerrt an den Nerven. Die Geräuschkulisse ist zermürbend.
Tay geht nun am prachtvollen Rathaus der Stadt vorbei, das sich hinter einem gut gepflegten Garten erhebt, und verlässt dann die breite, dicht befahrene Straße. Mit wenigen Schritten erreicht der Junge die engen, verwinkelten Gassen der Altstadt und steht wenig später am berühmten BenThank-Markt, wo ein wildes Gedränge herrscht. Tausende Vietnamesen preisen hier lautstark ihre Waren an. Dazwischen dröhnt hämmernde Beatmusik aus unzähligen, zum Teil scheppernden Lautsprechern. Radios, Fernsehgeräte und Uhren werden hier ebenso feilgeboten wie Obst, Gemüse, Fisch, duftende Gewürze und geräuchertes Fleisch.
Tay drängt sich zwischen den Leuten hindurch. Seine Augen stehen weit offen. Bei dieser Fülle von Waren erwachen viele Wünsche.
Der Junge spürt, wie sein Magen knurrt. Er hat großen Hunger. Ein Lebensmittelstand reiht sich an den anderen. Farbige Tücher bilden eine Art Dach, das vor den Strahlen der Sonne und vor dem Regen schützen soll. Frauen belagern die Obst- und Gemüsestände und verhandeln lautstark mit den Verkäufern. Die Kopfbedeckung vieler Vietnamesinnen besteht auch heute noch aus dem typischen Reisstrohhut, der wie ein flacher Kegel in der Mitte spitz zusammenläuft. Die Männer hingegen bevorzugen die amerikanischen Baseballkappen mit extragroßen Schirmen vorn und verstellbaren Bändern hinten.
Tay zwängt sich zwischen den Frauen hindurch, ergattert einen Platz in der vordersten Reihe und starrt verlangend auf die leuchtend frischen Früchte. Sein Herz beginnt plötzlich lautstark zu klopfen, sein Mund wird trocken. Wahnsinniger Hunger quält den Jungen -