Blut im Rinnstein: Skeptisch betrachtet
Von Werner Heinemann
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Blut im Rinnstein - Werner Heinemann
Werner Heinemann
Blut im Rinnstein
Skeptisch betrachtet
Das Gericht sprach Holger frei. Es war ihm keine Schuld am Tod der jungen Polizeibeamtin nachzuweisen. Wut und Enttäuschung waren der Staatsanwältin anzumerken. Sie knallte zornig ihre Unterlagen in den Aktenkoffer. Sein Anwalt drückte ihm stumm die Hand, der verächtliche Blick hinterließ Wirkung. Ohne ein Wort wandte sich sein Verteidiger von ihm ab.
Als freier Mann verließ Holger das Gericht. Er war erleichtert über das Urteil, das so nicht sicher erwartet werden konnte. Glücksgefühle eines Gewinners stellten sich dennoch nicht ein.
Was nun? Wie soll es weitergehen? Auf keinen Fall weiter wie bisher. Aber wie sonst? Bis auf die Vorsätze, die linksextreme Clique zu meiden und Beteiligungen an Gewaltexzessen zu unterlassen, hatte Holger keinen konkreten Plan. Ein klares Ziel hatte er nicht.
Die linken Freunde, die ihm während der Verhandlung beigestanden hatten, beglückwünschten ihn zum Freispruch. Eine Genossin mit lilafarbenen Haaren küsste ihn sogar links, rechts und mittig auf den Mund. Der örtliche Sprecher der ökologisch-sozialistischen Bewegung zitierte freudig große Worte: „Holger, der Kampf geht weiter!"
Sie bejubelten ihn wie einen erfolgreichen Stadtguerillero. Sein Vorhaben, diesen Leuten zukünftig aus dem Weg zu gehen, kam Holger jetzt schwieriger vor, als bis eben noch angenommen.
Holger bewertete positiv, dass seine antifaschistischen Mitstreiter beteuerten, wegen dringender Vorhaben mit ihm nicht ausgiebig feiern zu können. Er war ja einer von ihnen und wusste, wie sie tickten. Das linkspolitische Spektrum jubilierte einen Tag lautstark darüber, dass einem Antifaschisten endlich einmal Gerechtigkeit widerfahren sei. Das war es dann aber auch.
Längeren Nachhall und mehr Wirkung hätte man im Fall seiner Verurteilung erreichen können. Diese Opferrolle wäre für die selbsternannten demokratischen Aktivisten sehr ergiebig gewesen. Aber in Holger war während des Prozesses der Wunsch gereift, bloß nicht zum Märtyrer zu mutieren. Er wollte nicht einmal mehr Antifaschist sein.
Vertreter von Funk und Presse hatten seinen Wunsch akzeptiert, keine Interviews zu geben. Das mediale Interesse an ihm hatte ohnehin abrupt mit der Urteilsverkündung nachgelassen. Ein paar Fotos wurden geschossen und dann löste sich der kleine Pulk um ihn schnell auf. Die Lokalzeitung titelte anderntags: „Gerechtes Urteil: Der Angeklagte wird freigesprochen!"
Als er allein vor dem Portal des Gerichtsgebäudes stand, straffte er mühsam seine Schultern und ließ den Blick schweifen. Die Augen blieben an einer Frau hängen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein selbstbemaltes Pappschild in die Höhe hielt. Er las das blutrote Wort: „Mörder!"
Die Frau war ihm bekannt. Sie hatte die Verhandlungen, ihre Augen stets hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, stumm verfolgt und Holger ununterbrochen fixiert. Er hatte es vermieden, sie länger anzusehen. Er fürchtete, diese Frau könnte die Mutter der getöteten Polizistin sein.
Holger versuchte, nicht zu rennen, aber er eilte mit weit ausholenden Schritten davon. Er flüchtete vor einer Klägerin, die ihm einen Mord vorwarf. Vor der mit roter Farbe auf Pappe gepinselten Anklage: „Mörder!", konnte ihn der richterliche Freispruch nicht schützen.
Sein Mund war trocken, Druck lag auf den Augen und der Puls pochte wild in den Adern. Müsste er nicht schreien vor Freude? Aber nein, er fühlte sich noch mieser als vor dem Urteil.
Das geringe öffentliche Interesse an, oder gar Mitgefühl für eine totgeprügelte Polizeibeamtin, hatten alle Kräfte des politischen Systems schon längst gemeinsam erstickt und mundtot gemacht. Für die meinungsbildenden besseren Menschen hatte die junge Frau schlicht auf der falschen Seite gestanden und ihr Tod war nicht der Rede wert.
***
An einen der runden Tische vor der Kneipe „Zum Pils" ließ sich Holger nieder. Es war noch früh am Tag, so gegen 11 Uhr. Die kleine Wirtschaft hatte eben erst geöffnet. Die korpulente Kellnerin begrüßte ihn mit Namen; man kannte sich seit Jahren. Sie hieß Tanja.
Sie freute sich, dass er freigesprochen war. „Sonst säßest du ja jetzt nicht hier."
Er bestellte eine Apfelschorle.
Holger versuchte, sich zu sammeln, befreit von Belastung zu denken. Es gelang ihm nicht. Er blieb nervös und bedrückt. Ein junges Pärchen nahm am Nachbartisch Platz. Die Apfelschorle wurde serviert, die Bestellung von den jungen Leuten abgefragt.
Ein Schatten fiel von hinten auf Holger. Kurz darauf lag eine Hand auf seiner linken Schulter und an der rechten Kopfseite schob sich ein ihm bekanntes Gesicht nach vorn. Es starrte ihn schräg von oben an.
Sein ehemaliger Klassenlehrer Keffer erklärte seine Vermutung als bestätigt: „Da habe ich mich nicht getäuscht. Wahrhaftig, es ist der Lescher, der Holger Lescher."
Keffer rückte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich unaufgefordert neben Holger. Der wusste nichts zu sagen und nippte zur Überbrückung von der Schorle. Sein trockener Mund nahm die Erfrischung begierig auf. Holger genoss das kühle Nass.
„Menschenskind Lescher, was ist aus Ihnen geworden?", fragte Keffer im bedenklichen Tonfall.
Nach der Bedienung des verliebten Pärchens bat Tanja um Keffers Wünsche. Er bestellte eine Cola ohne Rocks aber mit Zitronenscheibchen.
„Tut mir leid", bedauerte die Kellnerin. „Eiswürfel sind nicht das