Das letzte Opfer
Von Günther Kernhoff
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Buchvorschau
Das letzte Opfer - Günther Kernhoff
1. Die Vorgeschichte - das verschwiegene Dorf
Das kleine Dorf Windhusen lag eingebettet in einer hügeligen Landschaft, umgeben von großen Feldern und Wald. Obwohl die Landstraße direkt an dem Ort vorbeiführte, war von der Hektik und Unruhe der nahen Kreisstadt wenig zu spüren. Es war eine einsame Gegend. Die Kirche mit angrenzendem Gemeindehaus stand auf einer kleinen Anhöhe. Im Kaufmannsladen wurde nicht nur eingekauft, sondern, wie in jedem Dorf, tauschte man hier die Neuigkeiten des Tages aus. Sogar eine Schule und eine Kneipe gab es in Windhusen. Trotzdem hatte man den Eindruck, die Zeit sei stehen geblieben. Unweit vom eigentlichen Dorf befanden sich drei Großbauernhöfe, sie lagen direkt am Rande eines Waldes, hinter hügeliger Landschaft gleichsam versteckt. Hier war es noch einsamer. Die Besitzer der Höfe lebten seit Generationen in gutem Einvernehmen miteinander und ihre Beziehungen zum eigentlichen Dorf beschränkten sich auf die sonntäglichen Kirchgänge und etwaige Einkäufe und Besorgungen unter der Woche. Zwei der Höfe lagen ziemlich dicht beieinander, und so ergab es sich, dass zwischen ihren Bewohnern ein besonders gutes nachbarschaftliches Verhältnis bestand. Der eine Hof gehörte dem Bauern Fritz Weinert, der andere einem Mann jüdischer Herkunft mit Namen Nathanel Nußbaum. Nathanel entstammte einer israelischen Hirtenfamilie, die vor langer Zeit in alle Welt gezogen war. Seine Vorfahren hatten in Deutschland eine neue Heimat gefunden und ihren Familiennamen entsprechend ändern lassen. Der Bruder von Nathanel wanderte vor einiger Zeit nach Amerika aus und besaß dort eine Rinderfarm. Die beiden Brüder verstanden sich immer gut, doch der Hof reichte nicht für beide. Eines Tages trennten sie sich im gutem Einvernehmen und blieben stets in brieflicher Verbindung. Das Jahr 1933 hatte gerade begonnen, die Nationalsozialisten waren an die Macht gekommen. In Deutschland begann sich die braune Pest auszubreiten. Nathanel war ein belesener Mann, nicht nur die jüdischen Schriften wie Tenach und Talmud, sondern viele andere Bücher der verschiedensten Autoren befanden sich in seinem Besitz. So war ihm auch das Buch mit dem Titel Mein Kampf
in die Hände gefallen, und er hatte es gelesen. Der darin geschilderte unverblümte Judenhass ließ ihn nichts Gutes ahnen, und so entschloss er sich kurzerhand, der wiederholten Aufforderung seines Bruders nachzukommen, und ebenfalls auszuwandern. Zu Beginn der Hitlerzeit war das noch ohne Weiteres möglich.
Der Entschluss des Familienoberhauptes wurde von seinen Angehörigen nach alter jüdischer Tradition angenommen, wenn auch zähneknirschend, denn sie waren sich der Tragweite des Vorhabens wohl bewusst. Nachdem alles Notwendige besprochen war, schritt Nathanel Nußbaum zur Tat. Zunächst sprach er mit seinem Freund und Nachbarn Fritz Weinert und bat ihn alles, was nicht zu Geld gemacht werden konnte, in seine Obhut zu übernehmen. Dazu gehörten Gebäude, das Vieh und natürlich das verbleibende Gesinde. Alsdann begab er sich in die Kreisstadt, um seinen langjährigen Freund Joseph Althöver zu besuchen. Sie hatten sich schon vor längerer Zeit in der Synagoge kennen gelernt und seitdem verband sie eine Männerfreundschaft. Auch ihre Familienangehörigen pflegten Kontakte, die sich nicht nur auf die Besuche der Synagoge beschränkten. Joseph betrieb einen Handel mit Antiquitäten, und Nathanel hatte von ihm einige wertvolle Möbelstücke erworben, welche er nun leider zurück lassen musste. Nach einer herzlichen Begrüßung brachte er sein Anliegen vor.
Du weißt ja, im vorigen Jahr kaufte ich von dir diesen wertvollen Schrank und noch einige weitere Möbelstücke.
Ja und, was ist damit, bist du nicht zufrieden?
Doch, doch, trotzdem möchte ich dich bitten alles zurück zu nehmen.
Wieso denn das, das verstehe ich jetzt nicht.
Wir wandern aus, nach Amerika, und da können wir nur Handgepäck und einige persönliche Sachen mitnehmen.
Warum wollt ihr denn auswandern und den Hof, das Vieh und euer ganzes Vermögen aufgeben? Ach ja, ich weiß schon, die Nazis. Beruhige dich, die halten sich nicht lange, der Spuk ist bald vorbei.
Davon bin ich nicht überzeugt. Ich habe
Mein Kampf gelesen. Der unverhüllte Judenhass, der darin zur Sprache kommt, lässt das Schlimmste erahnen.
Joseph beschwichtigte ihn.
Es wird nichts so heiß gegessen wie gekocht, ich bin überzeugt, dass sich alles noch zum Guten wenden wird
Ich sehe das anders, mein Entschluss steht fest. Mein Bruder besitzt eine Rinderfarm in Kalifornien, dort können wir erst einmal unterkommen. Übrigens war er es, der mir dringend geraten hat, Deutschland umgehend zu verlassen.
Joseph sah ein, dass da nichts zu machen war. Der Entschluss seines Freundes war offensichtlich unerschütterlich, er ging auf ihn zu und umarmte ihn.
Ich wünsche dir und deiner Familie alles Gute, die verkauften Stücke nehme ich selbstverständlich zurück, du wirst jeden Pfennig brauchen!
So wurden sie handelseinig. Joseph zahlte die Kaufsumme in bar aus und nahm die Schlüssel zu den Gebäuden des Hofes entgegen.
Nathanel sagte: „Vielleicht braucht ihr mal einen Unterschlupf."
Wenige Jahre später sollte es sich erweisen, wie weitsichtig diese Maßnahme gewesen war.
Die Bewirtschaftung des Hofes übernimmt mein Nachbar Fritz Weinert, er ist in die Sache eingeweiht und wird dir bei der Abholung der Möbelstücke behilflich sein
, erklärte Nathanel seinem Freund. Sie redeten noch eine Weile über Belanglosigkeiten und trennten sich dann endgültig. Alles geschah wie geplant und besprochen. Die Familie Nußbaum wanderte aus, Joseph Althöver holte seine zurück gekauften Möbel ab, und Bauer Fritz bewirtschaftete den verlassenen Hof so gut es eben ging. Die Jahre verflogen und die Verfolgung der Juden nahm immer brutalere Formen an. Die deutsche Bevölkerung wurde aufgerufen nicht mehr in jüdischen Geschäften einzukaufen, jeden Kontakt mit Juden zu vermeiden, und sie sogar zu denunzieren, was nicht selten auch geschah.
In der einsamen Gegend um das Dorf Windhusen merkte man davon allerdings nicht viel. Vielleicht lag es daran, dass gerade die Bauern von der neuerlichen Entwicklung nicht allzu viel hielten. Sie verhielten sich unauffällig um nicht aufzufallen, konnten und wollten aber nicht verstehen, mit welchen menschenverachtenden Methoden gegen die jüdische Bevölkerung vorgegangen wurde. Sie hatten mit diesen Leuten immer in gutem Einvernehmen miteinander gelebt. Es gab gut nachbarschaftliche, wenn nicht sogar freundschaftliche Beziehungen zwischen Juden und Deutschen. In der Kreisstadt jedoch, wo Joseph Althöver sein Geschäft betrieb, verlief die Entwicklung ganz anders. Die dort ansässigen deutschen Juden bekamen den Hass, der von den Nazis ausgesät worden war, zu spüren. Man grüßte sie nicht mehr und wechselte die Straßenseite, wenn man ihnen begegnete. Eines Morgens musste Joseph Althöver beim Öffnen seines Ladens feststellen, dass seine Schaufenster mit Judensternen beschmiert waren. Vor einem der Fenster stand ein Schild mit der Aufschrift: Deutsche, kauft nicht bei Juden!
Es gab eine Reihe von Gesetzen, welche mit dem Ziel erlassen wurden, die jüdische Bevölkerung immer mehr aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen.
So gab es Ausgehverbote in den Nachtstunden und vieles andere mehr. Bei Übertretung der Anordnungen kam es zu Verhaftungen und nicht nur dann. Die jüdischen Menschen waren vogelfrei. Das alles gipfelte in der sogenannten Kristallnacht am neunten November des Jahres 1938. Die Synagoge der Kreisstadt brannte lichterloh. SA-Leute drangen unter dem Jubel zahlreicher Gaffer in die jüdischen Häuser ein, zerschlugen die Möbel und Einrichtungsgegenstände und zwangen die Bewohner auf die Straße. Viele Menschen wurden verhaftet oder an Ort und Stelle getötet.
Joseph Althöver ging es nicht anders als seinen Leidensgenossen. Auch er wurde mit seinen Angehörigen aus dem Haus gejagt, und das Geschäft und die darüber liegende Wohnung glichen einem Trümmerhaufen. Die Zerstörungswut der SA-Männer kannte keine Grenzen. Die Bewohner fanden sich auf der Straße wieder, wo sie von den dort befindlichen Menschen ebenfalls verhöhnt und belästigt wurden. Joseph gelang es trotz des allgemeinen Tumults oder gerade deshalb, sich und seine Angehörigen unbemerkt in Sicherheit zu bringen. Sie versteckten sich in einer naheliegenden Häusernische und warteten ab, bis die SA-Schergen weiter gezogen waren. Als die Lage sich dann etwas beruhigt hatte, überzeugte sich Joseph erst einmal, ob sie vollzählig waren. Es waren neun Personen, Joseph, seine Frau, sowie seine zwei Söhne und zwei Töchter, alle schon erwachsen, weiterhin sein Angestellter mit Frau und einer zwölfjährigen Tochter. Sie standen alle dicht gedrängt in der Häusernische und zitterten vor Angst und Entsetzen über das Vorgefallene. Joseph jedoch befühlte den Schlüsselbund in seiner Hosentasche und ergriff die Initiative.
„Sobald es etwas ruhiger geworden ist, werden wir uns trennen und uns zu Nathanels Hof begeben." Er beschrieb ihnen den Weg dorthin.
Auch im Zug verteilen wir uns auf verschiedene Abteile
, sagte