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Der Westwald: Geschichten aus dem Grenzland
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eBook321 Seiten4 Stunden

Der Westwald: Geschichten aus dem Grenzland

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Über dieses E-Book

Wenn der Herbstregen gegen müde Fenster trommelt, und ein kalter Wind durch verlassene Straßen pfeift, wird es Zeit, sich in die dunkleren Träume der Menschheit zurückzuziehen. Jenseits des grauen Schleiers gibt es nämlich eine Welt, die nur wenigen offenbar wird, und deren illustre Eingeweihte Hymnen auf alte Götter und verlorene Äonen singen. Lass mich in diese Welt entführen! Denn du wirst sehen, schon bald wirst du für immer in diesen Träumen bleiben wollen...

8 Horror-Kurzgeschichten gedacht als Lobeshymne auf Kafka, Lovecraft und E.T.A. Hoffmann. Fans von altem Horror und bizarren Geschichten kommen garantiert auf ihre Kosten!
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum30. Aug. 2020
ISBN9783752914115
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    Buchvorschau

    Der Westwald - Lukas S. Kindt

    Mordfall am Ende der Welt oder das Endgültige Utopia

    »Müller, was fummeln Sie da an ihrer Waffe herum, kommen Sie endlich hier rüber und helfen Sie mir!«

    Müller zögerte einen Moment, bevor er der Aufforderung seines Vorgesetzten, Polizeioberkommissar Schulz, folge leistete. Schließlich sank jedoch die mattschwarze Walther PPK wieder in das Holster zurück. Der Polizist entspannte sich aber nicht komplett, denn er hatte definitiv etwas gehört, da draußen im Nebel und heutzutage konnte man schließlich nie sicher genug gehen...

    Als er dennoch nichts weiter mehr vernahm, stakste er durch die penibel geputzt scheinende Wohnung zu seinem älteren Kollegen rüber, der ungeduldig an der Küchenzeile wartete und zusammen begannen sie nun den Tatort zu analysieren. Das Opfer, ein junger Student mit schwarzen kurz geschnitten Haaren, der immer noch im Schlafanzug steckte, lag zusammengebrochen mit seinem Oberkörper und dem Gesicht nach unten auf der Küchenzeile des beengten Einzimmer-Apartments. Eine Eintrittswunde - offenbar von einer Kleinkaliberwaffe verursacht - befand sich genau mittig am Hinterkopf. In der Filterkaffeemaschine links neben dem Opfer kühlte sich dabei der Kaffee immer noch langsam ab, jedoch war die Menge für eine einzelne Person zu viel. In Kombination mit dem Fakt, dass es keinerlei Einbruchsspuren gab, kam Müller rasch zum Ergebnis, dass das Opfer mit seinem Mörder offenbar ein kleines Kaffeekränzchen veranstalten wollte. Wieso dann aber der Schlafanzug?

    Der ältere Kollege, der sich gerade seufzend über seine schütteren und etwas verzweifelt über die Seite gegelt wirkenden Haare strich, schlussfolgerte gerade in diesem Moment dasselbe.

    »Armer Junge. Das Schwein hat ihn urplötzlich von hinten überrascht. Und das Opfer hat dabei den Täter für einen guten Freund gehalten. Sie waren zumindest sehr vertraut miteinander gewesen... Und wer denkt auch schon daran, dass man heutzutage noch von jemandem ermordet werden könnte. Jetzt wo das PROZEDERE beinahe abgeschlossen ist. Der Junge hätte es schon fast hinter sich gehabt. Eine Schande...«

    Kopfschüttelnd stand Hauptkommissar Schulz auf und fixierte Müller mit seinen Augen. Er hoffte wohl auf irgendeine Art von Antwort oder Bestätigung. Müller konnte sie ihm jedoch nicht geben und zuckte stattdessen nur mitteilungslos mit den Achseln. Der Alte fuhr daraufhin fort. Er schien irgendwie angesäuert zu sein:

    »Aber anscheinend gibt es immer noch welche, die sich dem PROZEDERE zur Erschaffung des endgültigen Utopias widersetzen. Das ist traurig, jedoch nicht ganz unerwartet. Ja, ja, es sind wirklich düstere Zeiten heutzutage... Kann´s kaum erwarten, bis das alles hier vorüber ist.«

    Müller starrte zur Seite. Er war ein bisschen verlegen, denn er verstand sich nicht besonders gut mit seinem Kollegen und über das PROZEDERE wollte er schon gar nicht mit seinem Vorgesetzten sprechen.

    Da hörte plötzlich der junge Kommissar wieder das schreckliche Geheule von draußen. Instinktiv wanderte seine rechte Hand zur Walther. Die Sicherung des Holsters löste sich mit einem Klacken.

    »Müller...Müller...«, sagte jedoch der alte Schulz daraufhin beruhigend und klopfte ihm auf die Schulter. Seine Stimme, mit der er den jüngeren Kollegen tadelte, klang dabei so verächtlich und herablassend wie immer. »Wieso nehmen Sie überhaupt noch dieses Ding mit? Kennen Sie denn DAS PROZEDERE nicht? Niemand darf auf die Neperrenten schießen, solange die Verhandlungen noch laufen. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Also lassen Sie sie doch  heulen und klagen. Wir können sowieso nichts dagegen tun. Und bald ist ja sowieso alles vorbei.«

    Unangenehm berührt zog Müller seine Schulter von der eiskalten Hand des Vorgesetzten zurück. Ihm missfiel der nasal-belehrende Ton des älteren Polizisten. Und außerdem kannte der junge Kommissar DAS PROZEDERE genauso gut wie Schulz. DAS PROZEDERE war ja schließlich das einzige, was einem noch auf der Polizeiakademie beigebracht wurde. Alles andere - Schießübungen, das richtige Ermitteln und selbst das Lernen von Gesetzen und Konfliktbekämpfung - war mittlerweile zum Vorteil DES PROZEDERES gestrichen worden. Müller gefiel das überhaupt nicht. Da unterbrach der alte Schulz die frustrierten Gedankengänge des jungen Kollegen erneut:

    »Kommen Sie, Müller! Wir sind hier fürs erste fertig. Fahren wir noch einmal zur Station zurück. In drei Tagen ist sowieso alles vorbei. Dann können wir endlich Feierabend machen. Und wer weiß? Vielleicht finden wir ja sogar noch den Mörder in dieser Zeit… Wobei ich nicht darauf wetten würde. Der Täter scheint mir äußerst geschickt vorgegangen zu sein.« Müller nickte nur steif und zusammen verließen sie nun das klaustrophobische Apartment, das eh langsam zu müffeln begann.

    Draußen schlug den beiden Polizisten indessen ein dichter Schwall Nebel entgegen, der ihnen kaum zehn Meter Sichtweite ließ. Eine unangenehm beißende Kälte begleitete dabei die undurchdringlich graue Wand und piesackte den ganzen Körper mit Tausend eisigen Nadeln. Müller  zog sich seine Kapuze daraufhin tief ins Gesicht. Das Geheul der Neperrenten aus dem Abgrund hatte mittlerweile jedoch aufgehört. Müller war es nur Recht. Diese gurgelnden und höhnisch lockenden Rufe aus den Tiefen des Nebels konnten nämlich selbst dem mutigsten Mann Albträume fürs Leben geben und wenn man das Pech hatte, sie auch noch leibhaftig anzutreffen, waren Albträume noch das Schönste was einem erwartete.

    In diesem Moment war jedoch nichts mehr zu hören außer das gelegentlich entfernte Rauschen von müden Autoreifen über nassem Asphalt. Trotzdem stellten sich die Nackenhaare des jungen Kommissars steil auf. Denn auch wenn keine Geräusche zu hören waren, begann doch jedes Mal die Fantasie verrückt zu spielen, sobald man den dichten Eisnebel DES PROZEDERES betrat. Man konnte sich ihm einfach nicht entziehen. Der Einfluss war zu mächtig, der hypnotische Sog zu stark. Schwarze Gestalten ohne bestimmbare, feste Form drangen deshalb schon nach kurzer Zeit aus den geisterhaft grauen Nebelarmen machtvoll in seine Vorstellungen ein und okkupierten bald jegliche Gedanken; zogen imaginäre Frauen und Kinder in unergründliche Tiefen hinab, um dort unten weiß Gott was mit ihnen anzustellen.

    Ja, in der Tat, Müller ahnte sehr wohl um die Bösartigkeit der Abgrundbewohner, die man Neperennten nannte, jedoch war es ihm und den anderen Polizisten durch DAS PROZEDERE strengstens verboten worden, auch nur die geringsten Schritte gegen sie zu unternehmen. »DAS PROZEDERE muss eingehalten werden, damit die Ordnung aufrecht erhalten bleibt!«, sprach Herr Schulz immer mit wichtigtuerischer Stimme bei jedem morgendlichen Briefing und was konnte ein junger Mann am Anfang seiner Karriere wie Müller schon gegen eine solch aufrechte und vernünftige Haltung des Oberen einwenden? Die Alten hatten gesagt: »DAS PROZEDERE ist gut.« Und die Jungen rebellierten dagegen, indem sie es nur umso fanatischer einhielten. Das war der Fluch jener Zeit.

    Da durchbrach ein schrilles Kreischen plötzlich die angespannte Stille zwischen den beiden Polizisten. Schallwellen aus bizarren Frequenzbereichen, die nicht genau erkennen ließen, ob es sich bei dem Verursacher um einen Mann oder eine Frau handelte, spalteten den Nebel und marterten die Ohren der Polizisten. Es war ein Schrei, so voller Verzweiflung und Machtlosigkeit, dass Müller nicht mehr anders konnte. Entgegen allen Regeln zog er zitternd seine Pistole aus dem Holster und zielte mit weit aufgerissenen Augen in den Nebel hinein. Sein Kollege sagte irgendetwas neben ihm, aber der unmenschliche Schrei schien ihnen ihre Stimmen genommen zu haben. Müller verstand gar nichts mehr.

    Dann waren da auf einmal abgehakte Bewegungen vor den beiden Polizisten im Nebel. Schwarze verdrehte Arme und Beine ohne Körper tanzten wie hinter einem stark angelaufenem Milchglas, sodass man nichts näheres erkennen konnte. Ungelenke Schritte kratzten über den nassen Asphalt und ein stöhnendes Seufzen wie von hundert gepeinigten und verdammten Seelen hob sich an.

    »Müller, was tun Sie denn da?«, konnte er endlich seinen Kollegen verstehen, »Sie sehen ja ganz verschwitzt aus! Kommen Sie, ich bring Sie zum Auto. Der Fall scheint Sie ja wirklich mitzunehmen...«

    Schulz zog ihn am Ärmel und widerstandslos ließ sich Müller  von diesem grauenvollen Ort wegführen. Er hatte für heute genug gehabt. Dieses ständige Geheule, die Abgründe, die sich im Boden auftaten, das Morden, die Apathie, die Angst, die Leere und schließlich: Das drohende, allgegenwärtige Ende; Müller schloss müde die Augen und dachte nach. Noch drei Tage, dann war es endlich vorbei. In drei Tagen würde er gemütlich mit seiner Familie am Esstisch sitzen und mit ihnen geduldig warten, bis das Ende schließlich kam. Noch drei kurze Tage... Noch drei so endlos lange Tage.

    Müller machte die Augen wieder auf und bemerkte überrascht, dass sie schon die verwaiste Hauptstraße zur Polizeistation entlangfuhren. Er musste wohl in der Zwischenzeit ohnmächtig geworden sein.

    »Na, ausgeschlafen, Junge?«, kam es dann auch prompt sarkastisch von der Fahrerseite, »Sie sollten wirklich mehr auf sich acht geben, Mann. Sie sind mir da draußen komplett weggekippt. Ich konnte Sie gerade noch zum Auto schleifen. Die Neperrenten wollten sie sogar schon mitnehmen. Hab ich gerade noch verhindern können. Da schulden Sie mir aber jetzt einiges, Müller!« Müller gähnte nur, ohne etwas zu sagen und starrte missmutig nach draußen.

    Ja, es wurmte ihn, dass er Schulz nun wirklich etwas schuldig war. Wenn er daran dachte, dass er ohne seinen wachsamen Vorgesetzten in diesem Moment unten bei den Neperrenten weilen würde, verspürte er ärgerlicherweise sogar so etwas wie Dankbarkeit. Immerhin konnte er nun den letzten Tag mit seiner Frau und seinen zwei Kindern verbringen. Das musste er wohl oder übel seinem Kollegen Schulz anrechnen.

    Draußen zogen indessen die verlassenen Häuser der Stadt an ihnen vorüber. Blinde, vernagelte Fenster starrten auf leere Straßen und düstere Gesichter unter tiefen Kapuzen verborgen, huschten hastig durch den dichten Nebel, worin Schemen mit viel zu vielen Beinen und Armen herumkrochen. Um sich von dieser melancholischen Szenerie abzulenken schaltete Müller das Radio ein und drehte es dabei fast ohrenbetäubend laut. Es kam gerade eine Verkehrsnachricht durch:

    »...MEHRERE TOTE BEI VERKEHRSUNFALL AUF DER A8 RICHTUNG MÜNCHEN. AUGENZEUGEN SPRECHEN VON EINEM NEPERRENTEN-ABGRUND, DER SICH PLÖTZLICH MITTEN AUF DER NEUSANIERTEN AUTOBAHN AUFGETAN HATTE. VON DER REGIERUNG GIBT ES BISHER NOCH KEINE STELLUNGNAHME DAZU, DA DER UMZUG NACH WEIBYLON IMMER NOCH IM GANGE IST. UND NUN ZURÜCK ZU DIR, PEtra...« Der alte Schulz drehte die gelangweilte Stimme des Radiomoderatoren wieder leiser, bis er schließlich ganz verstummte. Müller kam es dabei so vor, als wäre der Sprecher geradezu beleidigt, dermaßen unhöflich abgewürgt zu werden.

    »Nichts als Unfug kommt heutzutage in den Nachrichten. Die sollen mal wieder etwas Nettes bringen.« Schulz trommelte sichtlich genervt auf dem Lenkrad. «Ach, und übrigens, Müller, kontaktieren Sie das HQ. Wir sollten unseren jetzigen Status durchgeben...und vielleicht wäre es nicht schlecht, mal nachzusehen, ob die Jungs überhaupt noch da sind. Viele Kollegen scheinen immerhin zu meinen, dass sie einfach schon vor dem offiziellen Ende Schicht im Schacht machen könnten. Wirklich... Was für Flegel!«

    Der junge Kommissar tat wie ihm geheißen und wählte am Sprechgerät die verschlüsselte Frequenz der Polizeistation aus.

    »Hier Müller, wir kommen gerade vom Tatort im Univiertel zurück. Sind auf dem Weg zur Station. Seid ihr noch da? Ende.«

    Zuerst kam für einige Minuten nur ein leeres Rauschen und Knirschen aus dem Apparat zurück und der junge Kommissar rechnete schon fast damit, dass die Station bereits gefallen wäre - immerhin befand sich seit gestern direkt daneben ein gigantisches Neperrenten-Loch - aber zu seiner Erleichterung kam nach einer Weile äußerst schwach aber noch verständlich die apathische Stimme einer dösigen Frau durch:

    »Ja, hier Polizeistation-Hauptquartier. Sind noch da. Ach ja, Müller, Schulz: Der Chef hat gleich einen neuen Auftrag für euch. Der letzte für heute. Ihr sollt einen Experten von der Station zum Rathaus begleiten. Kriegt ihr beiden das hin?«

    Müller sah verblüfft auf die Sprechanlage, doch diese schwieg wieder. Einen Experten eskortieren? Das war doch keine Kommissar-Arbeit. Und ein Experte wofür überhaupt? Da schaltete sich räuspernd sein Kollege ein:

    »Sind auf dem Weg. Sagen Sie aber dem Experten, er soll vor dem Tor warten, aber sich vom Loch gefälligst fernhalten! Wir holen ihn ungefähr in zwanzig Minuten ab, Ende.«

    Dann schwiegen sie wieder. Nach einer gewissen Weile bogen die beiden schließlich nach rechts in die Innenstadt ab, kamen aber weiterhin wegen des dichten, allumgebenden Nebels nur sehr langsam voran. Müller hatte dabei urplötzlich das bedrängende Gefühl, dass diese graue, düstere Masse da draußen mittlerweile sogar noch fester und undurchdringlicher geworden ist. Man konnte immerhin fast gar nichts mehr erkennen. Selbst mit den grellen Lichtkegeln des Autos ließ sich diese Wand nicht niederringen.

    Wie ein Leichentuch bedeckte der ewig anhaltende Nebel DES PROZEDERES langsam die gesamte Welt und versteckte das Sterben der menschlichen Rasse. Müller fand das jedoch durchaus gut so, auch sein Kollege Schulz fand es gut so, die Regierung fand es gut so, das Volk fand es gut so und ebenso die ganze gesamte Menschheit. Man musste ja nicht alles sehen, und die mannigfaltigen Geräusche überall im Nebel genügten bereits durchaus, um erahnen zu lassen, was vor sich ging: Diese halb erstickten, widerhallenden Hilfeschreie in der Ferne, die gelegentlich auf taube Ohren fielen, sowie dieses boshafte Kratzen eifrig marschierender Neperrenten-Füße über zersprungenem Asphalt, oder aber auch das reißende Geräusch von Fleisch hinter jenem Zaun, an dem sie gerade vorbeifuhren;

    Die schrecklich betörende Sinfonie des Untergangs bildete sich aus all diesen verschiedenen Tönen. Und das war, ehrlich gesagt, schon mehr als genug; da musste man auch nicht mehr die Bilder dazu sehen.

    »Wir sind da«, bellte Schulz plötzlich und riss den jungen Polizisten damit aus seinen ewig kreisenden Gedanken, »ich seh den Experten aber nicht. Gehen Sie mal raus und  schauen Sie  nach, ob er vielleicht gefressen worden ist, oder so. Bleiben Sie aber nicht zu lange weg. Wenn sie in zehn Minuten nicht wieder da sind, mache ich nämlich Feierabend. Haben Sie verstanden?«

    Müller nickte seinem Kollegen zu und stieg mit pochendem Herzen aus dem Auto aus. Sofort umfing ihn wieder der dichte Nebel, dessen eigenartig zähe Masse seinen Körper mit fühlenden Fingern umgriff. Sich durch den Nebel vorwärts zu bewegen, war in der Tat ähnlich wie durch dünnes Gelee zu waten. Und dazu kam noch diese unheimliche Kälte, die ihn innerlich frieren ließ, während die Haut darüber fiebrig brannte; Woher dieser giftige Nebel kam und welchem Zweck er diente, darüber konnte nur spekuliert werden. Die Regierung behauptete zumindest felsenfest, dass er nicht mit den Neperrenten in Verbindung stand, sondern anderen Ursprungs war. Ob das tatsächlich der Wahrheit entsprach, konnte der junge Polizeikommissar nicht mehr beurteilen, denn ihm fehlte in letzter Zeit sein altes und bestechend klares Urteilsvermögen, auf das er eigentlich sonst immer so stolz gewesen war. Ja, der Nebel schien auf eine gewisse Weise jegliche Sinne zu verkleben und machte blind für alles, was lauerte. Ein idealer Jagdgrund....

    Müller kniff jedoch trotz der unübersichtlichen Lage und seiner diffusen Ängste die Augen zusammen und starrte angestrengt durch die graue Nebelwand vor ihm.

    In der Ferne sah er die drei spitzen Türme der Polizeistation geisterhaft wie schwarze, knöchrige Finger einer sehnigen Hand aus dem Nebelsumpf herausragen. Beklommen stellte er jedoch fest, dass nur noch wenige Lichter in dem bewohnten Teil des altehrwürdigen Gebäudes schwach vor sich hinbrannten. Ja, es waren sogar noch viel weniger seit seinem letzten Besuch geworden. Der verwaiste Rest des Gebäudes war hingegen schon seit langer Zeit verdunkelt und abgestorben. Manche Menschen behaupten sogar, der Tod hätte schon seine Finger nach der Station ausgestreckt, bevor die Neperrenten überhaupt aus ihren Höhlen gekrochen waren.

    Müller, der versuchte, diese unguten Gedanken abzuschütteln, setzte sich kurzerhand in Bewegung. Das Reiben seiner starren Polizeiuniform sowie das dumpfe Stapfen der Stiefel auf dem aufgebrochenen Asphalt waren die einzigen Geräusche, die in dieser geisterhaft leeren Umgebung zu hören waren. Müller beschleunigte seinen Schritt. Wenn er den Experten schnell genug fand, konnte er immerhin wieder zurück ins schöne warme Auto. Ansonsten würde er hier draußen erfrieren, oder noch Schlimmeres...

    In der Ferne sah er nämlich schon, wie stöhnende Gestalten mit abgehakten und unnatürlichen Bewegungen, die ihrer tatsächlichen Anatomie spotteten, durch den Nebel krochen. Der Wind, der so schwach wehte, dass er kaum zu spüren war, brachte Müller dabei aus dieser Richtung den Gestank von süßlicher Verwesung und metallischem Blut entgegen. Es gab also keine Zweifel: Es waren Neperrenten und höchstwahrscheinlich auf der Jagd nach Menschen.

    In dem vergeblichen Versuch sich selbst zu ermutigen, griff Müller zum Holster und entsicherte mit vereisten Fingern ungelenk seine Waffe. Es war ihm dabei durchaus klar, dass DAS PROZEDERE  einen bewaffneten Angriff auf die Abgrundlinge absolut verbot, auch wenn es in Selbstverteidigung geschah. Neperrenten waren unter dem neuen System nämlich heilig und unverletzlich, niemand durfte sie in ihrer unheiligen Arbeit stören. So wollte es DAS PROZEDERE. Dennoch drang der nervöse Kommissar immer weiter in den unheimlichen Nebel ein. Die hohen Türme der Station rückten dabei langsam aber stetig näher; mittlerweile erkannte er sogar die gigantisch großen Marmorsteine, aus denen das pechschwarze Gebäude errichtet worden war. Ein jeder einzelne von ihnen mochte ein paar Tonnen wiegen. Weiter oben an der Station umhüllten hingegen zahlreiche goldfarbene und sehr elegant geformte Rahmen bunte Milchglasfenster. Es war offensichtlich ein sehr altes und prunkvolles Gebäude; von den Vorfahren erbaut und nun dem Verfall anheimgegeben. So wollte es DAS PROZEDERE.

    Da erspähte Müller vor ihm im Nebel plötzlich einen roten Schein, konnte aber dessen Beschaffenheit und  Ursache zunächst nicht genauer erkennen. Als er jedoch näher herangekommen war, erblickte er schließlich überrascht einen hageren Menschen mit schwarzem, ungekämmtem Haar, der auf seinen Knien hockte und angespannt sowie vollkommen weltvergessen in das große Neperrenten-Loch vor der Station hinabstarrte. Seine rote Warnweste strahlte dabei weithin in den Nebel hinaus und mochte weiß Gott was aus den Schatten anlocken. Müller räusperte sich. Angespannt huschte seine Stimme durch die drückende Stille.

    »Hey, Sie! Sie sind doch der Experte? Sind Sie etwa verrückt geworden? Gehen Sie doch von dem Abgrund da weg.«

    Der Experte schien  zuerst nicht zu reagieren. Dann jedoch nach einer kurzen Weile tat er genau das Gegenteil von Müllers Anweisung; er beugte sich noch tiefer in das Loch hinab, während seine Hände angestrengt mit einem Pinsel über ein großes Blatt Papier fuhren, dass er zu seiner Seite abgelegt hatte. Er war vollkommen in seiner Arbeit vertieft und mit der Stimme allein konnte man ihn offenbar nicht aus seiner eigenartigen Trance befreien. Deshalb sah Müller keinen anderen Weg: Wütend stapfte der Kommissar zu ihm rüber und gab ihm einen festen Handschlag auf den schütteren Hinterkopf. Doch selbst das brachte ihn nur langsam aus seinem tranceartigen Zustand zurück. Murmelnd schüttelte der Mann mit dem wirren Haar nun seinen Kopf hin und her, zog Müller am Ärmel zu sich herab und sagte mit überbordender Faszination in der Stimme:

    »Da, sieh nur! Sieh nur! Wer hat jemals schon so etwas wundervolles gesehen. Absolut faszinierend!«

    Die Kraft des Fremden war eigentümlich stark. Beinahe ruckartig wurde der junge Polizist zu Boden gerissen. Unter einiger Anstrengung konnte er sich jedoch trotz des stahlharten Griffs keuchend von dem seltsamen Mann wieder losmachen. Aber dann, als er sich gerade wieder aufrichtete und seine Uniform zurecht machen wollte, da sah er es mit eigenen Augen: Da war tatsächlich eine Kirche in dem Abgrund da unten!

    Das Loch, an dem die beiden  knieten und an dessen Boden  sich die Kirche befand, besaß dabei einen Umfang von ganzen 50 Metern; in den steilen, äußeren Felswänden des Abgrunds fraßen sich hunderte und aberhunderte von weiteren kleinen Tunneleingängen hinein und ließen somit ein gigantisches Netz unter der Stadt vermuten.

    Niemand wusste genau, wie groß das Neperrenten-Reich unter der Erde eigentlich war. Das interessierte Müller jedoch in diesem Moment nicht einmal. Mit der gleichen Faszination in den Augen wie der rotgekleidete Experte starrte er nun in das Loch zum bizarren  Gottesbau hinunter.

    Die Kirche im Abgrund war im gotischen Stil gehalten, mit dem typisch spitzen Turm und halbbogenförmigen Buntglasfenstern. Jedoch stimmte - trotz aller offenkundigen Verwandtheit zu den Kirchen der Menschen - etwas nicht mit ihr. Irgendetwas war anders... falsch. Als Müller endlich erkannte, was ihm bei dem Anblick dieses Baus so sehr Unbehagen bereitete, lief ein kaltes Grausen über seinen Rücken hinunter.

    »Sehen Sie nur, Herr Polizist. Sie wollen so sein wie wir. Sie ahmen uns nach!«

    Das heisere Lachen des Experten schallte über den ganzen Vorplatz der Station. Müller schüttelte jedoch nur den Kopf und antwortete:

    »Nein, sie verspotten uns.«

    Daraufhin stand er auf und zog den sich widerstrebenden Experten hektisch mit sich. »Kommen Sie! Wir müssen zurück zum Auto, oder mein Kollege fährt ohne uns los. Und Sie wollen doch sicherlich nicht hier alleine herumwandern. Vor allem wenn es bald Nacht wird.«

    Der Experte brummte unzufrieden vor sich hin, ansonsten gab er jedoch auf dem Weg Ruhe. Nach ungefähr einer verstrichenen Minute sah Müller also endlich erleichtert die Scheinwerfer ihres Polizeiwagens. Der kurze Ausflug in den Nebel war ihm selbst so lang wie eine kleine Ewigkeit vorgekommen.

    Da stieg auch Kollege Schulz aus dem Auto und grüßte Müller mit einem kurzen Nicken, den Experten würdigte er hingegen keines Blickes. Ja, er schien sogar irgendwie angefressen zu sein. Seine leichte Ungeduld verratend stapften die Stiefel des Alten auf dem Boden. Der junge Kommissar beschäftigte sich jedoch nicht weiter mit den Kapriolen seines Vorgesetzten. Er war einfach nur froh, dem düsteren Nebel aufs Neue entkommen zu sein. Nachdem sie sich also kurz zugenickt haben, stiegen die beiden Polizisten endlich mit ihrem neuen Schützling wieder in den Wagen  und fuhren los; weiter hinein in das Leichentuch, das nun die ganze Welt bedeckte.

    Verlassene Straßen, düstere zusammengebrochene Häuser und Menschen mit leerem Blick und Sinn zogen für eine Weile an ihnen vorbei. Müller fragte sich bei diesem Anblick, wie viele Menschen es überhaupt noch geben mochte. Die Zeitungen berichteten natürlich dazu nichts, aber er selbst ging anhand seiner eigenen Beobachtungen davon aus, dass die Neperrenten mittlerweile die Hälfte der Bevölkerung verschlungen hatten. Gestern hatte ihm seine Frau noch berichtet, dass ihre einstmals blühende Nachbarschaft seit neuestens komplett leer stände, bis auf eine alte und schon fast blinde Frau namens Elsa, die im Haus gegenüber wohnte. Müllers Ehefrau schickte auch ihre beiden Kinder gar nicht mehr zur Schule. Es war nämlich viel zu gefährlich mittlerweile... zumindest ihrer Meinung nach. Müller selbst hatte zwar dagegen protestiert, aber er war sich nicht sicher, ob er ihr nicht doch zustimmen sollte. Zwar besagte nämlich DAS PROZEDERE eine Schulpflicht bis zum Ende, aber andererseits konnte man mittlerweile schon am helllichten Tage gleich neben ihrem Haus in viel zu regelmäßigen Abständen Neperrentengeheule hören. Bei diesen Gedanken nahm sich Müller deshalb auch vor, so schnell wie möglich zu Hause anzurufen, um sich zu vergewissern, dass es ihr und den Kindern noch gut ging.

    Er machte sich aber nicht nur wegen der Neperrenten Sorgen, sondern seine Frau wurde auch psychisch gesehen letztens immer hysterischer. Vor allem war sie aber eine derjenigen, die sich nur schwer mit dem allgegenwärtigen Ende abfinden konnten.

    Somit griff Müller also schon geistesabwesend zu seinem Handy, um die Nummer von zu Hause einzutippen, verwarf den Gedanken dann aber doch wieder kopfschüttelnd. Stattdessen fragte er, um sich von seinen eigenen Ideen abzulenken, den Experten:

    »Worin genau sind Sie denn eigentlich Experte? Soweit ich weiß, wurde das Neperrenten-Forschungsinstitut schon vor langer Zeit geschlossen, weil alle Experten ja bei diesem einen grässlichen Ereignis gestorben sind. In welcher Richtung forschen Sie also?«

    Der Experte, der die ganze Zeit nur geistesabwesend und gelangweilt zum Autofenster hinaus gestarrt hatte, wurde auf Müllers Interesse hin plötzlich sehr lebhaft und nickte

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