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Palmer :Black Notice
Palmer :Black Notice
Palmer :Black Notice
eBook520 Seiten6 Stunden

Palmer :Black Notice

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Über dieses E-Book

Palmer, wir haben eine Situation.
Habt ihr das nicht ständig?
Nicht eine solche, nein.
Black Notice.
Nicht identifizierte Tote.
Kambodscha, Grenze zu Laos. Zwölf junge Frauen, neun Kinder. Es gibt einen Zeugen. Sie müssen diesen Zeugen finden, Palmer, bevor jemand ihn verschwinden lässt.

Joshua Palmer freut sich auf eine kleine Auszeit. Dreizehn Jahre als Problemlöser für Interpol haben ihre Spuren hinterlassen. Im Kopf. Und im Körper. Zuletzt ein Einschussloch in der Brust. Zwischen der dritten und vierten Rippe. Ein blöder Querschläger.
Auf der richtigen Seite immerhin, weshalb er noch atmete und überhaupt an eine Auszeit denken konnte.
Palmer zieht sich also zurück in seinen Trailer in der Wüste von New Mexiko. Am Tag Kaffee trinken und der Sonne beim Wandern zuschauen. Abends Steak und Stout und Rockmusik im Roadhouse.
Soweit der Plan.
Doch daraus wird nichts.
Sein Mann bei Interpol hat bereits den nächsten Job für ihn. Ein Job, der Palmer aus dem beschaulichen Benson Trail, New Mexico, in die Glitzerwelt von Singapur führt und von dort zurück in die Stadt seiner Jugend, Hong Kong. Wo sein ärgster Widersacher bereits auf ihn wartet.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum6. Okt. 2018
ISBN9783742720078
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    Buchvorschau

    Palmer :Black Notice - Stephan Lake

    1

    Singapur, Südostasien

    Leichtfüßig, federnde Schritte, so schnell wie die Menschen vor ihm und die Menschen hinter ihm. Mark Li war eins mit der Masse.

    Unsichtbar.

    Sein Blick schweifte rechts und links, manchmal drehte er auch den Kopf und schaute hinter sich. Dass sich niemand abwandte oder plötzlich stehen blieb und ihn anstarrte, registrierte er zufrieden. Touristen, Einheimische, die Geschäftsleute und die Expats, sie alle waren heute Abend sein Schutzschild.

    Wieder zog Mark ein Taschentuch hervor, wischte wieder die Perlen von der Stirn, sah wieder auf die Uhr. Noch sechs Minuten bis zur verabredeten Zeit. Eine halbe Stunde zu Fuß durch die schwüle Hitze Singapurs – von seiner Wohnung quer durch den Botanischen Garten in die Orchard Road – und noch vier Minuten bis zum Treffpunkt. Zwei Minuten Puffer.

    Perfektes Timing.

    Wie in alten Zeiten.

    Mark hätte ein Taxi nehmen können, aber er musste nachdenken und das konnte der Sechzigjährige am besten bei einem langen Spaziergang. Selbst heute, da es nicht um ein wissenschaftliches Thema ging und er auch nicht mit einem seiner Freunde zum Gedankenaustausch über die großen Probleme der Welt verabredet war. Was er durchaus bevorzugt hätte.

    Es ging vielmehr um ein Thema, das Mark lange hinter sich glaubte.

    Es ging ums Töten.

    Mark erreichte das Straßencafé vor dem Wheelock Place, einem der belebtesten Plätze der ohnehin ständig überfüllten Orchard Road. Der Treffpunkt. Normalerweise mied er Cafés, die zu einer der großen Ketten gehörten; der Tee war meist schlecht, das Essen oft ungenießbar. Aber dieses Café bot den Schutz der Menschenmasse und zugleich den besten Überblick, und das war alles, was er heute brauchte.

    Zunächst hatte sich der Anrufer gesträubt, ihn in der Öffentlichkeit zu treffen, aber Mark hatte ihn beruhigen können. Wo versteckte man am besten ein Sandkorn? Am Strand, natürlich. Und die Orchard Road am Abend war für einen Menschen wie der Strand für ein Sandkorn. Sie machte ihn unsichtbar.

    Das Café war rundherum offen, mit Dach, aber ohne abtrennende Wände, ohne Fenster. Typisch für diese Stadt, in der es immer warm war und schwül. Die Vorhänge, tagsüber baumelten sie lose von der Decke und schützten vor Sonne oder Regen, waren jetzt hochgezogen; eine Klimaanlage und drei Ventilatoren an der Decke kühlten die Luft im Café und noch zwei Meter außerhalb auf dem breiten Gehsteig. Eine Energieverschwendung, wie sie auch typisch war für diese obszön reiche Stadt.

    Das Café war gut besucht und das Publikum, wie Mark mit schnellem Blick erfasste, gemischt. Männer, Frauen, die meisten von ihnen Chinesen und Westler, dazu zwei Japaner in Anzügen, eine Gruppe Inder, hinten in der Ecke saßen drei vollverschleierte Frauen. Sie alle tranken und aßen und fingerten an ihren Telefonen und Tablets. Nur wenige unterhielten sich. Niemand achtete auf ihn.

    Alles okay.

    Fast.

    Verschleierte Personen machten Mark unruhig seit jenem Tag vor nunmehr zwanzig ... nein, einundzwanzig Jahren bereits, mein Gott, die Zeit ... als eine verschleierte Frau unter ihrem Gewand eine Zweiundzwanziger mit Schalldämpfer hervorzog und auf ihn richtete.

    Also ein zweiter Blick auf die verschleierten Frauen: Füllig unter ihren schwarzen Gewändern, die Hände mit Henna rot bemalt; unter dem Tisch alte Füße nackt in ausgelatschten Sandalen.

    Nein, sie waren nichts anderes als alte, dicke, verschleierte Frauen.

    Er würde keiner von ihnen in den Kopf schießen müssen, so wie damals.

    „Ich kann mir alleine einen Sitzplatz suchen", sagte Mark zu dem indischen Kellner neben dem Wait-to-be-seated-Schild am Eingang. Wählte einen Ecktisch, von dem er einen guten Blick auf die Straßen und den Wheelock Place hatte, setzte sich, überprüfte mit einer leichten Berührung seiner Hand den Sitz des Revolvers in seinem Gürtel, wischte sich ein weiteres Mal mit seinem Tuch über die Stirn, krempelte sorgfältig die Ärmel nach oben, vier Mal, bis knapp über die Ellbogen. Die verschwitzte Haut hob sich deutlich ab vom Weiß seines Hemdes.

    Der Kellner kam, das dunkle Gesicht ohne jede Regung, legte eine Speisekarte auf den Tisch, wohl mit Absicht direkt neben den No-Smoking-Aufkleber und empfahl ihm unaufgefordert die gefüllten Nudeltaschen.

    Mark schüttelte den Kopf. Billiges Fertigessen, tiefgefroren, in der Mikrowelle aufgewärmt? Er verlangte einen Jasmintee.

    Der Kellner ging.

    Minuten später stellte ihm eine junge Chinesin wortlos eine große Tasse mit heißem Wasser und einem Teebeutel hin, daneben legte sie eine Handvoll Servietten. Mark warf ihr einen Blick zu. Er schätzte die junge Frau auf nicht älter als siebzehn, und sie schien ziemlich müde zu sein, denn ohne ihn anzusehen setzte sie sich wieder auf ihren Platz neben der Theke und schloss die Augen. Eine Studentin vielleicht, deren Familie nicht zu den Besserverdienenden gehörte; eine der vielen, die abends für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten, tagsüber studierten und dabei auf einen Sechzehnstundentag kamen. Vielleicht eine Studentin seiner Universität, vielleicht sogar eine seiner Studentinnen, die ihn vor lauter Müdigkeit nicht erkannt hatte.

    Er musterte sie.

    Vielleicht.

    Der Anruf aus seiner Vergangenheit hatte ihn am Mittag erreicht, kaum, dass er nach der Vorlesung sein Büro betreten hatte. Seine Sekretärin hatte den Kopf zur Tür hereingesteckt und gesagt, ein Mann wäre am Telefon und wünschte mit ihm zu sprechen.

    „Ein Mann?"

    Sie hatte mit ihren schmächtigen Schultern gezuckt.

    „Wie heißt der Mann?"

    „Er wollte mir seinen Namen nicht nennen."

    „Chinese?"

    „Ja."

    „Hm."

    „Er ruft aus Hong Kong an, sagt er."

    „Aus Hong Kong?"

    „Hong Kong."

    „Und er wollte seinen Namen nicht nennen?"

    „Er wollte mir seinen Namen nicht nennen."

    Schnell hatte sich herausgestellt, wer der anonyme Anrufer war und ebenso schnell war klar, warum er seinen Namen nicht genannt hatte. Die Entscheidung, ob Mark ihm helfen wollte, hatte ihm der Anrufer abgenommen. Du schuldest mir das. Sie hatten gesprochen, dann hatte Mark seine Sekretärin angewiesen, alle Termine für die kommenden Tage abzusagen. Ihren fragenden Blick hatte er unbeantwortet gelassen.

    Er hatte von seinem Konto eine größere Summe Bargeld abgehoben, war damit nach Chinatown gefahren und hatte das Geld deponiert. Dann war er nach Hause.

    Beim Abendessen hatte er Linda von einem Anrufer berichtet, für den er in den nächsten Tagen einige Dinge tun musste. Die wenigen Einzelheiten, die er selbst kannte, auch den Namen des Anrufers, sparte er aus. Es gab keinen Grund, sie zu beunruhigen. Linda war seit fast fünfunddreißig Jahren seine Frau. Sie wusste von vielen Dingen, die er getan hatte, von noch mehr Dingen aber wusste sie nichts. Und Linda hatte gelernt, nicht zu fragen, sondern mit der Angst um sein Leben zurechtzukommen. Weil er es so von ihr verlangte.

    „Wann sehen wir uns wieder?"

    Er hatte den Revolver eingesteckt und nicht geantwortet. Er wusste es selbst nicht.

    Mark drehte das Handgelenk. Seine Uhr zeigte zehn. Der Anrufer war spät. Er fischte den Teebeutel aus dem Glas, legte ihn, da er nicht wusste, wohin sonst, auf die Servietten, nippte an seinem Getränk, war überrascht und nippte erneut.

    Musterte wieder die Menschen um ihn herum und draußen.

    Er sah den Anrufer auf das Café zukommen.

    2

    Zwei Tische von Mark entfernt saß Carolin Yu vor einem Glas Latte Macchiato mit viel Schaum. In der Hand hielt sie ein Modemagazin, in das sie scheinbar vertieft war. Sie war zwei Stunden zuvor nach einem mehr als zwanzigstündigen Flug aus New York kommend in Singapur gelandet und auf direktem Weg vom Flughafen zu diesem Café gefahren. Ihre Zielperson wollte sich hier mit einem Mann namens Mark Li treffen. Li, so stand in dem Dossier ihrer Abteilung, war chinesischer Staatsbürger und ehemaliger Spion des chinesischen Ministeriums für Staatssicherheit. Und er war der ehemalige Chef ihrer Zielperson.

    Carolin streckte ihren müden Rücken, nahm wieder ihr Telefon aus der Handtasche und guckte auf das Display und steckte es wieder ein.

    Sie hatten sie für diese heikle Mission ausgesucht, weil sie drei besondere Eigenschaften besaß: Erstens fiel sie aufgrund ihrer Herkunft in Singapur nicht auf, zweitens sprach sie, wie ihre Zielperson, Mandarin und Kantonesisch. Und drittens – und als ihr Boss das sagte, war sie schon ein bisschen stolz – „bist du eine der verdammt besten Mitarbeiterinnen, die die amerikanische Heimatschutzbehörde je hatte".

    Ihr wurde gerade der zweite Latte serviert, da war Mark Li ins Café gekommen, hatte sich an den Ecktisch gesetzt, das Gesicht mit einem Tuch abgewischt, bestellt, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, an seinem Tee genippt. Schlank, drahtig, die gebräunte Haut nahezu faltenlos, schwarzes, volles Haar, nur wenig Grau. Li sah jünger aus als die sechzig Jahre, die er ihren Informationen nach war.

    Obwohl seit fast neun Jahren Soziologieprofessor an einer der Universitäten der Stadt und ebenso lange nicht mehr aktiv, musste sie davon ausgehen, dass Mark immer noch Profi genug war, ihr den Job schwer zu machen. Für sie bedeutete das, vorsichtig zu sein und so zu tun, als ob sie sich für nichts auf dieser Welt interessierte außer für ihr Modemagazin und ihr Getränk.

    Ihr fiel das nicht schwer. Sie hatte eine Schwäche für Latte Macchiato, die einzige Ausnahme in ihrer ansonsten kalorienarmen Diät, sie liebte Modemagazine, und sie war entspannt, wofür es einen guten Grund gab.

    Denn wenn alles gut gegangen war, und daran zweifelte sie nicht, dann war ihre Zielperson bereits vor einer knappen Stunde festgenommen worden und saß jetzt in einem Flugzeug mit Kurs in ein Land, das keine Fragen stellte, wenn Agenten der Heimatschutzbehörde mit einem Gefangenen einreisten.

    Li würde dann vergebens warten und nie erfahren, was ihre Zielperson erfahren hat.

    Und sie, ja, sie könnte sich einen freien Tag in einer der schönsten Städte der Welt gönnen und vielleicht sogar das eine oder andere Kleidungsstück aus diesem Magazin anprobieren, das sie aus dem Flugzeug mitgebracht hatte. Sie wartete nur auf die Meldung ihrer Leute.

    Und zum vierten Mal innerhalb der vergangenen Stunde guckte sie auf ihr Telefon. Und zum vierten Mal hatte sie keine Nachricht.

    Was war los, verdammt?

    Und dann unterlief ihr ein dummer, dummer Fehler.

    Denn noch während sie ihr Telefon wieder einsteckte sah sie ihre Zielperson in das Café kommen.

    Und Carolin Yu, eine der verdammt besten Mitarbeiterinnen von Homeland Security, konnte für einen kurzen Moment ihr Erstaunen nicht unterdrücken.

    Mark hatte die Chinesin wahrgenommen, selbstverständlich. Dreißig Jahre alt, sehr schlank, elegant gekleidet mit einem Kostüm aus dunkelblauer Seide und passenden dunkelblauen Stiefeletten mit hohen Absätzen. Eine sehr attraktive Frau. Er hatte beobachtet, wie sie einen Kaffee bekam mit einer fast überquellenden Schaumkrone und ihr Mobiltelefon auf Nachrichten überprüfte und schließlich in einem Modeheft zu blättern begann und dabei gelegentlich ihren Rücken streckte, als wäre sie müde. Ihm war aufgefallen, dass sie zwar eine Handtasche und eine kleine Reisetasche, aber keine Einkaufstüte bei sich trug. Was ungewöhnlich war auf der Orchard Road, aber nicht so ungewöhnlich, dass er misstrauisch geworden wäre. Er hatte sie dann nicht weiter beachtet.

    Bis zu dem Moment, als der Anrufer vom Morgen in das Café kam und er im Gesicht der Chinesin für einen Augenblick den vollendeten Ausdruck des Erstaunens sah.

    3

    „Măkè, nin hăo ma?"

    Mark, wie geht es Ihnen?

    Die Begrüßung nicht auf Kantonesisch sondern in seiner Muttersprache Mandarin und wie früher mit dem respektvollen ’nin’. Ein gutes Zeichen. Andrew Wang wollte offensichtlich seinen Respekt zeigen.

    Mark stand auf. „Wo hen hăo, wo hen hăo, Āndélu. Nin bàba māma hăo ma?"

    Mir geht es gut, mir geht es gut, Andrew. Wie geht es Ihrem Vater und Ihrer Mutter?

    Wang streckte ihm die Hand hin und quittierte seine höfliche Frage nach den Eltern mit einem Kopfnicken. „Tāmen dōu hen hăo. Xièxie."

    Beiden geht es gut. Danke.

    Mark griff die Hand seines früheren Mitarbeiters und drückte sie. Er spürte, wie Wang zuckte.

    „Setz dich, sagte Mark, auf den Stuhl gegenüber deutend. „Was trinkst du? Er winkte dem Kellner.

    Wang verlangte einen Eiskaffee. Der Inder ging, ohne Wang die gefüllten Nudeltaschen zu empfehlen und brachte kurz darauf den Eiskaffee und ein Glas Wasser, von dem Wang sofort trank.

    Mark schaute nach der jungen Kellnerin und sah sie immer noch schlafend auf ihrem Stuhl neben der Theke.

    Die Chinesin mit der Reisetasche blätterte wieder in ihrem Heft.

    „Es ist gut, dich zu sehen, Mark."

    Mark sah Wang an und nickte. „Dich auch."

    Wie Wang vor ihm saß, dünner als früher, fast mager, das Gesicht zerfurcht, die Augen tief in ihren Höhlen, der Kopf jetzt völlig kahl. Der Oberkörper gebeugt, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Sein Handschlag war schwach gewesen wie der eines Kindes. Beim Trinken hatte das Glas gezittert.

    „Wie geht es dir, Andrew?"

    Wang zog ein Päckchen Zigaretten aus der einen Hosentasche, fingerte einen Stängel heraus, mühsam und umständlich, zog ein Feuerzeug aus der anderen Tasche. Erst nach mehreren Versuchen kam die Flamme. Dann lehnte er sich zurück und atmete tief den Rauch ein, legte Zigaretten und Feuerzeug nebeneinander auf den Tisch, deutete um sich und nickte, „Du hattest recht. Ein Sandkorn am Strand. Beugte sich dann nach vorne, „Hast du mir einen Unterschlupf besorgt?

    Mark nickte.

    „Ist der Unterschlupf sicher?"

    Lis Augenbraue zuckte nach oben.

    Er sah Wang verlegen lächeln.

    Neun Jahre hatten sie sich nicht gesehen, aber in diesem Moment fühlte sich Mark, als hätten sich diese neun Jahre nicht ereignet. Als hätte er in Wirklichkeit Hong Kong nie verlassen und würde, wie hunderte Male zuvor, nur ein weiteres Mal in einem der kleinen Straßenrestaurants auf Hong Kong Island sitzen oder in Kowloon. Und Wang würde ihm Informationen weitergeben und hätte dabei etwas Dummes gesagt oder etwas Selbstverständliches und wäre dafür von ihm mit einer hochgezogenen Augenbraue gerügt worden.

    Mark sagte, „Es ist lange her, Andrew."

    „Zu lange", sagte Wang.

    Wie Wang beim Sprechen stoßweise Rauch aus Nase und Mund entwich, er hatte das noch nie ausstehen können. Mark fächelte mit der Hand und schüttelte den Kopf. „Nicht lange genug, sagte er. „Freund?

    Wang nickte. „Freund."

    Mark nahm einen Schluck von seinem Tee. Wang hatte mit seiner Antwort nicht gezögert, das war gut. Aber mit Wang war etwas passiert, das war nicht zu übersehen. Wang schien an den alten Zeiten zu hängen, oder vielleicht wollte er ihn auch nur an seine Schuld erinnern.

    Als ob er diese Erinnerung brauchte.

    Aber er glaubte Wang, dass der ihn noch als Freund betrachtete. Er war sich nur nicht sicher, ob er Wang auch vertrauen konnte.

    Er sagte, „Okay, Freund, dann erzähle mir, um was es geht und was du von mir willst."

    Und sah Wang den nächsten tiefen Zug nehmen. Asche fiel auf sein Hemd, seine Augen suchten den Tisch ab, kein Aschenbecher, aber sein Blick blieb für einen Moment auf dem No-Smoking-Aufkleber. Wang zog noch einmal und ließ die Zigarette auf den Boden fallen und trat sie aus. Wischte die Asche vom Tisch, trank von seinem Eiskaffee. Knetete dann seine Hand, die immer noch zitterte.

    Was war bloß mit ihm los?

    „Es geht um mein Leben, Mark. Es gibt Leute, die es mir nehmen wollen. Verstehst du? Mein Leben. Weil ich alles gesehen habe. Ich brauche deine Hilfe."

    „Was für Leute? Profis?"

    „Profis, natürlich. Wang nickte. „Weshalb sonst wäre ich denn hier? Ich brauche deine Hilfe, Mark.

    „Und um was geht es? Was hast du gesehen?"

    Er beobachtete, wie Wang nach den Zigaretten greifen wollte, sein Blick wieder auf den Aufkleber fiel und es dann ließ und damit begann, die andere Hand zu kneten. Dann antwortete Wang, so leise, dass Mark sich weit zu ihm hinüber beugen musste.

    „Es geht um ... Es geht um Amerika. Amerika. Und um unschuldige Tote. Viele unschuldige Tote."

    Mark lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Er ließ seinen Blick schweifen.

    Die Chinesin blätterte in ihrem Heft.

    Er legte einen Geldschein auf den Tisch, beugte sich wieder nach vorne und sagte, ebenfalls leise, „Wir müssen gehen."

    Wang griff nach seinen Zigaretten. „Warum?"

    „Wir sind keine Sandkörner mehr", sagte Mark.

    4

    Zehntausend Meilen entfernt in der Bronx, New York City

    Sein Gegner lächelte. Und zog ein Messer aus der Jacke.

    „I’cut your head off, asshole."

    Fünfzehn Zentimeter Klinge, beidseitig geschliffen.

    Ich schneide dir den Kopf ab, Arschloch.

    Palmer stand still. Der Kerl hörte sich ernst an. Als ob er das wirklich so meinte. Dabei war Palmer nur nach New York gekommen, weil er Doc einen Gefallen tun wollte. Viel lieber wäre er vor seinem Trailer in der Wüste sitzen geblieben mit dem Becher Kaffee in der Hand, das Gesicht in die kalte Wintersonne gestreckt, der Blick in die Wüste.

    Weites Land.

    Palmer hatte bei dem Kerl auf Einsicht gehofft, auf eine unkomplizierte Einigung zwischen zwei Erwachsenen. Aber das kam dabei heraus, wenn er anderen einen Gefallen tat. Irgendwann stand jemand mit schlechter Laune und jugendlichem Starrsinn vor ihm. Und manchmal sogar mit einem Messer in der Hand. Obwohl, jetzt, in diesem Fall hatte Palmer eine Pistole erwartet. Berettas sind sehr verbreitet bei denen, Glocks auch. Sie konnten sich ihre Dienstwaffen aussuchen, oder?

    Sein Gegner machte einen schweren Schritt über seine golden glitzernde Marke hinweg. City of New York Police. Das falsche Lächeln in dem feisten Gesicht verschwand. Der rechte Arm weit ausgestreckt, die harte Baumwolle der Jacke spannte über den massigen Schultern, die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger zeigte auf Palmer.

    Jetzt noch drei Schritte entfernt.

    Palmer stand immer noch still. Der rechte Fuß vorne, beide Ellbogen vor dem Körper, die Hände offen.

    Bereit.

    „Du kannst mein Angebot immer noch annehmen", sagte er. Und meinte es. So, wie er alles meinte, was er sagte.

    Der Cop machte einen zweiten Schritt, die Lippen jetzt zusammengepresst vor Wut und vor Schmerz. Sein linker Arm schlaff, gebrochen, aber er hatte Palmer angefasst, obwohl der ihm das verboten hatte. Don’t touch. Was ist daran nicht zu verstehen? Nicht anfassen.

    „Ich kann ja verstehen, dass du nicht bester Laune bist. Der gebrochene Arm und so? Aber du bist das selbst schuld. Das siehst du ein, nicht?"

    Der Cop machte den dritten Schritt, schneller als die beiden zuvor, so schnell er konnte bei seiner Masse, aber immer noch zu langsam für Palmers Welt. Krümmte zugleich den Arm, um ihn im nächsten Moment wieder zu strecken.

    Die Klinge würde Palmers Hals knapp oberhalb des Adamsapfels durchbohren.

    Aber nicht heute.

    Palmer wich zur Seite.

    Der Cop streckte den Arm, die Klinge verfehlte ihr Ziel.

    Mit beiden Händen zugleich packte Palmer das wulstige Handgelenk und drehte sich, eine halbe Drehung nur, der ausgestreckte Arm wich mit ihm zur Seite und weg aus der Richtung, in die der träge Körper noch unterwegs war. Der Cop verlor das Gleichgewicht, taumelte, balancierte für einen kurzen entscheidenden Moment seinen Körper auf dem rechten Bein.

    Palmer trat das Bein unter ihm weg.

    Hundert Kilogramm verteilt auf einen Meter neunzig klatschten auf den kalten Asphalt.

    Palmer stand über ihm, weiter das Handgelenk haltend und streckte den Arm mit einem Ruck.

    Die Hand öffnete sich, das Messer fiel heraus.

    Noch bevor die Klinge den Boden berührte, ließ sich Palmer mit seinem Knie voran auf den Ellbogen fallen.

    Achtzig Kilo und angewinkeltes Knie gegen ausgestreckten Ellbogen. Die Wirkung war furchtbar.

    Der Ellbogen platzte mit dumpfem Knall auseinander, zugleich knickte der Unterarm nach oben. Der Cop? Stierte auf seinen Arm, der in die völlig falsche Richtung zeigte. Stumm, weil der Schmerz auf seinem Weg über das Rückenmark noch nicht im Gehirn angekommen war, und entsetzt, weil er zu verstehen begann, was gerade passierte.

    Und immer noch hielt Palmer das Handgelenk mit beiden Händen, drehte jetzt den Unterarm nach rechts – das Gelenk knirschte – und nach links – das Gelenk knirschte wieder. Palmer spürte, wie die Bänder rissen.

    Der Cop schrie auf.

    Und er hatte allen Grund dazu.

    Die Gelenkkapsel war zerrissen, die Bänder waren zerrissen, die Muskeln des Oberarmes und des Unterarmes waren vom Knochen abgerissen. Palmer wusste das. Er wusste es, weil es immer so war. In Hong Kong hatten sie ihm einen Namen gegeben.

    Der Cop schrie weiter und sah Palmer weiter an, Tränen in den Augen. Vor Schmerz und Wut und weil ihm klar sein musste, was vor ihm lag: Krankenhaus, Operationen, Stahlschrauben. Monatelange Therapie. Die Gelenke würden vermutlich trotzdem versteifen, Muskeln und Bänder vermutlich nie wieder richtig funktionieren.

    Palmer ließ nicht los, hielt weiter das Handgelenk mit beiden Händen und kniete weiter auf dem schlaffen Arm. Zwei gebrochene Arme bedeuteten nicht zwangsläufig, dass der Gegner aufgab. Es gab harte Kerle überall auf der Welt, und noch wusste Palmer nicht, ob der Cop ein harter Kerl war.

    „Ich muss noch einmal fragen, sagte Palmer, ehrlich erstaunt. „Hast du wirklich deine Waffe nicht eingesteckt? Typen wie du, ihr geht doch nie ohne Schießeisen vor die Tür. Ihr sitzt noch nicht mal unbewaffnet zuhause auf eurem Sofa und guckt ... was immer ihr guckt. Starsky and Hutch. Magnum P.I. The Rockford Files.

    Palmer mochte die Achtziger.

    Der Cop sah hoch, schwer atmend, die Augen zuckten wild hin und her.

    „Noch eine Frage, sagte Palmer. „Ihr dürft euch aussuchen, was ihr als Dienstwaffe benutzt, oder? Ich meine, Beretta oder Glock? Sig? Vielleicht auch eine ganz andere, aber jedenfalls, ihr dürft euch aussuchen. Korrekt?

    Der Cop guckte immer noch. Speichel floss in Fäden aus seinem Mund und sammelte sich neben seinem Kopf auf dem Asphalt. Seine Lippen bewegten sich nicht.

    „Okay, du hast keine Lust zu plaudern, sagte Palmer, „kann ich verstehen. In deinem Zustand, huh? Dann übernehme ich mal. Das Reden, meine ich. Er sagte, „Du hast mein Angebot nicht angenommen. Deswegen liegst du jetzt hier auf dem Boden. Das ist kein Zufall, sondern da besteht ein ganz direkter Zusammenhang. Du verstehst das, ja?"

    Der Cop guckte.

    „Ich brauche jetzt eine Antwort, sagte Palmer und drehte das Handgelenk. Nur leicht, einen halben Zentimeter. Der Cop stöhnte. „Du verstehst diesen Zusammenhang. Ja?

    Jetzt schloss der Cop die Augen und nickte.

    „Du verstehst, das ist gut, sagte Palmer. „Also, dann noch einmal von vorne: Du wirst deine Frau und deine Kinder in Ruhe lassen. Damit meine ich, du wirst ihnen nicht mehr folgen, sie nicht beschimpfen, sie nicht bedrohen. Du wirst sie nicht anrufen und ihnen keine Nachrichten schicken, und solltest du ihnen zufällig einmal auf der Straße begegnen, wechselst du die Seite und wirst sie nicht einmal ansehen. Er sagte, „Und das ist mein Angebot: Lässt du sie in Ruhe, dann lasse ich dich in Ruhe."

    Der Cop atmete schwer. Dann ein Nicken, die Augen geschlossen.

    Palmer glaubte ihm nicht. Aber was konnte er jetzt noch tun?

    „Sieh mich an."

    Der Cop gehorchte. Wieder zuckten seine Augen wild hin und her.

    „Nutze diese Chance. Denn sollte ich zurückkommen müssen, werde ich dir den Kopf abreißen. Asshole." Er ließ das Handgelenk los und stand auf.

    Der Cop lag zusammengekrümmt neben seinem Messer auf dem harten, kalten Asphalt vor seiner Lieblingsbar in der East Bronx in New York City. Fremde Leute würden ihn füttern und ihm den Hintern abwischen. Er würde kein Cop mehr sein. Sein Leben, wie er es kannte, war zu Ende.

    Er begann zu wimmern.

    Palmer fühlte nichts für den Cop. Irgendjemand würde ihn finden und sich um ihn kümmern.

    Im Weggehen hörte Palmer, wie der Cop sich übergab.

    Kein harter Kerl.

    5

    Tief im Laternenschatten hinter der Kneipe stand ein Mann in einem dunklen Anzug. Seinen hellen Mantel hatte er ausgezogen und hinter sich auf den Boden gelegt, weil er befürchtete, von Palmer gesehen zu werden. Er zitterte vor Kälte und schwitzte zugleich von dem, was sich vor ihm abspielte. Seine rechte Hand umklammerte die Waffe in seinem Holster.

    Als Palmer wegging, zog der Mann sein Telefon hervor. Mit der linken Hand. Er traute sich nicht, die Waffe loszulassen.

    Jetzt wählte er eine Nummer.

    „Er geht los. Soll ich ... Soll ich ihm folgen?"

    „Nein, Pelosi, das sollst du nicht. Was ist passiert?"

    Pelosi atmete aus. Erleichtert.

    Dann erzählte er.

    „Der Kerl war also ein Cop?"

    Ist ein Cop. Soweit ich von hier sehen kann, bewegt er sich. Noch. Ein wenig."

    „Wenig? Gut."

    „Was soll ich tun? Er sieht wirklich übel aus. Dieser Palmer ist ein verdammtes Tier."

    „Tun? Nichts."

    Pelosi zögerte. „Nichts?"

    „Was habe ich gerade gesagt?"

    „Aber doch Erste Hilfe? Ich habe einen Kurs gemacht. Der Typ stöhnt und röchelt, ich kann es bis hierher hören. Und es kann dauern, bis jemand ihn findet. Die Autos parken alle auf der anderen Seite, und es sind auch nur eine Handvoll. Hier kommt niemand so schnell her."

    „Habe ich einen Sprachfehler? Oder bist du taub?"

    „Aber er ist ein Cop. Praktisch einer von uns. Wenigstens NYPD kann ich doch Bescheid geben. Ein kurzer Anruf."

    „Verletzt nutzt er uns mehr. Tot noch mehr. Lass ihn liegen und verschwinde."

    Pelosi zögerte wieder. „Okay, sagte er dann, „Copy that.

    Er sah noch einmal in die Richtung, in die Palmer verschwunden war.

    Niemand mehr zu sehen.

    Erst dann ließ er den Griff seiner Waffe los.

    Keine Hilfe, kein Anruf, verletzt nutzt er uns mehr, tot noch mehr. Was sollte das? Das war doch auch strafbar, unterlassene Hilfeleistung. Das konnte ihm eine Menge Ärger einbringen.

    Er bückte sich nach seinem Mantel.

    Ein verdammtes Tier, dachte Pelosi noch, als es ihm die Beine wegschlug und sein Körper in der Luft eine halbe Drehung machte und er, ohne sich abfedern zu können, mit dem Rücken auf dem Asphalt landete.

    Der Aufprall nahm ihm die Luft.

    Er wollte die Augen öffnen, aber da spürte er bereits einen harten Druck quer in seinem Gesicht, auf Kiefer und Wangenknochen und Stirn. Zugleich wurde sein Hinterkopf in den rauen Asphalt gepresst, was ihm unverzüglich einen Schmerz im Kopf verursachte, als würde seine Schädeldecke auseinanderbersten.

    „Copy that, huh?"

    Er bekam immer noch keine Luft.

    „Also, Copy that, wer bist du?"

    Pelosi wusste, was die Ursache des Drucks war.

    Schienbein und Knie.

    Dasselbe Knie, das eben noch den Arm dieses Cops gebrochen hatte.

    „Und mit wem hast du gesprochen?"

    Sehen konnte er nichts, da ihm das Schienbein die Augen zudrückte. Aber er wollte auch gar nichts sehen. Und er versuchte auch nicht, sich zu bewegen. Sein Kopf würde das nicht aushalten.

    Und wenn er nicht bald wieder Luft bekäme ... Luft ... Luft ...

    „An dieser Stelle brauche ich eine Antwort", hörte er Palmers Stimme.

    Aber wie denn? Das Schienbein drückte so hart gegen seinen Kiefer und seine Zähne, wie sollte er da sprechen? Antworten? ... Er röchelte und spürte plötzlich Sauerstoff eindringen, spürte seinen Brustkorb pumpen und Sauerstoff eindringen ... endlich, endlich.

    Aber sein Schädel, sein Gesicht, sein Kiefer ...

    Er presste es heraus, mit aller Kraft. „Ich ... Homeland ... Security."

    War sein Schädel bereits gebrochen? Es fühlte sich an, als ob sein Gehirn herausgequetscht würde. Sein Kiefer war bestimmt schon kaputt. Und in seinen Augen flimmerte es, flimmerte es wild. Aber wenigstens atmete er, schnell und flach nur, aber er atmete.

    Und er konnte auch wieder antworten, gurgeln. „Mein Kopf ... Der Schädel ... bricht ... Bitte."

    „So schnell bricht der Schädel nicht. Aber trotzdem, weil du Bitte sagst."

    Pelosi spürte, wie der Druck nachließ.

    Er atmete tief und merkte, wie Palmer ihn abtastete. Seine Waffe aus dem Holster zog und wegwarf, sein Telefon aus der Jackentasche nahm und wegwarf; er hörte beides weit hinter sich auf den Boden aufschlagen. Dann in der Innentasche seine Badge fand.

    Und dann das Schienbein aus seinem Gesicht nahm, sich dafür auf seine Brust kniete. Aber trotzdem, das war besser, viel besser.

    Pelosi öffnete die Augen.

    Palmer hielt seine Badge.

    „Border Patrol, huh? Also, ich habe dir zwei Fragen gestellt, Special Agent ... Sergio Pelosi. Ist das italienisch? Sergio Pelosi?"

    Pelosi schob den Unterkiefer hin und her und überprüfte mit der Zunge seine Zähne und schloss und öffnete den Mund und sagte, „Sizilianisch." Das Wort kam ganz flüssig heraus. Die Zähne schienen in Ordnung. Vielleicht war sogar der Kiefer nicht gebrochen.

    „Also, mit wem hast du telefoniert, Special Agent Pelosi?"

    „Mit meinem Vorgesetzten."

    „Ist der auch Sizilianer?"

    „Was? Nein. Der kommt ... ich weiß nicht. Aus Los Angeles, glaube ich. Er ist schwarz, aber seine Eltern sind aus Kanada, glaube ich."

    „So genau wollte ich das gar nicht wissen. Wie hast du mich hier gefunden?"

    „Ich habe Sie nicht gefunden. Mir wurde gesagt, ich sollte zu dieser Bar fahren. Mir wurde ein Mann beschrieben, der Palmer hieße. Ich sollte beobachten, was passiert. Dann meinen Vorgesetzten anrufen und berichten. Die Angst kehrte zurück. „Sie kamen ... Dann der andere Mann ... Die Beschreibung passte auf Sie. Dann ist passiert, was ... passiert ist ... Ich habe angerufen. Das ist alles. Ich habe nur meinen Job gemacht. Da er keine Antwort bekam, sagte er, „Was tun Sie jetzt mit mir? Ich ... ich habe nichts getan, bitte, nur meinen Job. Brechen Sie mir nicht die Arme. Bitte."

    „Hast du eine Frau, Pelosi? Und Kinder?"

    „Ja. Zwei. Also, Kinder. Zwei Mädchen. Zwillinge. Eine Frau. Claire, sie heißt Claire."

    „Schlägst du sie?"

    „Was? Schlagen?"

    „Ja. Schlägst du sie? Deine Frau? Deine Kinder?"

    „Nein, natürlich nicht. Schlagen ... warum sollte ich sie schlagen? Das tue ich nicht. Sie sind meine Kinder, und Claire ist meine Frau, die schlage ich doch nicht."

    Palmer sagte, „Warum also sollte ich dir die Arme brechen?"

    Pelosi dachte über die Frage nach.

    Palmer stand auf.

    „Wenn du schlau bist, Pelosi, dann fängst du jetzt an zu zählen. Und stehst erst auf, wenn du bei Tausend angekommen bist. Kannst du bis Tausend zählen?"

    Pelosi atmete tief ein und aus und sagte, „Ich bin schlau. Ich kann bis Tausend zählen."

    „Ich bin mir da nicht so sicher. Wir werden sehen, huh?"

    Pelosi sah Palmer weggehen.

    Er blieb auf dem Boden liegen und betastete mit beiden Händen sein Gesicht, seinen Schädel, seinen Kiefer.

    Er dachte über Palmers Frage nach.

    Und fing dann an zu zählen.

    6

    Palmer überquerte den Parkplatz und die Rhinelander Avenue. Kein Auto, kein Bus mit Fahrgästen auf dem Weg irgendwohin, kein Truck mit Ladungen von frischem Gemüse oder Milch oder den neuesten Zeitungen. Kein Mensch, niemand.

    Ein rostiges Eisentor führte in einen dunklen Park. Mit dem Fuß stieß Palmer es auf, es kratzte leise in den Angeln, er ging hindurch auf dem Weg aus Schotter und Sand. Hinter ihm kratzte das Tor erneut und fiel dumpf gegen den Rahmen.

    Der Park mit dem erfrorenen Rasen und den dünnen Sträuchern und kahlen Laubbäumen war menschenleer und still wie die Rhinelander Avenue um drei Uhr in der Früh. Genau, wie er es erwartet hatte in der Stadt, die angeblich niemals schläft. Kein Spaziergänger, der noch den Hund ausführte, kein Jogger, kein Obdachloser unter einem Stapel Pappkarton, keine trinkenden, kiffenden, sich prügelnden Jugendlichen.

    Vor allem: keine Cops.

    Der Untergrund knirschte leise bei jedem Schritt.

    Palmer legte den Daumen an seinen Hals und fühlte seinen Puls. Zehn Sekunden, neun Schläge. Er nickte zufrieden.

    Dann legte er zwei Finger auf seine Brust, rechts, auf die Stelle zwischen der dritten und vierten Rippe nahe dem Solar Plexus. Er drückte.

    Nur noch ein leichter Schmerz. Vielleicht noch eine Woche, dann würde er gar nichts mehr spüren.

    Palmer kam zu einem zweiten Tor, verrostet wie das erste, er stieß es auf, Kratzen, ging hindurch, Kratzen und es fiel dumpf gegen den Rahmen.

    Zwei Blocks und keine fünfzehn Minuten später, die U-Bahn-Station Morris Park.

    Er war der einzige, der auf einen Zug wartete. Er stieg in den Wagen, der direkt vor ihm hielt. Der Wagen war leer.

    An der 180sten Straße wechselte Palmer in die Linie zwei. Der Wagen war ebenfalls leer, aber vier Männer und eine Frau stiegen mit ihm ein und verteilten sich auf die Sitze und beachteten niemanden.

    Auch Palmer vermied Blickkontakt und tat, was New Yorker in der Nacht taten, wenn sie mit dem Zug unterwegs waren. Er döste vor sich hin.

    Palmer hatte sich mehrere Strategien zurechtgelegt, wie er den Cop aus der Bar herauslocken würde, aber er hatte Glück gehabt. Gerade als er hineingehen wollte, wurde die Tür aufgestoßen und der Cop kam heraus, eine Zigarette im Mundwinkel, „Fuck you!" in das Telefon am seinem Ohr brüllend. Der Cop hatte nach Bier und Bar gestunken und es nicht für nötig gehalten, Palmer Platz zu machen, so, wie der ihm Platz machte. Sein Arm landete in Palmers Schulter.

    Ein richtiges Arschloch eben.

    Er hatte den Cop angesprochen, ruhig, höflich, „Good evening."

    Der Cop hatte nur geguckt.

    „Ich möchte mit dir über deine Familie sprechen. Lass es mich kurz machen. Du kannst nicht Frau und Kinder prügeln. Das tut man nicht."

    Der Cop hatte sein Telefon eingesteckt. „What the fuck?"

    Palmer hatte gelächelt, freundlich, nett, nicht provozierend. Er wollte eine Einigung, sonst nichts. Ganz bestimmt wollte er keinen Ärger. „Du musst deine Frau und deine Kinder in Ruhe lassen. Zwei Kinder, nicht? Ein Sohn, eine Tochter? Gebrochene Rippen, Prellungen, ausgeschlagene Zähne. Habe ich gehört. In den vergangenen Monaten waren sie öfter im Krankenhaus als zuhause. Habe ich auch gehört. Und jetzt hast du deinen Sohn so sehr geprügelt, dass er ein Auge verloren hat? Wie alt ist dein Sohn, sieben? Also, das reicht, du musst sie in Ruhe lassen, wirklich. Ab sofort in Ruhe lassen. Ich bin sicher, du verstehst das."

    Aber der Cop, zehn Zentimeter größer und zwanzig Kilogramm schwerer und berauscht von Alkohol und Aggressivität und Cop-Selbstvertrauen, hatte gelacht. Die Zigarette weggespuckt, mit der linken Hand seine Dienstmarke aus der Jacke gezogen und hochgehalten, mit der rechten an den Gürtel gegriffen, ins Leere. Dann hatte er Palmer am Arm gepackt. „You son of a bitch". Ohne zu wissen, wie Recht er damit hatte.

    Palmer hatte die Hand weggestoßen, „Don’t touch", und gesagt, „Du hast deine Waffe vergessen? Unglaublich. Aber egal, sie würde dir eh nichts nützen und du brauchst sie heute auch nicht. Denn ich gebe dir eine Chance, eine ehrliche Chance, okay? Du lässt deine Frau und deine Kinder in Ruhe. Ab sofort, ab jetzt, ab heute und hier und jetzt. Okay? Du folgst ihnen nicht mehr, du bedrohst sie nicht mehr, du lässt sie in Ruhe. Als ob

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