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Rosenblut
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eBook390 Seiten5 Stunden

Rosenblut

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Über dieses E-Book

Während Raphael Wolf den Personenschutz für Anja Richter, der Tochter des Hessischen Ministerpräsidenten übernimmt, wird in einem Studentenwohnheim eine junge Frau ermordet aufgefunden. Doch es bleibt nicht bei einem Mord. Kurz darauf wird im Reinhardswald eine weitere Tote gefunden.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Aug. 2021
ISBN9783753195186
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    Buchvorschau

    Rosenblut - Andreas Groß

    rosenblut e-bookvorlage

    Rosenblut

    Andreas Groß

    e-book 061

    Erscheinungstermin: 01.11.2019

    © Saphir im Stahl

    Verlag Erik Schreiber

    An der Laut 14

    64404 Bickenbach

    www.saphir-im-stahl.de

    Titelbild: Shutterstock Bilderdienst

    Vertrieb: neobooks

    Rosenblut

    Andreas Groß

    1

    Romeo fühlte eine tiefe, innere Ruhe, als er den schmalen Flur entlang lief. Jeder andere an seiner Stelle wäre vor seinem ersten großen Auftritt aufgeregt gewesen. Er dagegen war die Ruhe selbst. Bedauerlicherweise würde kein Publikum bei seinem grandiosen Spiel zusehen. Doch der Tag würde kommen, an dem er seine wunderbare Rolle endlich vor begeisterten Zuschauern präsentieren konnte. Niemand würde sie ihm dann noch streitig machen. Schließlich gab es keinen besseren Schauspieler dafür. Sie würde ihm am Ende zu ewigem Ruhm verhelfen.

    Im Grunde war ihm dies nicht so wichtig. Entscheidend war viel mehr, dass er nach dem Fall des letzten Vorhangs wieder mit seiner wahren Liebe vereint sein würde. Er war sicher, sie würde ihn erwarten. Sie hätte ihn niemals enttäuscht.

    Seine Finger berührten den seidenen Stoff des Schals, den er in seiner Jackentasche versteckte. Ein kaltes Lächeln umspielte seine Lippen, als er die Tür öffnete. Julia erwartete ihn. Eigentlich hieß sie anders, aber dies war für ihn nicht wichtig. Für ihn war sie schlicht und einfach Julia. Ihr eigentlicher Name besaß im Grunde keine größere Bedeutung für ihn.

    Jedenfalls ahnte sie nichts von seiner wahren Absicht, die er geschickt vor ihr verbarg. Immerhin sollte es ihm als Schauspieler leicht fallen. Ein freudiger Schauer lief ihm bei dem Gedanken über den Rücken. Er war gekommen, um zu töten.

    Sie strahlte ihn an, als er das Zimmer betrat und leise die Tür hinter sich schloss.

    „Du bist schon da, sagte sie freudig. „Ich bin gleich soweit. Muss mir nur noch schnell die Wimpern nachziehen und das passende Outfit überwerfen. Dann können wir los.

    Romeo zuckte mit den Schultern. „Du übertreibst schon wieder. Bei deiner natürlichen Schönheit brauchst du eigentlich kein Make-up."

    Julia zog die Brauen hoch. „Flirtest du etwa mit mir? Du weißt hoffentlich, dass ich nicht auf dich stehe. Wir sind nur Freunde ..."

    Romeo hob abwehrend die rechte Hand. „Keine Angst, ich wollte dich nicht anmachen. Außerdem weiß ich doch, wen du ganz besonders liebst. Und selbst wenn, du bist einfach nicht mein Typ." Verlegen senkte er den Kopf.

    Julia verzog die Lippen zu einem Schmollmund. „So genau wollte ich das jetzt auch nicht wissen."

    Romeo seufzte. „Ich wollte dich nicht beleidigen, erklärte er hastig. „Ich bin halt ehrlich. Langsam schritt er durch das Zimmer und ließ sich auf einen Drehstuhl nieder, der vor einem schlicht aussehenden Schreibtisch stand. Sorgfältig achtete er darauf, die Armlehnen nicht zu berühren, während er auf dem Stuhl herumschwang, um sie weiterhin beobachten zu können.

    Julia huschte ins Bad. Romeo warf ihr einen bewundernden Blick hinterher. Sie besaß die gleichmäßigsten und längsten Beine aller Studentinnen an der Uni. Ihre makellose Haut glänzte in einem sanften Bronzeton. Sie musste sich nicht ins Solarium begeben, um die perfekte Bräune zu erreichen. Julia war einfach eine Naturschönheit.

    Romeo lauschte dem Rauschen des Wasserhahns. Am liebsten wäre er ihr gefolgt. Aber das Badezimmer war nicht der richtige Ort, um sein Vorhaben zu verwirklichen. Aus diesem Grund unterdrückte er mühelos seinen Drang. Er konnte noch warten.

    Sie lief auf Zehenspitzen aus dem Bad zu ihrem Schlafzimmer. „Ich muss nur noch mein Outfit überstreifen, verkündete sie im Vorbeilaufen. „Dieser Abend wird bestimmt wahnsinnig toll. Ich kann es nicht erwarten, den neuen Club aufzusuchen, erklang ihre Stimme durch die offen stehende Tür ihres Schlafzimmers.

    Romeo genoss jede Minute. Er musste einfach jeden dieser letzten Momente auskosten, bis seine Stunde endlich schlug. Zärtlich spielten seine Finger mit dem Schal. Der große Augenblick näherte sich unaufhaltsam. Er hörte, wie sie den Kleiderschrank öffnete, und vernahm das kratzende Geräusch, als die Bügel auf der metallenen Stange hin und her geschoben wurden.

    Er spürte, wie seine Erregung wuchs. „Der Club soll wirklich eine Sensation sein, erwiderte er. „Ich habe gehört, dass dort viele Prominente verkehren sollen.

    Julia schob ihren Kopf hinter dem Türrahmen hervor. „Vielleicht treibt sich ein Modelscout dort herum und entdeckt einen von uns. Oder am Ende laufen wir einem Modedesigner über den Weg und ... Sie schnippte mit den Fingern „... ehe wir uns versehen, finden wir uns auf einem Cover wider.

    Romeo lachte. „Du träumst. Ich werde bestimmt kein Model, dafür sehe ich nicht gut genug aus. Doch du dagegen hast die perfekte Figur. Und mit deinen blonden Haaren verzauberst du jeden Mann."

    „Mach dich nicht kleiner als du bist. Du bist nicht weniger attraktiv." Julia schenkte ihm ein Lächeln, ehe sie sich wieder ins Schlafzimmer verzog.

    Sie ist wunderschön, schoss es ihm durch den Kopf. Er begehrte sie auf seine ihm eigene Art, die sie mit Sicherheit nicht verstehen würde. Schließlich war es kein körperliches Begehren. Jetzt nicht mehr. Selbst wenn er Sex mit ihr gehabt hätte, würde er dabei nichts empfinden. Am Ende war sie auch nur ein weiteres verlogenes Miststück. Seine Liebe gehörte für immer der wahren und einzigen Julia.

    Dieses Mädchen dagegen war eine Beziehung mit jemandem eingegangen, dem sein ganzer Hass gehörte. Sie war die Person, die er zerstören wollte, ihr die Seele und den Verstand nehmen. So, wie die falsche Julia es mit ihm getan hatte.

    Sie alle waren verblendet. Alle waren der Person hörig, der seine Verachtung galt.

    Er fühlte kein Bedauern darüber, dass sie sterben musste. Es war einfach eine Notwendigkeit. Warum mussten sie sich auch mit dieser verlogenen Hexe anfreunden? Genau das war jetzt ihr Todesurteil, denn seine Liebe war unerfüllt geblieben. Niemand hatte ihm Trost geschenkt, als er getrauert hatte.

    Lange hatte er gewartet, seinem Zorn freien Lauf zu lassen. Endlich sollte das hinterhältige Biest den Schmerz des Verlusts spüren, immer und immer wieder, genauso wie er ihn in seinem Herzen jeden neuen Morgen fühlte. Für sein weiteres Handeln war allein diese Tatsache entscheidend.

    Er kannte die neue Julia erst seit zwei Wochen. Trotzdem erschien es ihm wie eine Ewigkeit, in deren Zeit er von alles umfassender Freude bis zu endlos scheinender Traurigkeit alle Arten von Gefühlen durchlebt hatte. Für einen Augenblick hatte er gehofft, er könnte eine neue, wahre Liebe gefunden haben. Doch dann hatte er die grausamen Worte aus ihrem Mund vernommen. Sie hätte ihm dies nicht antun dürfen. Außerdem wollte sie auch noch in diesem Stück mitspielen, in der Rolle, die sie niemals hätte übernehmen dürfen. Nicht nach ihrem Verrat.

    Julia trat erneut aus dem Schlafzimmer. Sie trug eine kurzärmelige Bluse über einem kurzen Rock, der ihre Beine noch länger erscheinen ließ. Ihre Füße steckten in schwarzen High Heels. Romeo fragte sich immer wieder, wie man auf derart hohen Absätzen laufen konnte. Julia gehörte jedoch zu denjenigen Frauen, denen es mühelos gelang. Mit Leichtigkeit und eleganter Balance lief sie auf diesen Schuhen umher. Über die Bluse hatte sie sich eine dünne Lederjacke aus feinem Rindsleder geworfen, die so geschnitten war, dass sie um die Taille eng zusammenlief.

    „Und?", Julia warf ihm einen fragenden Blick zu, wobei sie sich einmal um die eigene Achse drehte.

    „Perfekt, erklärte Romeo. „Nein, nicht ganz. Fast perfekt. Es fehlt nur ein winziges Detail in meinen Augen.

    Über Julias Nase bildete sich eine kleine Falte, als sie die Brauen zusammenzog. „Worauf willst du hinaus?" Sie blickte an sich hinab.

    Romeo erhob sich mit einer eleganten Bewegung aus dem Stuhl und trat dicht an sie heran. Er griff nach ihrem rechten Handgelenk und zog sie in das Schlafzimmer. „Ich zeig es dir."

    Willig folgte sie ihm. Deutlich stand die Neugier auf ihrem Gesicht, als er sie vor dem großen Spiegel des Schlafzimmerschrankes stellte. Hinter ihr befand sich ein Doppelbett mit einer beigefarbenen Tagesdecke darauf.

    Romeo griff in seine ausgebeulte Jackentasche und zog den sorgfältig zusammengelegten Schal hervor. Mit einer schnellen Handbewegung fächerte er ihn auseinander, verdrehte ihn mehrmals, ehe er ihn Julia locker um den Hals und über die Schultern legte. Dabei drapierte er ihn so, dass die losen Enden auf ihre Brust fielen.

    Er stellte sich hinter sie und warf einen Blick über ihre Schulter. „Was meinst du?"

    Julia neigte den Kopf und betrachte sich im Spiegel. „Ich bin mir nicht sicher. Ist es in dem Club nicht zu warm dafür?"

    Romeo winkte ab. „Du kannst ihn jederzeit ablegen. Andererseits betont der Stoff dein Gesicht und lässt es noch ausdrucksvoller erscheinen."

    Julia zupfte leicht an dem Schal. „Ich weiß nicht so recht. Sei mir bitte nicht böse, aber irgendwie finde ich ihn unpraktisch. Wenn wir zu einem Open-Air-Konzert gehen würden, wäre er bestimmt sinnvoll."

    „Es war nur ein Vorschlag", erwiderte Romeo sanft.

    Julia deutete ein Lächeln an. „Du verstehst bestimmt viel von Mode, aber heute verzichte ich doch lieber auf dieses Accessoire."

    „Kein Problem. Komm, ich nehme ihn dir wieder ab", beeilte er sich zu sagen und griff nach den Enden. Rasch wickelte er den Stoff über seine Handflächen. Er schenkte ihrem Spiegelbild einen letzten Blick, ehe er mit einem Ruck den Schal um ihren Hals zusammenzog. Ihre Augen weiteten sich entsetzt.

    Romeo kniff die Lippen zusammen, als er mit aller Kraft an dem Schal zerrte. Julias Mund öffnete sich. Verzweifelt versuchte sie nach Luft zu schnappen, aber Romeo war unerbittlich.

    „Ich habe dich geliebt", flüsterte er in ihr Ohr.

    Julia riss die Arme hoch. Todesangst zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, welches ihn aus dem Spiegel anstarrte. Mit letzter Kraft versuchte sie mit den Fingern unter den Stoff zu gelangen, um Luft zu bekommen.

    Romeo wusste, dass sie in wenigen Augenblicken bewusstlos werden würde, da der Schal ihre Halsschlagader zusammenpresste und die Blutzufuhr zu ihrem Gehirn abschnürte.

    Ihre Bewegungen wurden schwächer. Ohne loszulassen, warf sich Romeo herum und zusammen fielen sie auf das Bett. Er richtete sich auf und drückte das Knie in ihr Kreuz, um den Druck zu erhöhen. Seine Arme begannen zu schmerzen. Er fühlte, wie das Leben in ihr flackerte und erstickte. Ein letztes Zucken lief durch ihren Körper, als sie starb.

    Er wartete noch einige Minuten, nur um sicher zu sein, dass sie auch wirklich tot war, ehe er sich erschöpft erhob. Endlich lösten sich seine Finger von dem Schal. Er drehte sie auf den Rücken. Ihre leeren Augen starrten ihn anklagend an. Das durfte nicht sein.

    Entschlossen ging er in die Küche. Schnell hatte er gefunden, was er suchte, und machte sich ans Werk. Nachdem er es vollbracht hatte, legte er die beiden Gegenstände behutsam in eine Schachtel, die er in seine Jackentasche schob. Danach säuberte er sich. Es gab noch viel zu tun, ehe er die Wohnung verlassen konnte. Schließlich musste er seine Julia noch nach seiner Vorstellung herrichten. Erst nach zwei Stunden schritt er mit einem Gefühl der Zufriedenheit und der Erleichterung ins Freie. Tief sog er durch die Nase die frische Luft ein, um dann mit ruhigen Schritten die Straße hinunterzugehen.

    2

    Raphael Wolf starrte auf seine Krawatte. Er hasste es, wenn er dieses Kleidungsteil anlegen musste, weil es ihn seiner Meinung nach einengte, ihm einen Teil seiner persönlichen Freiheit nahm. Im Grunde hielt er es auch für einen Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem verlogenen Bürgertum, einer Gesellschaftsschicht, die sich gegenseitig an Spießigkeit zu übertreffen versuchte. Doch letztlich unterwarf auch er sich diesen Zwängen, wenn er die Notwendigkeit darin sah. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Im Grunde verhielt er sich damit nicht anders, als die meisten Bürger dieser Stadt. Und wenn er ehrlich war, genoss er es auch, sich auf diese Art zu kleiden, da er nur dann einen Blick hinter der Maske aus Verlogenheit und Selbstgefälligkeit erhielt.

    Mit einem leisen Seufzer der Ergebenheit schlug er den Hemdkragen hoch und band sich die Krawatte um. Zu seiner Überraschung gelang ihm der Knoten auf Anhieb und auch die Länge des breiteren Endes reichte präzise bis zu seinem Gürtel. Es verdeckte, wie vorgeschrieben, das schmale Ende, das er in eine kleine Schlaufe zog. Zufrieden betrachtete er das Ergebnis im Spiegel. Bis auf den Bund seiner Hose, der ein wenig zu eng um seine Hüften lag, da er in den vergangenen Monaten ungefähr zwei Kilos zugenommen hatte, saß der Rest des Anzuges perfekt und verlieh ihm eine seriöse Erscheinung. Vielleicht sollte er ihn doch häufiger tragen.

    Raphael wandte sich vom Spiegel ab, betrachtete für einen Moment seine Dienstwaffe, ehe er sie vom Tisch nahm und in das dafür vorgesehene Holster schob. Eigentlich würde er sie nicht benötigen, da er auf einen Empfang des Ministerpräsidenten eingeladen war. Aber ohne die SIG Sauer fühlte er sich nackt. Das Sicherheitspersonal würde nicht begeistert sein, wenn er bewaffnet erschien, aber ein Mal in seinem Leben war er ohne Waffe zu einem harmlosen Treffen gegangen und in große Schwierigkeiten geraten. Einen derartigen Fehler würde er nicht wiederholen. Er fragte sich schon, seit er die Einladung erhalten hatte, warum ausgerechnet er zu diesem Empfang im Rathaus erscheinen sollte. Er verstand, dass Frank Sandmann in seiner Funktion als Polizeipräsident, Kriminaldirektor Ralf Schuster und Kriminalrat Albert Gehrmann geladen worden waren, aber Wolf war nur der Leiter des Kommissariats Elf und nach seiner Meinung weder gesellschaftlich noch politisch wichtig genug, um auf dieser Veranstaltung erscheinen zu müssen. Als Wolf zu Gehrmann geeilt war, um ihm mitzuteilen, dass er die Einladung dankend ablehnen würde, hatte Gehrmann ihn nur angeschaut und erklärt, dass Wolfs Erscheinen von ganz oben angeordnet worden sei.

    Raphael fragte sich, warum Sandmann ihn unbedingt im Rathaus sehen wollte. Gehrmann hatte ihm keine Erklärung geben können, da auch er den Grund nicht kannte. Wolf biss sich auf die Unterlippe, schnappte sich den Autoschlüssel und eilte zu seinem Wagen. Es gab nur eine Möglichkeit seine Neugier zu stillen. Er musste auf den Empfang gehen.

    Raphael stellte seinen Wagen in dem Parkhaus ab, das an das Rathaus angrenzte und schritt über den Hof zum Hintereingang des Gebäudes. Mühelos erreichte er den Sitzungssaal der Stadtverordneten, aus dem bereits ein beachtlicher Stimmenwirrwarr in den Gang hallte. Bevor er eintreten konnte, hielt ihn allerdings jemand am Arm fest.

    „Gut, dass ich Sie hier schon antreffe", erklang eine Stimme neben seinem Ohr. Überrascht sah sich Raphael dem Leiter der Kriminaldirektion von Nordhessen gegenüber, der ihn vertraulich ein Stück beiseitezog. Er war über diese Geste so verwundert, dass er Folge leistete.

    „Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie so überfallartig abfange, aber ehe der Ministerpräsident und der Oberbürgermeister ihre Ansprachen halten, würde ich gerne für einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen", fuhr Ralf Schuster fort. Er hatte die Nachfolge von Siegfried Weinrich angetreten, der vor drei Jahren in Pension gegangen war.

    Raphael hob die Augenbrauen und musterte den Polizeipräsidenten. Im Gegensatz zu Weinrich besaß Schuster eine drahtige Gestalt, bei der sein Anzug beinahe eine Nummer zu groß wirkte. Die dunklen Haare waren kurz geschnitten und unter der Nase prangte ein breiter Schnurrbart, der nach Wolfs Ansicht seit Jahrzehnten aus der Mode gekommen war. Schuster war vor der Amtsübernahme Polizeipräsident von Magdeburg gewesen. Gerüchte, die nicht verstummen wollten, behaupteten, dass er den Posten in Kassel aufgrund seiner guten Beziehung zum hessischen Ministerpräsidenten und nicht wegen seiner Kompetenzen erhalten hatte. Sie sollten schon seit den Kindertagen enge Freunde sein. Letztendlich war es Wolf gleichgültig, ob die Gerüchte zutrafen. Er selbst strebte nicht nach diesem Amt und die berufliche Zusammenarbeit mit Schuster war bisher problemlos verlaufen. Persönlich trafen sie nur selten aufeinander, da Kriminalrat Albert Gehrmann Wolfs direkter Vorgesetzter war.

    Mit einer Mischung aus Interesse und Verwunderung folgte er dem Kriminaldirektor den Gang hinab, der zum Ostflügel führte. Sie bogen um eine Ecke, ehe Schuster vor einer Tür stehen blieb. Er drückte die Klinke nach unten, drehte sich zu Wolf um und streckte den rechten Arm aus. „Bitte, treten Sie ein."

    Raphael schob sich an Schuster vorbei in den Raum. Irritiert blieb er vor einem wuchtigen Schreibtisch stehen. Am Fenster stand mit dem Rücken zu ihm ein hochgewachsener Mann, der auf die Wilhelmsstraße hinabsah. Er trug einen dunkelblauen, maßgeschneiderten Anzug. An seinem linken Handgelenk schimmerte eine goldene Armbanduhr. Seine silbernen Haare verstärkten im Licht der Sonne die elegante Erscheinung des Mannes.

    Neben dem Schreibtisch stand ein weiterer, deutlich jüngerer Mann, dessen Anzug zwar nicht von einem Schneider stammte, aber eindeutig von hochwertiger Qualität war, die man in jedem gut sortierten Kaufhaus vorfinden konnte. Seine schwarzen Haare hatte er auf der rechten Seite mit einem Scheitel versehen, der ihn älter wirken ließ. In den Händen hielt er einen schlichten Ordner und ein Tablet.

    Als Schuster die Tür schloss, drehte sich der Mann am Fenster um. Wolf zog die Augenbrauen hoch, obwohl er den Ministerpräsidenten von Hessen bereits an seiner außergewöhnlichen Haarpracht erkannt hatte. Matthias Richter übte seit vier Jahren das politische Amt des Regierungschefs aus. Und er besaß gute Chancen, bei der nächsten Landtagswahl, bei dem seine Partei die Mehrheit der Sitze erreichen würde, wiedergewählt zu werden.

    In seinen blauen Augen blitzte Belustigung auf, als er um den Schreibtisch herumschritt und Wolf die Hand entgegenstreckte, die dieser mit einem begrüßenden Nicken ergriff. Ein breites Lächeln umspielte für einen Augenblick die Lippen des Ministerpräsidenten.

    „Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Hauptkommissar Wolf, erklärte Richter. „Sie fragen sich bestimmt, warum Sie zu mir gebracht wurden?

    „In der Tat", erwiderte Raphael und musterte Richters Gesicht. Einen Herzschlag lang glaubte er, einen Hauch von Schmerz in der Miene des Ministerpräsidenten zu sehen.

    Richter deutete auf den jungen Mann. „Darf ich Ihnen zuerst Thomas Cordes vorstellen, Herr Wolf. Er ist ein enger Mitarbeiter und Vertrauter. Ich würde ihn sogar als einen Freund bezeichnen, soweit man in der Politik Freunde haben kann. Wir kennen uns seit vielen Jahren kenne und im Gegensatz zu zahlreichen anderen Mitarbeitern ist er absolut loyal."

    Wolf sah interessiert zu Cordes. Offenbar musste er seine Einschätzung über ihn revidieren, da er aufgrund dessen jugendlichen Aussehens angenommen hatte, dass es sich um einen einfachen Sekretär der Partei handelte. Scheinbar war er doch weit mehr als ein schlichter Adjutant. Schließlich musste Wolf sich eingestehen, dass er keineswegs alle Minister, Staatssekretäre und hohe Beamte des Landes kannte. Cordes hob kurz den Kopf, nickte ihm zu, um sich sofort wieder seinem Tablet zu widmen.

    Richter wandte sich erneut Raphael zu. „Ich habe meinen Studienfreund gebeten, während meines kurzen Aufenthaltes hier in Nordhessen ein privates Treffen zu arrangieren. Zuerst wollte ich mich an Sandmann wenden, aber im Gegensatz zu meinem Innenminister bin ich nicht gerade von seinen Fähigkeiten überzeugt. Außerdem soll dieses Treffen kein Aufsehen erregen. Und aus diesem Grund bat ich Ralf, Sie während dieses Empfanges einzubestellen. Es halten sich im Rathaus so viele hochrangige Persönlichkeiten der Stadt auf, dass wohl kaum einer der Presseleute Ihrer Anwesenheit eine größere Bedeutung zuordnen wird."

    Nach einer kurzen Pause fuhr der Ministerpräsident fort: „Es gibt ein Problem, bei dem ich die Hilfe eines Beamten benötige, der die Fähigkeit besitzt, unauffällig und effizient zu ermitteln. Und auf der Suche nach einem geeigneten Mann, bin ich auf Ihren Namen gestoßen, Herr Wolf. Nicht nur Kriminaldirektor Schuster, sondern auch Kriminalrat Gehrmann sind voll des Lobes über Ihre Arbeit in Kassel. Besonders Gehrmann hat Ihre erfolgreiche Jagd auf den ‚Propheten‘ hervorgehoben. Aber nicht nur diese Aussagen haben mich überzeugt, deutete Richter an, ohne näher darauf einzugehen, worauf er sich bezog. „Bevor ich sie jedoch mit diesen Dingen zu langweilen beginne, will ich mit meinem eigentlichen Anliegen herausrücken.

    Matthias Richter drehte sich kurz zu Cordes um, der ihm die Akte reichte. Er holte ein Foto hervor, das er Wolf weitergab.

    Raphael musterte ausgiebig den Abzug in DIN A4-Größe, auf dem eine junge Frau abgebildet war. Er neigte den Kopf. Die Ähnlichkeit mit dem Ministerpräsidenten war unverkennbar. Sie verfügte über sanfte Gesichtszüge und in ihren dunklen Augen lag ein melancholischer Ausdruck.

    „Sie sehen darauf meine älteste Tochter Anja, sagte Richter. Er machte eine Pause und holte tief Luft. „Sie ist in Gefahr, denn sie wird bedroht. Jedenfalls ist das meine persönliche Einschätzung.

    „Was bringt Sie dazu?, hakte Raphael nach. „Sie haben meine ungeteilte Aufmerksamkeit.

    Richter griff erneut in die Akte und holte ein gefaltetes DIN-A4-Blatt hervor und streckte es wortlos Wolf entgegen.

    Raphael griff zu und faltete es auseinander. Aufmerksam las er den einzigen Satz, der darauf stand:

    Meiner einzigen Liebe ist großer Hass entsprungen.

    Als er wieder aufsah, hatte sich über seiner Nase eine kleine Falte gebildet. „Ich kann auf den ersten Blick darin keine konkrete Bedrohung für Ihre Tochter erkennen. Jedenfalls wird sie mit keinem Wort erwähnt und der Satz ist recht diffus formuliert. Wirkt beinahe poetisch, etwas altertümlich."

    Richter nickte bestätigend. „Das habe ich auch gedacht. Bis ein weiterer Brief eintraf." Er griff ein drittes Mal zwischen die Aktendeckel und zog ein weiteres Blatt hervor.

    Raphaels Stirnrunzeln vertiefte sich, als er den Satz las:

    Einmal muss jeder sterben.

    „Das ist eindeutig", gab er zu.

    „Dies war auch mein Gedanke, stimmte Richter zu. „Und seitdem bin ich in großer Sorge. Diese Schreiben wurden nicht per Post zugestellt, sondern irgendwann in den Briefkasten meines Privathauses eingeworfen. Der Unbekannte weiß also, wo meine Familie wohnt. Und diese Briefe waren an Anja adressiert, an niemanden anderen aus meiner Familie.

    „Warum Ihre Tochter? Warum bedroht der Unbekannte nicht Sie?", hakte Wolf nach.

    Richter zuckte mit den Schultern. „Ich kann es mir nicht erklären. Es gibt nichts, was meine Tochter getan hat, was sie zur Zielscheibe machen würde."

    „Es wäre also auch nicht auszuschließen, dass sich jemand auf diesem Weg an Ihnen rächen will", äußerte Wolf.

    Der Ministerpräsident zögerte, ehe er antwortete: „Nein. Keineswegs, aber ... trotzdem erscheint es mir unwahrscheinlich. Ich habe mir mit Sicherheit während meiner politischen Karriere genügend Feinde gemacht, aber die würden sich nicht auf diese Weise an mir rächen."

    Wolf starrte auf die beiden Blätter. „Ich bin kein Psychologe, aber aus diesen Sätzen schimmert etwas Persönliches heraus. Liebe und Hass deuten schon auf starke Gefühle hin. Möglicherweise hat Ihre Tochter jemanden abgewiesen oder verletzt, der jetzt Vergeltung an ihr üben will. Sie haben die Briefe bestimmt untersuchen lassen?"

    „Das ist richtig, sagte Richter, „aber leider erfolglos. Auf den Briefen und den Umschlägen waren nur die Abdrücke meiner Familie und von mir vorhanden.

    Raphael fuhr sich über die Lippen. Dieses Ergebnis war kein gutes Zeichen. Es deutete darauf hin, dass der Unbekannte sehr genau zu wissen schien, wie er vorgehen musste, um unerkannt zu bleiben.

    „Ich nehme an, dass an Ihrem Haus Sicherheitskameras angebracht sind?", drückte Wolf eine schwache Hoffnung aus, die Richter sofort zerstörte.

    „Es gibt zwar Kameras, aber die haben nichts aufgezeichnet, da die Übertragung gestört wurde. Richter breitete die Hände aus. „Ich habe natürlich sofort die Anlage überprüfen lassen, aber man konnte keine Manipulation feststellen. Jemand muss die Funkübertragung von außen gestört haben.

    „Dann haben wir es mit einen technisch versierten Mann zu tun, mutmaßte Raphael, „wobei ich nicht ausschließen kann, dass auch eine Frau hinter diesen Briefen stecken könnte.

    Richter schüttelte langsam den Kopf. „Das glaube ich nicht. Irgendwie kann ich mir das nicht vorstellen. Es muss ein Mann sein."

    Raphael ahnte, dass er den Ministerpräsidenten von seiner Meinung nicht abringen konnte. „Es klingt, als hätten Sie jemanden in Verdacht?"

    „Ich möchte niemanden beschuldigen, aber es kommt schon eine Person in Frage, aber es ist nur ein Gefühl. Verlangen Sie daher keine Erklärung von mir."

    „Wer ist es?"

    Richter zögert kurz, ehe er sagte: „Ihr Freund. Christoph Kehl."

    Wolf verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum sollte ausgerechnet ihr Freund sie bedrohen. Hat sie ihn verlassen?"

    „Nein, das nicht, erwiderte Richter. „Im Grunde sehen sie sich sogar sehr selten. Ich habe den Verdacht, er hätte gerne eine festere Beziehung, was sie wohl bisher immer abgelehnt hat. Und wer soll bei der jungen Generation hinsichtlich ihrer Einstellung zu Heirat und Ehe schon durchblicken. Bisher zeigt sich keines meiner Kinder dazu bereit. Aber ich schweife ab. Dieser Christoph hat in meinen Augen etwas an sich, das ich nicht einschätzen kann. Und glauben Sie mir, ich besitze eine gute Menschenkenntnis. Doch Christoph Kehl ist für mich zu undurchsichtig.

    Raphael unterdrückte ein Grinsen. Für ihn war das kein Grund, Kehl als Hauptverdächtigen zu betrachten. „Sie haben ihn bestimmt überprüfen lassen."

    „Das stimmt, gab Matthias Richter unumwunden zu. „Es gibt aber keine Auffälligkeiten. Er trinkt nicht, er raucht nicht, er geht selten aus. Er ist ... einfach ein unauffälliger Typ. Und genau das macht ihn für mich verdächtig.

    Raphael schürzte die Lippen. „Schön, lassen wir das mal beiseite. Gibt es noch irgendetwas, was Sie veranlasst, die Bedrohung für Ihre Tochter ernst zu nehmen?"

    Richter tauschte einen kurzen Blick mit Cordes aus, der Wolf keineswegs entging. Der Ministerpräsident klopfte mit der Akte gegen sein linkes Bein.

    „Wir können es nicht beweisen, aber ich bin davon überzeugt, jemand ist in mein Büro zu Hause eingedrungen und hat meinen Computer benutzt. Es fehlt nichts und das Ereignisprotokoll weist keine Unregelmäßigkeit hinsichtlich eines Anmeldeversuchs auf. Er hob die rechte Hand. „Bevor Sie dies erneut als Nebensächlichkeit abtun, muss ich Ihnen erklären, dass mein Rechner für meine Familie tabu ist. Niemand darf ihn benutzen und auch das Arbeitszimmer während meiner Abwesenheit nur aus einem wichtigen Grund betreten. Es ist mein Heiligtum, mein Refugium, in das ich mich zurückziehe, wenn ich völlig ungestört sein will.

    „Was hat dann Ihren Verdacht geweckt, dass jemand Ihr Büro unerlaubt betreten haben könnte?", fragte Wolf.

    „Ich bin ein Pedant. Ein Ordnungsliebhaber, wenn man es nett formulieren will. Bei mir liegt alles an seinem Platz. Und als ich nach längerer Abwesenheit mein Büro betrat, habe ich sofort gesehen, dass jemand darin war. Ein Stift befand sich nicht mehr an der Stelle, an der ich ihn hingelegt hatte. Selbst meine Putzfrau würde es nicht wagen, die Sachen zu verrücken."

    Raphael verzog keine Miene. Er hatte schon von den seltsamsten Macken vernommen, die Menschen besaßen. Daher gab es keinen Grund, warum er im Augenblick an den Worten des Ministerpräsidenten zweifeln sollte.

    Er holte tief Luft. „Sie haben mir zwar deutlich erklärt, warum Sie mit mir sprechen wollten, aber bisher ist mir noch nicht ganz klar, was Sie von mir wollen. Erwarten Sie, dass ich die Ermittlungen aufnehme? Ich glaube, dafür gibt es fähigere Kriminalbeamte."

    Matthias Richter beugte den Oberkörper vor. In seinen Augen lag ein stechender Blick.

    „Hauptkommissar Wolf, begann er. „Ich erwarte nicht, dass Sie in dieser Angelegenheit nur ermitteln. Jedenfalls nicht in erster Linie. Nein, ich erwarte, dass Sie meine Tochter beschützen.

    3

    Verblüfft schaute Raphael den Ministerpräsidenten an. „Ich bin eher als ... Ermittler geeignet und denke, dass Sie für diese Aufgabe bessere ..."

    Matthias Richter unterbrach Wolf mit einer heftigen Handbewegung. „Papperlapapp. Ich habe mich über Sie informiert, Hauptkommissar Wolf. Ihre Akte ist, muss ich gestehen, sehr ... wie soll ich sagen? ... sehr aufschlussreich."

    Raphaels Augen verengten sich. Er war keineswegs erfreut, dass Richter sich Einblick in seine Akte genommen hatte. Es gab Ereignisse in seinem beruflichen Leben, die nicht ohne Grund als streng vertraulich eingestuft waren.

    „Keine Angst", erklärte Richter beruhigend. „Es geht mir nicht darum, jedes Detail Ihrer Vergangenheit zu erfahren. Jedenfalls finde ich es bemerkenswert, dass es in Ihrer offiziellen Akte einige Lücken gibt.

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