Spontan sein - Improvisation als Lebenskunst
Von Andreas Wolf
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Buchvorschau
Spontan sein - Improvisation als Lebenskunst - Andreas Wolf
Andreas Wolf
IMPROVISATION
ALS LEBENSKUNST
für Mare
und die Schauspieler des fastfood theaters
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb-d-nb.de abrufbar.
4. Auflage 2020
Spontan sein. Improvisation als Lebenskunst.
Mit einem Grundkurs Improvisation
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
comteammedia.de
© 2013 comteammedia – eine Marke der ComTeam AG, Gmund
Umschlaggestaltung, Satz: Mel Brunner, ComTeam AG, mit Verwendung eines istock-Fotos
Lektorat: Jutta Friedrich
E-Book Konvertierung: mach-mir-ein-ebook.de
ISBN 9 783 981 566 482
Alle Rechte vorbehalten.
Inhalt
VORWORT
EINLEITUNG
GEBRAUCHSANLEITUNG
TRAMPELPFAD
DER FLUSS
DAS HIER UND JETZT
IM MINUSBEREICH: ANGST
SIMULATION
LEERER RAUM
ICH ASSOZIIERE
DAS GEGENÜBER
SCHEITERN
KONTROLLE
KÖRPER – GEFÜHLE – WELT
IM PLUSBEREICH – DER KERN
„DO SOMETHING!"
DAS VERSPRECHEN
INSPIRATION
CHAOS
SPIEL
RÜCKSCHAU
FLOW
GROSSMUT
GRUNDKURS IMPROVISATIONSTHEATER
Garderobe
Wahrnehmung Körperscan | Atemübung
Impulse und Assoziationen Impulsgehen | Geräuscheball | Wortball
Entscheidungen Das Und-Spiel | Statuten
Spiel- und Simulationssituation Ich bin ein …
Das große JA Geschenke | Ja, genau, und dann …
Gefühle Gefühlskörper | Ist da noch mehr? | 10 Emotionen
Bühnen- und Spielraum Was machst du?
Kommunizieren mit dem Gegenüber Zeigen, nicken, gehen | Szenensituation erfinden | Begegnung mit dem Ball
Irgendwie anfangen Geste Zug um Zug
Lust am Scheitern Fangen spielen | Neues Angebot
Keine Ahnung Gesten assoziieren
Reaktion und Rechtfertigung Ja, genau, weil … | Spitfire
Einstellung Jaaa-Übung | Charakter-Pingpong-Szene
Das Ziel Das Wort-für-Wort-Spiel
Kopf freimachen Gleichzeitig assoziieren
Angebote Angebote vertiefen
Chaos und Ordnung Jo-ha-kyu | Jo-ha-kyu-Geste | Jo-ha-kyu-Szene
Spielstrukturen In Mustern assoziieren
Spiele erfinden Plötzliches Spiel
Blick zurück Rückwärts durch die Geschichte gehen | Satz für Satz rückwärts
Transformation Transformationsmaschine
Standpunkt Figurenreigen
ANHANG
ÜBER DEN AUTOR
FASTFOOD THEATER – BEST OF IMPRO
LITERATURVERZEICHNIS
Täglich erleben wir, dass es uns bremst.
Warum wir nicht handeln?
Da gibt es eine Angst, eine Vorsicht.
Handeln ist eine Sache der Übung.
Vorwort
Wer lacht, hat keine Angst.
DIE ZEIT
Überschrift, 27.7.2017
Ich kann jemanden spontan töten und ich kann jemandem spontan über die Straße helfen. Improvisation kann mir helfen, etwas Schlechtes zu tun oder etwas Gutes. Deshalb hat Spontaneität immer auch einen ethischen Hintergrund, wenn wir sie anwenden. „Improvisation als Lebenskunst" bedeutet: die Kunst, im Alltag Glück zu erfahren. Improvisation als Mittel, wie wir sie verstehen, geht ohne die Achtung des anderen nicht. Das Gegenüber ist dasjenige, an dem sich ein Ich orientiert. Freiheit und Glück sind nur in und mit dem anderen erfahrbar.1
Viele von uns entwickeln sich zum Homo oeconomicus, dessen Ethik in großem Maße durch die Macht von modernen, global operierenden Konzernen bestimmt wird. Das Du wird geschickt kommerzialisiert und virtualisiert und zwar durch die Idee der selbstbestimmten Konsumentenentscheidung, die rational begründet ist.2
Hier wird uns suggeriert, dass ein Du käuflich ist. Zusätzlich erschweren viele unserer modernen Lebensumstände das Erlernen und Erleben von „echten" Beziehungen.3
So wird Lebenswirklichkeit mehr ein Nebeneinander als Zugewandtheit. Das Gegenüber wird zum Unsicherheitsfaktor und damit zum Angstauslöser. Diesem Trend wollen wir eine Lebenskunst entgegenstellen, die zu ihrem Ausdruck nichts weiter braucht als Menschen, die wir als Gegenüber achten und wahrnehmen.
Seit dem ersten Erscheinen des Buchs wird Improvisation nicht nur in Unternehmen eingesetzt, die darin die Möglichkeiten sehen, notwendige Veränderungsprozesse noch besser zu implementieren, sondern zunehmend auch in therapeutischen Kontexten. Improvisationstheater regt zum Lachen an, weil unvorhergesehene Dinge passieren. Wer lacht, hat keine Angst. Wer mit seiner Angst umgehen kann, kann leichter geheilt werden.
Wer gesund ist, kann mutig und couragiert handeln. Wer handeln kann, kann sich leicht mit einem Gegenüber in Beziehung setzen. Deshalb ist Improvisationstheater als Möglichkeit persönlicher Weiterentwicklung über die Bühne hinaus nicht nur in den pädagogischen, sondern auch in den therapeutischen und wirtschaftlichen Bereich unserer Gesellschaft vorgedrungen. Und: Es kann gefährlich werden, weil es subversiv gefestigte Strukturen infrage stellt.
Dies ist eine stark überarbeitete Auflage, in der ich das Erklärungsfeld „Spontaneität" erweitert und um aktuelle Forschungserkenntnissen sowie einige Kapitel ergänzt habe.
Andreas Wolf, 2020
Einleitung
Improv is the only art form I know,
where the artistic principles are identical
with the ethical principles.
DEL CLOSE 4
„Sharing, „Caring
, „Cooperation – das sind in diesen Tagen Schlagwörter, mit denen ein neues Lebens- und Wirtschaftsmodell entworfen wird. Diese Modelle versuchen, nachhaltig mit menschlichen und materiellen Ressourcen umzugehen. Die Ideen beruhen auf einem Menschenbild, bei dem die Fähigkeit, von einem festgesetzten Plan abzuweichen, existenziell wichtig ist. Dagegen erzeugt das Beharren auf Anspruch und Besitz gewöhnlich eine hohe physische und psychische Anstrengung. Ohne den bewussten Einsatz von Spontaneität, der Fähigkeit, sich optimal neuen Situationen anzupassen, ist die Realisierung neuer Modelle allerdings nur schwer möglich. Doch einfach nur „Sei doch mal spontan!
zu sagen, reicht nicht aus, um diese Fähigkeit auch zu erlangen. Wenn Sie diesen Ausruf in Ihrem Leben zu hören bekommen, ist es mit der Spontaneität bereits vorbei, weil dazu aufgefordert werden muss. Spontaneität impliziert, dass Sie vorher nicht nachdenken, sondern intuitiv handeln. Es ist also nicht möglich, zur Spontaneität aufzufordern, sie zu planen oder nach einem Rezept durchzuführen. Man kann nur spontan sein und hinterher in der Rückschau mit einer gewissen Überraschung feststellen, dass man ja spontan gewesen ist. Das heißt, Sie müssen trainieren, immer wieder bewusst spontan zu sein, um diesen ungewohnten Prozess dann unbewusst abrufen zu können. Die Vielfalt und Unschärfe, die dieses Thema umgibt, zeigt, dass nur aus einer subjektiven Perspektive und Erfahrung Licht auf das Thema geworfen werden kann.
Spontaneität selbst ist eingebettet in eine ganze Reihe von Eigenschaften. Eine davon ist Vertrauen. „Das Vertrauen zeigt sich dem Betrachter, (…) aber damit es leisten kann, was es leisten soll, dürfen die Akteure nicht darüber nachdenken, ob sie einander vertrauen oder nicht."5
Auch hier treffen wir genau wie bei der Spontaneität auf das Paradox der Erwähnung. So ist Vertrauen selbstverständlich und kann genau wie die Spontaneität nicht nachgefragt werden.
Muss man jedoch darüber reden und sich des Vertrauens versichern, ist bereits Misstrauen im Spiel. Vertrauen ist einfach da – oder nicht. Dass man Vertrauen jedoch lernen und entwickeln kann, teilt es mit der Spontaneität. Aber nicht nur das: Vertrauen ist die Grundlage für Spontaneität.
Ohne Vertrauen in Ihr Selbst und Ihre Umwelt gibt es keine Spontaneität. Deshalb gehören beide Phänomene untrennbar zusammen. Wer spontan ist, vertraut, teilt, kümmert sich und kooperiert. Er muss dies tun, denn ansonsten kann er nur für sich allein spontan sein. Spontaneität wird in diesem Buch immer im Kontext einer Beziehung zu anderen gesehen.6
Jeder Mensch ist spontan.7
Wer eine Situation spontan löst und dazu mehrere spontane Impulse einsetzt, improvisiert. Um Spontaneität zu erlernen, ist das Improvisationstheater als Methode und Werkzeug hervorragend geeignet. Es ist ohne Vorkenntnisse einfach anzuwenden, macht Spaß und bezieht sich immer auf den handelnden Menschen. Für Kenner des Improvisationstheaters kann es in diesem Buch, gerade im ersten Teil, interessante theoretische Anregungen geben. Es lohnt sich deshalb, auch einen Blick in die Anmerkungen zu werfen. Wer mit Improvisationstheater schon in Berührung gekommen ist und eine Ahnung von dem Potenzial erhalten hat, das darin steckt, der bekommt hier ein umfassendes Bild vom Wesen der Spontaneität und kann sein Wissen durch die ausführlich beschriebenen Übungen vertiefen. Wenn Sie sich zum ersten Mal damit beschäftigen, dann sollten Sie Spontaneität vor allem einfach mal ausprobieren.
Es spielt keine Rolle, ob Sie nun Künstler sind, für den Improvisation zum grundlegenden Handwerkszeug gehört, ob Sie sich im Alltag die Geheimnisse des schnellen Reagierens aneignen möchten oder beruflich mehr Flexibilität erreichen wollen. Wenn Sie diesen Weg einschlagen, werden Sie den Weg der Veränderungen gehen. Dafür ist es keine Voraussetzung, das Buch von vorn zu lesen. Sie können einfach spontan irgendwo einsteigen.
Gebrauchsanleitung
Dieses E-Book besteht aus zwei Teilen: Einem erläuternden Textteil und dem Grundkurs Improvisation mit praktischen Übungen. Zwischen diesen kann man, wenn man will, spontan querlesen. Klicken Sie einfach im Fließtext auf eine der Erläuterungen und Sie landen sofort an der Stelle im jeweils anderen Teil des Buches, auf die verwiesen wird. So kann man auch gleich etwas zu den Hintergründen der Übungen oder Übungen zu theoretischen Erkenntnissen bekommen.
Viel Spaß beim sprunghaftem Lesen.
Trampelpfad
Sommerfluss.
Da ist eine Brücke,
doch das Pferd geht durchs Wasser.
MASAOKA SHIKI
Als Kind sind Sie jahrelang denselben Weg, beispielsweise auf einem ausgetretenen Trampelpfad, quer über die Felder nach Hause gegangen. Jahre später kommen Sie an dieselbe Stelle. Und ohne zu zögern, können Sie fast blind denselben Weg gehen, obwohl Sie sehr lange nicht dort waren. Sie gehen dann diesen Weg entlang, erkennen ihn wieder und es erfüllt Sie mit einem schönen und angenehmen Gefühl, auch wenn sich in der Umgebung einiges verändert hat.
Nun stellen Sie sich vor, es hat sich hingegen sehr viel verändert, womöglich ist jenes Feld bebaut worden. Es entsteht in Ihnen einerseits der spontane Wunsch, diesen Weg gehen zu wollen, und die neugierige Frage, was es denn Neues gibt. Andererseits mag Enttäuschung eintreten, weil die Umgebung sich so stark verändert hat. Sowohl die positive wie auch die negative Reaktion beruhen auf einem Abgleich mit dem vorhandenen Wissen, der Erinnerung.
Zwei Dinge kann man hier schon feststellen: Wir reagieren so, wie wir es gewohnt sind, und unsere Reaktionen sind mit Gefühlen verbunden. Und: Ob Sie sich für Neugier oder Enttäuschung entscheiden, steht bereits fest, bevor Sie darüber nachdenken.
Wenn Sie eine spontane Entscheidung treffen und in diesem Moment in Ihr eigenes Gehirn schauen könnten, würden Sie sehr gut verstehen, warum Sie eine bestimmte Entscheidung getroffen haben. Doch so nehmen wir uns nicht wahr, sondern für uns ist dies eine einfache spontane Reaktion. Ob positiv oder negativ. Es sind Ihre Denkmuster, die das Ergebnis von Prägungen sind, die Ihre spontanen Entscheidungen von Anfang an beeinflussen. Dies zu verstehen, bedeutet, die eigene Spontaneität richtig einzuschätzen. Schon im Mutterleib machen Sie aufgrund des individuellen Stoffwechsels erste unverwechselbare Erfahrungen. Und auch nach der Geburt ist die menschliche Ausgangsposition in der Natur eine Besondere: „Keine andere Spezies kommt mit einem derart unreifen und deshalb offenen, lernfähigen und durch eigene Erfahrungen in seiner weiteren Entwicklung und strukturellen Ausreifung gestaltbaren Gehirn zur Welt wie der Mensch", schreibt Gerald Hüther.8
Und weil es diese grandiose Möglichkeit zur Offenheit gibt, sind wir alle innerhalb unserer Kultur individuell und unterschiedlich geprägt. Die Funktionsweise ist die gleiche wie beim Trampelpfad, den wir jahrelang gegangen sind. Im Laufe unserer Entwicklung werden Eindrücke zur Gewissheit und diese schließlich zu Wissen gebahnt, dadurch dass durch die Eindrücke über die Sinne immer wieder dieselben Muster an Nervenzellen aktiviert werden. Immer wieder wird derselbe gewohnte „Weg gegangen" und immer tiefer und stärker beeinflusst uns diese Prägung.
Probieren Sie einmal die Übung „Wortball" aus und stoßen Sie auf Ihre Prägungen, die Sie auch mit Ihren Spielpartnern teilen. Lassen Sie sich von Ihren Gemeinsamkeiten überraschen!
Sie gibt uns Sicherheit, weil wir eine (vielleicht nicht immer gute, aber wohlbekannte) Erfahrung gemacht haben. Während sich unser Denk- und Reaktionssystem entwickelt und gleichzeitig eine unglaubliche Komplexität erreicht, handelt es beständig und fällt bis zu 20.000 Mal am Tag Entscheidungen:9
bewusst und willentlich und in der Mehrzahl spontan, intuitiv und unbewusst. Stark vereinfacht, durchlaufen diese Entscheidungen eine Art hierarchisches System, das vier Ebenen unserer persönlichen Prägung repräsentiert. Gerhard Roth beschreibt diese Ebenen in seinem Buch „Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten" aus der Perspektive der neuronalen Abläufe im Gehirn. Er zeigt, dass in der untersten Ebene bereits die Entscheidung getroffen wird, ob ein Impuls als positiv (Hinbewegung) oder negativ (Wegbewegung) wahrgenommen wird.10
Auf dieser Ebene wird mit der Reaktion immer eine Antwort auf die Überlebensfrage gegeben, so wie es bei fast allen Wirbeltieren der Fall ist: „Verhaltensweisen und Empfindungen wie Angriffs- und Verteidigungsverhalten, Dominanz- und Paarungsverhalten, Flucht und Erstarren, Aggressivität, Wut usw."
Die zweite Ebene,11
die sich daran anschließt, stellt für den eigenen Organismus die Frage: „Was habe ich davon, wie kann ich davon profitieren? Gibt es eine Übereinstimmung zur ersten Ebene, dann findet das Gehirn dazu die passende Motivation: „Da will ich hin, weil …!
(Motivation) oder „Da will ich weg, weil …! (Furcht). Diese Ebene ist direkt mit den entsprechenden Nervenbahnen verbunden, sodass man hier oft die entsprechenden Impulse bereits im Körper sehen kann: Einem Spieler zuckt es in den Beinen und er will in eine Szene gehen oder er steht eher skeptisch zurückgezogen da. Gibt es in der Einschätzung einen Widerspruch, so erkennt man die Hemmung durch Hin- und Hergerissen-Sein. Diese beiden Ebenen leiten unser spontan-intuitives Verhalten, im Alltag wie auch in improvisierten Szenen. In der Sprache der Improvisateure wird eine Hinbewegung „ein Angebot machen/annehmen
genannt; eine Abwehr oder Wegbewegung „blockieren". Dies wird gewöhnlich als sehr hinderlich angesehen und passiert auch den erfahrensten Spielern immer wieder.12
Wenn Sie die Übung „Charakter-Pingpong-Szene" probieren, werden Sie sehen, wie schwierig es ist, den Partner nicht zu blockieren.
In der dritten, nächsthöheren Ebene werden die Impulse auf ihre Bewertung hin abgeklopft.13
Es geht um Belohnung oder Schmerz, verbunden mit ethischen Normen, dem Sozialverhalten und allgemeiner Risikoabschätzung. Diese Ebene ist durch Training beeinflussbar. Hier können wir lernen, Impulse des Gegenübers anzunehmen, anstatt sie zu blockieren und damit abzuwehren. Spontaneität wird in eine für uns nutzbare Bahn gelenkt. Wenn Sie die Erfahrung gemacht haben, dass das in der sozialen Gruppe als positiv angesehen ist, löst dies Belohnungseffekte aus, die dieses neue Verhalten unterstützen. Da aber die unteren beiden Ebenen auf ihre „alte" Weise immer mitwirken, ist das Zurückfallen in alte Muster – und das ist eben oft die Blockierung – leider ebenso Teil der Normalität, was den Lernprozess verlängert.
Die vierte Ebene ist die „kognitiv-kommunikative Ebene".14
Sie umfasst das Arbeitsgedächtnis, das Sprachzentrum, Verstand, Intelligenz und Wahrnehmung komplexer sozialer Signale. In dieser Ebene befinden wir uns, wenn wir aktiv während einer Szene darüber nachdenken, wie wir zum Beispiel unterstützend eingreifen können. Dieser Denkvorgang ist uns bewusst und kann auch anschließend wiedergegeben werden.
Neben dieser Hierarchie gibt es auch noch die Instanz „daneben: das „Vorbewusstsein
.15
Hier scheint sich einiges abzuspielen, was für das Improvisationstheater von Bedeutung ist, da es sich vor allem auf Bereiche des sprachlichen Systems bezieht. Das Vorbewusstsein ist Teil des Bewusstseins und umfasst Informationen, die nur in bestimmten Momenten und Situationen abrufbar und sprachlich wiedergegeben werden können. Zum Beispiel der PIN-Code der Bankkarte: Das Vorbewusstsein ist dafür zuständig, wenn Sie an Ihrem gewohnten Bankautomaten stehen und der PIN-Code Ihnen genau dann einfällt, in einer anderen Situation aber möglicherweise nicht. Es gibt zahlreiche Erfahrungen von Improspielern auf der Bühne, bei denen diese intuitiv auf bereits Gespeichertes zurückgreifen konnten, was ihnen bei einer Reflexion neben der Bühne nie eingefallen wäre.
Wenn man Improvisation in seiner ganzen Breite erfassen will, ist es gut, die unterschiedliche Qualität spontaner Impulse zu verstehen. Angefangen bei der durch unsere evolutionäre Entwicklung geprägten untersten Ebenen und endend bei den durch einen bewusst kognitiven Vorgang erzeugten Impulsen. Auf diese Weise verstehen Sie Ihre Trampelpfade und können auch einmal neue Wege gehen.16
Und wenn Sie um Ihre angeborenen Impulse wissen, gehen Sie – auch wenn es mal nicht so klappt – nicht so hart mit sich ins Gericht, da Sie ja wissen, wie tief bestimmte Muster verankert sein können.
Der Fluss
Großartige Improvisierer
schwimmen mit dem Strom.
Keith Johnstone
Ein Paradox: Wer die felsige und zerklüftete Küste Kroatiens kennt, weiß, dass es dort eigentlich gar keinen richtigen Sandstrand gibt. Es gibt Abertausende Buchten mit zerklüfteten und zum Teil scharfkantigen Felsen, in denen man sich verstecken, sonnen und auch baden kann: Doch Sandstrand gibt es kaum. Mit kleinen Kindern ausgestattet, waren wir froh, bei unserem jährlichen Kroatienbesuch auf der Insel Lošinj einen solchen zwei Meter breiten „Strand" gefunden zu haben, an dem die Kinder, die noch nicht schwimmen konnten, mit Sandspielzeug Kanäle und Burgen in den Sand bauen konnten.
Die Kinder schaufelten Sand und schöpften Wasser in einen Eimer, um ihn am Strand auszukippen und dem Wasser zuzuschauen, wie es seinen Weg zurück ins Meer suchte.
Ich sah den Kindern zu und betrachtete selbst mit Staunen, wie es dem Wasser gelang, immer wieder – elegant die Steine umkurvend und sich dann verzweigend – ins Meer zu fließen. Und irgendwann in diesen zwei Wochen ging mir ein Licht auf: Wenn hier jemand spontan ist, wenn hier jemand improvisiert, dann das Wasser mit seinen Eigenschaften.
Einmal ausgeschüttet, hat das Wasser ein Ziel. Nämlich nach unten. Und unten ist ja der große Rest des Wassers auch: auf Höhe des „Meeresspiegels", im Grundwasser, in Höhlen usw. Die Zielgerichtetheit gibt dem Wasser immer klar die Richtung vor, ohne dass man weiß, welchen Weg es nun genau dorthin nimmt. Es gibt zu viele Hindernisse und Unsicherheitsfaktoren wie Wassermenge oder Bodenbeschaffenheit, als dass man den Weg des Wassers vorherbestimmen könnte. Erst hinterher weiß man, welchen Abzweig es gewählt hat und wo es tatsächlich ins Meer fließt. So wurde dieses Kinderspiel plötzlich sehr spannend. Was macht das Wasser jetzt? Welchen Weg nimmt es? Rechts am Stein vorbei oder links? Wie geht es mit dem jeweiligen Hindernis um? Offensichtlich gab es kleine, aber klare Entscheidungen, die dafür sprachen, einen ganz bestimmten Weg zu nehmen.
Und so, wie man den Verlauf des Wassers am Strand beobachten kann, verfolgen kann, wie es in verschiedenen Situationen reagiert, kann man auch Menschen beim Improvisieren beobachten. Auch die Improvisation hat immer ein Ziel: eine Aufgabe oder ein Problem spontan zu lösen. In welchen Bahnen sie dann anschließend verläuft, kann man nur schwer vorhersagen. Unvorhersehbares Verhalten kann aber gefährlich werden, weil es nicht kontrollierbar ist. Deshalb haben wir dem Wasser Grenzen gesetzt: Wir haben die Flüsse kanalisiert und am Meer Dämme gebaut, um die Spontaneität des Wassers zu beherrschen.
In unserem Alltag haben wir Gesetze, Regeln und Konventionen für das alltägliche Leben entwickelt, an die wir uns halten, damit wir nicht spontan gefährlichen Übergriffen unserer Nachbarn ausgesetzt sind. Interessanterweise kann all das Katastrophen nicht verhindern. Überschwemmungen kleiner Bäche, die zu reißenden Strömen anwachsen, zeigen, dass das Wasser doch immer wieder einen Weg