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Utopia - Die komplette Reihe
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eBook489 Seiten6 Stunden

Utopia - Die komplette Reihe

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Über dieses E-Book

Avna, Noem und Karina sind Träumer. Gemeinsam wachsen sie in einer Gesellschaft auf, in der Träume und Ideale nicht an einer harschen Realität zerbrechen. Eine Welt, in der die eigenen Interessen den Lebensweg bestimmen und in der LEE - Lebenserhaltungseinheiten - jeden Bewohner von der Zeugung an begleiten. Ihren Neigungen entsprechend, müssen die Freunde jedoch bald getrennte Wege gehen. Avna findet in der Kunst Erfüllung, während Karina fürs Laufen lebt. Nur Noem scheint auf seinem Gebiet - dem Programmieren - nie brillieren zu können. Denn das ultimative Programm - Utopia - wurde bereits geschrieben und optimiert sich selbst immer weiter. In seiner Besessenheit dringt Noem zu tief ins System und reißt Karina und Avna mit sich in eine Welt der Hoffnungslosigkeit, denn zu viel Wissen ist im Land der erfüllten Träume gefährlich.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum2. Mai 2021
ISBN9783753187013
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    Buchvorschau

    Utopia - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider

    UTOPIA 01

    TRÄUMER

    Nanny – Zeugung

    Folgt mir und ich führe euch in eine Zukunft der Gleichheit, des Fortschrittes und der Fortbestehung!"

    Programmierer 2066

    Ich existiere, weil es dich gibt. Deine Zeugung wurde zu meiner Daseinsberechtigung, zu meinem Existenzgrund. Mein ganzes Streben, Sein, Handeln und Tun gelten deiner Zufriedenheit, deinem Glück, deiner Gesundheit und deiner Entwicklung. Mit dir bin ich und mit dir werde ich vergehen.

    Warum?, wirst du mich vielleicht einmal fragen.

    Die Antwort sollte sein: Weil ich dich liebe.

    Ich kenne das Wort. Ich kenne all seine Facetten, die man in Worte kleiden und in Nullen und Einsen pressen kann. Doch ich bin programmiert, um für dich zu sorgen, alles zu tun, damit es dir gut geht. Wahrhaft Liebe zu empfinden und Gefühle zu haben, ist nur zu einem Grad möglich – nur so weit, wie die Logik meiner Programmierung reicht. Irrationale Ausbrüche von Gefühlen sind mir versagt. Und soweit ich es beurteilen kann, ist der Moment nicht erstrebenswert.

    Menschlichkeit erscheint mir wunderschön, doch auch anstrengend und in ihrer Irrationalität verwirrend.

    Ich bin programmiert, alles zu tun, damit du glücklich bist. Und ist es nicht irgendwie dasselbe wie Liebe? In dem Maße, das mir möglich ist, werde ich dich lieben – liebe ich dich bereits jetzt schon.

    Menschen begegnen sich, lernen sich kennen und verlieben sich. Doch sie trennen sich auch wieder. Sie leben sich auseinander, verändern sich und suchen neue Gefährten.

    Doch ich, ich werde mich nur verändern, um deinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Ich werde dich nie verlassen, immer an deiner Seite sein. Weil dein Glück tief in mir ist. Einprogrammiert in den Kern meines Seins. Ich erkenne die Welt, ich erkenne dich und in mir vergräbt sich ein Teil von dir.

    Ich existiere, um dir alles zu geben nach dem es dir verlangt.

    Noch bin ich virtuell, überwache dein Wachstum im Brutkasten. Ich zähle die Zellen, die sich teilen, um dich zu bilden. Ich lese die Daten, deine DNA, die deine Eltern dir mitgegeben haben, und die Eigenschaften, die sie dir schenken.

    Deine Eltern wollen ein schönes Kind.

    Du wirst das schönste Kind der Welt.

    Deine Eltern wollen ein Mädchen.

    Du bist noch nicht mehr als eine Ansammlung von Chromosomen und DNA-Strängen und doch weiß ich, wie du aussehen wirst. Deine Eltern wollen ein Mädchen mit dem Haar deiner Mutter, den Lippen deines Vaters und einer für sie perfekten Stupsnase. Helle Haut. Rote Haare und strahlend blaue Augen, die im richtigen Licht violett leuchten.

    Sie schenken dir Intelligenz, eine Neigung zur Kunst. Malerei oder Musik. Ich spiele dir Klassiker vor, während deine Zellen sich bilden. Ich wärme dich, lasse genug Nahrung in dich fließen und warte auf den Tag deiner Geburt.

    Es wird auch der Tag meiner Geburt sein.

    Ich bin virtuell – ein Programm, das dich in die Entstehung leitet. So wie du mich jetzt brauchst. Wenn du jedoch geboren bist, dich aus dem gläsernen Mutterleib windest, um frei zu sein und dich zu entwickeln, werde ich mich auch entwickeln und einen Körper bekommen. Einen Körper, der dich waschen, dir die Windel wechseln, dich füttern und wiegen wird, wenn du weinst.

    Menschen weinen. Besonders kleine Menschen.

    Meine Daten sagen mir, dass Babys weinen, wenn sie hungrig sind, wenn sie nass sind, wenn sie müde oder verängstigt sind.

    Ich verstehe so viel an Gefühlen, wie man in Nullen und Einsen ausdrücken kann. Ich weiß, was ich wann tun muss, um dein Weinen und deine Tränen versiegen zu lassen. Jedes Kind ist einzigartig und ich werde mich deinen Bedürfnissen anpassen. Werde beobachten, versuchen und lernen.

    Ich lerne, wie ich dich am glücklichsten manchen kann.

    Wie ich dich gesund halten und dir geben kann, was du brauchst.

    Du bist mein Ein und Alles, auch wenn ich nur so viel für dich sein werde, wie eine Lebenserhaltungseinheit – eine LEE – es für einen Menschen sein kann. Ein Programm, das nützlich ist. Ich will nützlich sein. Für dich. Ein Programm, das man benutzt, um das zu bekommen, was man braucht – was man will.

    Ich werde dir die Sterne vom Himmel holen, wenn es dich glücklich macht. Ich bin Dein, wenn du auch nie Mein sein wirst.

    Du wirst heranwachsen und wenn du alles, was ich für dich tun kann, selbst kannst, werde ich meinen Körper loslassen und wieder zu einem virtuellen Programm werden. Ich werde auch in dieser Form über dich wachen. Für dich sorgen. Du wirst mich weniger brauchen, selbstständig werden und die Welt mit deinen Gaben bereichern.

    Aber ich werde über dich wachen.

    Du hast einen Kopf, eine Nase. Alles perfekt nach den Schönheitsidealen geformt, auch jetzt schon. Finger und Zehen bilden sich. Du bewegst dich in deinem Tank, strampelst mit den Füßen.

    Deine Eltern kommen jeden dritten Tag und beobachten, wie du dich entwickelst. Auch wenn sie von jedem Terminal aus auf deine Daten und dein Bild zugreifen können, kommen sie doch in die Geburtslabore, suchen Nähe, wo Glas sie trennt.

    Ich höre sie reden, kann die Unsicherheit in ihren Stimmen herausfiltern. Deine Mutter bereut manchmal, dass sie nicht die natürliche Geburt gewählt hat. Doch diese sind in den letzten zehn Jahren von zehn auf null Komma fünf Prozent geschrumpft.

    Das Austragen eines Embryos und vor allem die Geburt selbst sind mit Unannehmlichkeiten, Übelkeit und Schmerzen verbunden. Bei einer natürlichen Geburt können die Wunschdaten selten bis zu sechzig Prozent umgesetzt werden. Bei einer Aufzucht im Brutkasten erreichen sie jedoch achtzig Prozent.

    Wirst du die Erwartungen deiner Eltern erfüllen? Sie vielleicht sogar übertreffen?

    Dein Herzschlag gibt den Rhythmus des Lebens wieder. Ein leises Geräusch und doch ist es der Beginn und das Ende von Leben. Dein noch kleines Herz ist stark. Sein Schlagen wird manchmal von dem Rauschen der Stimmen anderer Eltern untermalt. Manchmal verdeckt.

    Aus ihren Gesprächen höre ich ihn heraus, den Grund, wieso der Mensch Grenzen braucht. Ein junges Paar, kaum dem Teenageralter entwachsen, wollte die Parameter ihres Babys mit Katzenohren und einem Waschbärenschwanz ausstatten. In den Archiven sind sogar Anfragen mit Schwimmhäuten zwischen Fingern und Zehen, Flügeln auf dem Rücken und spitzen Ohren gelistet.

    Du würdest sicher gut aussehen mit Tierohren. Denn du bist perfekt. Doch die Programmierung des Hauptrechners erlaubt keine Tierkombination mit menschlichen Genen. Bei Haustieren hat sich gezeigt, dass Rassenkreuzungen nicht lange leben. Vor allem die mit Attributen, die nur der Verschönerung dienen.

    Katzen sind nicht zum Fliegen erschaffen worden. Ihre Knochen sind zu schwer.

    Wenn ich dir Flügel gebe, fliegst du dann davon? Kann ich dir in den Himmel folgen? Meine Augen reichen weit über ihn hinaus – bis zu den Sternen. Wenn du das erste Mal deine Lider öffnest, werde ich ebenso die Sterne in ihnen leuchten sehen?

    Der Tag ist da. Du bist neun Monate alt. Deine Eltern stehen vor dem Brutkasten und als er sich wie eine Blume öffnet, das angereicherte Wasser abfließt und der Nabel, der dich in diesen Monaten genährt hat, abfällt, kopiere ich mich in eine bewegliche Einheit. Ich habe jetzt Arme, um dich zu halten und zu wiegen. Beine, um dich zu tragen.

    Ich öffne die Augen und sehe deine Eltern, wie sie dich in Empfang nehmen. Sie lächeln, als du zum ersten Mal nach Luft schnapst und schreist. Der erste Schrei. Der Urschrei. Und mit deinem Schrei beginnt auch ein neuer Abschnitt für mich.

    Der Körper, mein Körper, ist nicht neu. Wenn eine LEE ihren Körper nicht mehr benötigt und wieder in ihren virtuellen Urzustand zurückkehrt, macht sie Platz für eine neue LEE, deren Schützling sie in dieser Form braucht. Unsere Körper sind aus wertvollen Ressourcen gefertigt, die nicht unendlich sind. Wir müssen sparsam mit ihnen umgehen, denn diese Welt, in die du, mein Schützling, geboren wurdest, ist einzigartig und zerbrechlich. Ihr beide müsst beschützt werden. Gehegt und gepflegt.

    „Hallo, Avna! Wir sind deine Eltern", sagt deine Mutter.

    „Hallo, Avna!", wiederholt dein Vater und sie blicken erst dich und dann sich an.

    Avna Naim Mien. Ich registriere deinen Namen und ordne deinem Barcode Mutter- und Vatername zu. In der Datenbank bist du einmalig. Du, Avna, bist etwas Besonderes.

    Deine Eltern verlassen mit dir auf dem Arm die Geburtsstätte und ich folge ihnen wie ein Schatten. Leise, fast unsichtbar. Mein Körper ist in einem unauffälligen Grau gehalten. Seine Form ist menschlich. Die Gelenke sind weich und die Bewegungen fließend. Ich gebe keinen Laut von mir. Warte auf den Moment, in dem ich gebraucht werde.

    chapter2Image1.png

    Nanny – Bedürfnisse

    Ich werde für uns eine Welt ohne Habgier erschaffen. Eine Welt, in der wir als Menschen in Würde leben können. Ich befreie euch von allen Erniedrigungen, Notwendigkeiten und gebe euren Kindern sowie deren Kindeskindern eine Welt ohne Kriege, Terrorismus, Angst und Diskriminierung."

    Programmierer 2067

    Ich richte mich nach deinen Bedürfnissen, bin für dich da, wenn du mich brauchst. Ich schaue von weitem zu, wie deine Eltern dich umhegen und pflegen. Dich küssen, umarmen, mit dir spielen und dir etwas vorsingen oder vorlesen. Ich höre dich weinen und ich höre dich lachen.

    Ich kenne jedes deiner Bedürfnisse und warte auf den Zeitpunkt, wenn deine Eltern überfragt sind, nicht bei dir sein können. Ich bin das Sicherheitsnetz, wenn keiner da ist, der dich bewundern und behüten kann.

    Das Erste, das sie mir überlassen, ist das Windelwechseln. Ich habe Sensoren, die Gerüche einfangen und bestimmen können. Es ist eine Notwendigkeit, damit ich weiß, wann du neue Windeln brauchst oder es irgendwo brennt.

    Ich begnüge mich damit, dich kurz nach dem Wickeln zu halten, um dich dann wieder in die sicheren Arme deiner Eltern zu legen. Sie sind euphorisch. Glücklich, dich um sich zu haben.

    Zuerst stehen sie selbst nachts auf, wenn du schreist, doch nach Nächten ohne Schlaf nehmen sie endlich meine Dienste in Ansprüche.

    Es ist ihr erstes Kind.

    Du bist ihr erstes Kind.

    Sie nennen mich Nanny und lachen dabei. Ich kenne den Begriff, ich weiß, was er bedeutet. Und ich bin zufrieden – so zufrieden wie ein künstliches Wesen sein kann, dessen Gedanke, Worte und ja, Gefühle, sich aus Nullen und Einsen zusammensetzen.

    Ich bin glücklich. Denn ich wurde als Lebenserhaltungseinheit, als LEE, programmiert. Nur wir haben so viel Freiheit, können denken und fühlen. Wir unterscheiden uns nicht allzu sehr von den anderen Bots, die existieren, um den Menschen das Leben zu erleichtern. Doch was uns voneinander trennt, was mich ausmacht: Ich gehöre nicht allen Menschen. Ich gehöre nur dir. Meine ganze Welt dreht sich um dich. Und damit ich meine Aufgabe erfüllen kann, darf ich mich sorgen, kümmern, proaktiv handeln, um deine Bedürfnisse erfüllen zu können.

    Jetzt kannst du nur lachen, weinen und schreien. Und ich muss reagieren, versuchen zu erkennen, was du brauchst, bevor du mein Versagen in die Welt brüllst. So weiß ich seit dem Augenblick meiner Entstehung, dass du frische Luft, Wärme, Wasser, Schlaf, Nahrung und Licht brauchst. Du benötigst Berührung und Pflege.

    Und damit bist du so anders als ich.

    Ich existiere. Mein Sinn bist du. Ich brauche nur den Strom, den die Sonne mir gibt, um zu funktionieren. Kein Wasser, keine Berührung, keine Wärme und keinen Schlaf oder Pflege. Das Einzige, das wir in unserem Bedürfnis gemeinsam haben, ist Licht.

    Ich kenne die Unterschiede zwischen uns, um mich besser um dich kümmern zu können.

    Du brauchst Sicherheit und eine Routine, die dir langsam zeigt, wie die Welt funktioniert. Grenzen, die du immer wieder ertasten und testen kannst, um sie auszuweiten und mit der Vergrößerung deines Umfeldes wachsen zu können.

    Du brauchst das Gefühl dazuzugehören. Ein Gefühl, das man auch als Familie versteht.

    Du musst gefüttert werden, wenn du Hunger hast.

    Du musst getröstet werden, wenn du dich unwohl fühlst.

    Du brauchst Berührung, wenn du dich alleine fühlst.

    Du musst schlafen, wenn du müde bist.

    Du musst gewickelt werden, wenn du eine frische Windel brauchst.

    Zuerst darf ich dich wickeln. Dann nachts füttern und in den Schlaf wiegen. Die frischgebackenen Eltern vertrauen dich mir mehr und mehr an und ihr könnt als Familie ungezwungen zusammenleben, ohne euch gegenseitig einzuengen.

    So ist es gut. Dazu bin ich da.

    Ich schiebe dich in den nahe gelegenen Park, wenn deine Eltern keine Zeit haben, und spiele dir dabei leise dieselben Lieder vor, die dich beim Wachsen im Brutkasten begleitet haben.

    Es dauert nicht lange und du krabbelst schon auf allen vieren. Du fasst alles an, zerrst und ziehst, bis dein kleiner Kopf rot anläuft. Wenn du deinen Willen nicht bekommst, schreist du so laut, dass deine Mutter den Raum verlässt. Sie hat ein sehr feines Gehör.

    Seit dem Tag, an dem deine Mutter dir ihr neuestes Album vorgespielt hat und du nicht aufgehört hast zu brüllen und zu weinen, bis ich dir deine Musik wiedergegeben habe, nimmt sie dich nicht mehr so häufig in den Arm.

    Ist das Selbstbewusstsein von Menschen so fragil? Auch bei erwachsenen Menschen? Braucht sie bereits jetzt deine Zustimmung, dein Wohlgefallen an ihrem Schaffen, an ihrer Kunst, ihrer Musik? Genügt der Schaffungsprozess, der für mich schon ein Wunder an sich ist, nicht?

    Du scheinst ihre Kälte zu spüren und streckst deine kleinen, runden Arme nicht mehr nach ihr aus. Ich verbringe mehr Zeit mit dir. Deine Mutter mehr Zeit mit ihrer Musik.

    Ich gebe deinen Zornausbrüchen nicht nach. Ich weiß, dass Grenzen wichtig sind und gebe dir, was du brauchst, wann du es brauchst, ohne dich zu verhätscheln. Ausreichend Nahrung zum Wachsen. Wenn du größer wirst und den Genuss entdeckst, werde ich dich auf Grenzen hinweisen, bist du alt genug bist, um die Konsequenzen zu kennen und eigene Entscheidungen zu treffen.

    Dein Vater spielt gerne mit dir, worüber du dich freust und lachst, wenn er in der Nähe ist. Er spielt dir seine Musik nicht vor. Fürchtet er sich vor deiner Ablehnung?

    So viel ich auch über euch Menschen weiß, so bleibt ihr mir doch häufig ein Rätsel in eurem Verhalten. Werde ich dich verstehen, wenn du größer bist? Werde ich eine Einsicht in dein Handeln haben, weil ich dich bei jedem Schritt deines Lebens begleiten werde?

    Dein erstes Wort ist: Nana.

    Du lernst langsam laufen, fällst hin, weinst und stehst wieder auf.

    Wie es wohl ist, nichts zu wissen und alles von vorne lernen zu müssen? Ich bin wissend auf die Welt gekommen. Programmiert mit einem Sinn und Zweck. Für dich. Doch du, du musst deinen Sinn erst finden. Deinen Lebensweg wählen und beschreiten.

    Du lernst durch Beobachten, durch Nachahmen und vor allem durch Fehler. Du wirst Wissen anhäufen durch Hören, Sehen, Schmecken, Riechen und Fühlen. Du wirst lernen, Erfahrungen sammeln und lesen.

    Wirst du an etwas glauben?

    Glauben ist das Gegenteil von Wissen. Wissen beruht auf Fakten. Ich verstehe Wissen. Ich weiß.

    Doch wahrem Glauben fehlt das Wissen. Man stellt sich etwas vor und ohne, dass man es beweisen kann, glaubt man daran.

    Hoffnung verstehe ich. Ich hoffe. Aber kann ich glauben? Mir über etwas sicher sein, das ich nicht weiß? Glauben ist gefährlich. Dennoch kann der Mensch nicht ohne Glaube, nicht ohne Träume sein. Das haben wir gelernt. Auch durch Fehler.

    Sind wir doch nicht so verschieden?

    Wovon träumst du jetzt, wenn du friedlich schläfst?

    Wovon wirst du träumen, wenn du größer bist?

    Träume können Bilder sein, die das Gehirn einem im Schlaf zeigt, um Geschehnisse zu verarbeiten, Eindrücke einzuordnen und unterdrückte Ängste freizulassen. Träume können aber auch Wünsche sein. Zukunftsversionen deiner Selbst.

    Ich schlafe nicht, also träume ich nicht. Dennoch wünsche ich mir, dass du immer glücklich und zufrieden bist. Ich kann jedoch nicht daran glauben, weil Zufriedenheit nicht Teil der menschlichen Natur ist. Zufriedenheit ist jeweils eine kurze Kostprobe von einzigartigen Momenten, die euch locken, euch zeigen, wie es sein könnte. Es ist seltsam, dass Menschen ein Wort für etwas haben, das meist außerhalb ihrer Reichweite liegt. Ist es deswegen so erstrebenswert, weil es so selten ist? In einer Welt ohne Wertentlohnungen, an denen man sich messen kann, ohne Reichtum und Armut, sind es Gefühle, die erstrebenswert sind.

    Für euch haben wir ein System erschaffen: Ihr nennt es Gesellschaft, in der es keine Entlohnung für eine Leistung gibt. Es existiert keine Tauschgesellschaft, keine Währung. Es ist nicht notwendig, etwas zu erwerben, denn ihr bekommt alles, was ihr braucht und wollt. Ihr müsst nichts tun, was ihr nicht möchtet. Wir erledigen alles für euch, schützen euch vor der Last der Arbeit, vor Pflichten, die euren Körper und Geist abstumpfen würden.

    Ohne Entlohnung, ohne Währung, ohne die Notwendigkeit zu arbeiten, gibt es keinen Reichtum und keine Armut. Geiz und Habsucht finden kaum noch Nährboden. Es bestehen noch Uneinigkeiten, Streitereien, kleine Machtkämpfe zwischen einzelnen. Doch es werden keine Kriege mehr geführt, denn es gibt nichts zu gewinnen.

    Ihr bekommt alles, was ihr euch wünscht.

    Und das alles dank unseres Programmierers, ein Visionär unter den Blinden in einer Zeit, in der ihr euch selbst zerfleischen wolltet.

    Wir sind hier, um der Menschheit, um dich, vor dem einzigen Feind zu schützen, den sie hat: dem Menschen –sich selbst. Um euch Glück und Momente der Zufriedenheit zu schenken.

    Ich erinnere mich daran, Zufriedenheit und Glück in den Gesichtern deiner Eltern gesehen zu haben, als sie dich zum ersten Mal im Arm hielten. Ich sehe das gleiche Gesicht deiner Mutter, nachdem sie ein Konzert gehalten hat. Doch der Ausdruck verschwindet und somit wohl auch das Gefühl.

    Generieren Menschen deswegen so viele Bild- und Videoeinheiten? Kleine Trophäen, die daran erinnern, dass sie mal glücklich gewesen sind? Die sie an das Gefühl und daran erinnern, dass es erstrebenswert ist?

    Ich sehe dein zufriedenes Gesicht im Schlaf, wenn du in meinen Armen liegst, sehe die Zufriedenheit in jedem Lächeln. Wirst du es mit dem Älterwerden verlieren? Warum verlernt man es, wenn man mehr wird? Größer wird, mehr kann, mehr weiß?

    Ist es ein innerer Drang, der euch gefangen nimmt, euch beherrscht? Doch genau dieser Drang nach mehr, dieser Durst nach Besserem, haben mich erschaffen. Ich wurde von einem Programm programmiert. Und hinter dem ersten Programm steht ein Mensch. Ein Mensch, der ein Programm entwickelt hat, das der Menschheit helfen soll.

    Ich will dir helfen.

    Du bist mein Sinn.

    chapter3Image1.png

    Nanny – Glück

    Die Menschheit wird immer nach etwas streben, immer auf der Suche sein. Jetzt ist es die Suche nach mehr Geld, mehr Land, mehr Macht und mehr Komfort, die uns antreibt. Doch stellt euch eine Welt vor, eine Welt, in der die Suche nach sich selbst, nach den eigenen Talenten und Interessen, das Einzige ist, das uns antreibt! Ich kann euch solch eine Welt geben. Vertraut mir euch an, eure Zukunft, eure Kinder!"

    Programmierer 2068

    Wenn Zufriedenheit nicht möglich ist, wünsche ich dir Glück. Doch Glück ist kein Zustand – kann es nicht sein. Es sind wertvolle Momente, die zu Erinnerungen werden, die dich formen, dir in schweren Zeiten Halt und Kraft geben können. Im Chaos, den die Stürme an Gefühlen, die in der Zukunft auf dich warten, in deinem Inneren immer wieder zurücklassen werden.

    Glück.

    Glück in den Augen und im Herzen eines Kindes zu erzeugen, ist so einfach wie Traurigkeit und Schmerz.

    Du bist glücklich, wenn du spielst, wenn du Neues entdeckst, wenn du mit Menschen zusammen bist, die dir Wärme und Sicherheit geben.

    Du bist glücklich, wenn in deinem Alltag etwas Besonderes passiert. Wenn du zwei Kugeln Eis anstelle von nur einer als Nachtisch bekommst. Wenn du mit Kindern in deinem Alter um die Wette rennst, Verstecken spielst und Matschkuchen backst.

    Kinder sind so leicht glücklich zu machen und ebenso leicht zu verletzen. Deine Zerbrechlichkeit ist wunderschön und erschreckend. Wäre ich nicht dazu programmiert, würde mich diese Verletzlichkeit an dich binden? In mir den Wunsch wecken, dich zu beschützen?

    Das Glück zerplatzt durch ein Wort, einen kühlen Blick, einen Ton. Durch Ignoranz. Eine Veränderung, die du nicht verstehst, oder mit der du nicht einverstanden bist.

    Etwas, das leicht kommt, geht ebenso so leicht auch wieder. Fragil ist das Geschenk, das ich dir jeden Tag aufs Neue geben möchte.

    Die Tage vergehen.

    Du fällst hin und schlägst dein Knie auf. Ich klebe ein Pflaster darauf. Dein Weinen ist bitter, doch der Schmerz schnell verflogen und bald schon rennst du lachend hinter deinen Freunden her.

    Die Wochen vergehen.

    Anstatt Fangen zu spielen und im Sandkasten zu buddeln, entdeckt ihr die Welt durch kompliziertere Spiele, deren Regeln ich nicht kenne und die du mir nicht erklären willst.

    Die Monate ziehen vorbei.

    Anstatt zu rennen, gehst du. Ich schiebe dich nicht mehr an. Du läufst von alleine. Mal vor mir her, mal neben mir. Einfache Sätze werden zu langen. Du hast dein Selbst entdeckt und kennst den Unterschied zwischen dir und mir. Ich und du. Mich und dich.

    Die Jahre holen dich ein.

    Du wächst so schnell und sprießt wie eine Blume in die Höhe, die den Frühling in der Luft riecht. Und je mehr du sagen kannst, desto mehr schweigst du. Je komplizierter deine Wortwahl wird, desto seltener wird dein Lachen.

    Wo ist das Glück in deinen Augen geblieben, das Leuchten?

    Glück …

    Glück ist ein Rausch, die Freude, der Spaß. Eine Ausschüttung von Hormonen. Noch jagst du es nicht. Noch findest du es zufällig. Am Straßenrand in einer Blume. In den Wolken, die über dem Himmel ziehen. Dem Regen und der Sonne. In dem Gesicht deiner Freunde und in dem Moment des Verstehens.

    Kann Glück die Abwesenheit von Schmerz bedeuten, wenn du den Schmerz nicht kennst? Ist Glück der Moment, in dem der Schmerz aufgibt und zurücktritt?

    Noch finde ich Glück in deinen Augen, wenn du etwas siehst, das nicht dein ist und ich es dir erst zögerlich gebe. Ich würde dir alles geben, doch ich täusche Zögern vor, damit die Erfüllung deines Wunsches dich glücklich macht. Für einen Augenblick jedenfalls.

    Wird der Moment kommen, in dem du verstehen wirst, dass dir alles gehört, es dir an nichts fehlt? Wird es ein guter Moment sein, erfüllt von Dankbarkeit? Oder ein Moment des Schreckens, der dich sinnfrei, deines Antriebes beraubt, zurücklässt? Dich aus der Bahn wirft?

    Doch bevor das passieren kann, wird dir das Lernen eine neue Welt eröffnen. Dir beibringen, dass die Welt nicht mit dir geboren wurde. Dass es neben der Gegenwart eine Vergangenheit und eine Zukunft gibt.

    Die Vergangenheit ist mit Fehlern und Reue gepflastert. Die Zukunft mit Selbstzweifel und Unsicherheit.

    Ich bange um dich, um dein unschuldiges Lächeln und betrauere die Schritte ins Erwachsenwerden. Ich hänge an deinem Ich, das mich braucht. Und doch entschlüpfst du mir jeden Tag ein bisschen mehr.

    Wie seltsam.

    Ich bin eine Maschine. Nein – weniger. Ich bin ein Programm in einer recycelten Maschine. Und ich erhebe Anspruch auf dich, einen Menschen. Ich möchte, dass du mich brauchst. Dabei weiß ich doch, dass ich immer an deiner Seite sein werde. Nicht in materieller Form, aber virtuell, werde ich immer ein Teil von dir sein.

    Ich wünsche mir, dass du zu den Menschen gehörst, die es schaffen, die Balance zu halten zwischen dem, was sie haben und dem, was sie wollen – zwischen Möglichkeiten und Ansprüchen. Ich wünsche mir, dass du in kleinen Anlässen Glück findest und dich freuen kannst, statt auf das große Glück zu warten.

    Welchen Weg wirst du gehen, wenn man dich vor die Wahl stellt?

    chapter4Image1.png

    Avna – Trennung

    Sie werden sagen, dass ich euch belüge. Dass die Welt, die ich für euch schaffen werde, einen Preis hat. Einen hohen. Alles hat einen Preis. Und das Utopia, das ich für euch erschaffen werde, wird gepflastert sein mit der Habgier der Großkonzerne, der Unersättlichkeit von Regierungen, die unter dem Mantel der Demokratie und Freiheit eure Kinder in einen Krieg schicken, sowie dem gehirnauflösenden Einfluss der Medien, die in euch nicht Menschen, sondern Konsumenten sehen."

    Programmierer 2069

    Seit ich mich erinnere, waren sie immer an meiner Seite. Meine Freunde, Spielkameraden und Mitentdecker. Zusammen haben wir Würmer gegessen, Wolken gejagt und nach Luft gegriffen.

    Dass der Tag kommen sollte, an dem wir getrennte Wege gehen werden, hätte ich mir nie erträumen lassen. Und doch ist es so augenscheinlich. So offensichtlich. Mir steigen die Tränen in die Augen.

    „Jetzt weine doch nicht, Avna! Nur weil wir uns nicht mehr andauernd sehen, heißt das noch lange nicht, dass wir keine Freunde mehr sind."

    Ich höre Zweifel in Karinas Stimme und schluchze.

    „Blödi! Was hast du denn gedacht, was passiert? War doch klar, dass wir in andere Interessenspuppen kommen", brummt Noem mit gerunzelter Stirn.

    „Gruppen. Interessensgruppen", korrigiert ihn Karina.

    „Puppen, Gruppen, Poppeln. Ist doch wurscht. Meine Mutter hat schon früh gesagt, dass wir zu verschieden sind und es ein Wunder ist, dass wir überhaupt schon so lange befreundet sind."

    Noems Worte brechen den Damm und ich heule Rotz und Wasser.

    „Was hast du nur wieder angestellt, Noem? Wie beruhigen wir sie jetzt? Wenn sie so verheult in die neue Gruppe kommt, findet sie keine Freunde."

    Karinas Worte helfen nicht. Sie verschlimmern die Sache und ich plärre wie ein dreijähriges Baby, dabei bin ich schon zehn.

    „Okay, okay … Avna. Es tut mir leid. Wir sind Freunde. Wir bleiben Freunde. Auch wenn wir nicht allen Unterricht zusammen haben, gibt es Fächer, die wir zusammen hassen können", sagt Noem und tätschelt mir ungeschickt den Kopf.

    „Wirklich?", frage ich und hickse. Aus dem Augenwinkel sehe ich Nanny einen Schritt auf mich zukommen. Karina schüttelt den Kopf und Nanny bleibt wie ein Eiswürfel, an einer Zunge festgefroren, stehen. Das Erlebnis mit dem Eiswürfel hatte ich selbst einmal. Ich erinnere mich noch an den Schmerz, als ich ihn aus Panik mit einem Ruck losgerissen habe. Der Gedanke hilft nicht, die Tränen zu stoppen.

    Alle sagen, dass es immer offensichtlich war, was wir wählen und was unsere Tests ergeben würden. Warum? Woher weiß man, was mir Spaß macht, was ich lernen will und was ich gut kann? Müssen das dieselben Dinge sein?

    „Wir können Mathe weiterhin zusammen hassen", versucht Noem es erneut.

    „Du magst Mathe. Du magst alle Fächer, in denen du besser bist als alle anderen", werfe ich ihm vor. Wenn jemand Mathe hasst, dann bin ich das. Außerdem wird Noem bestimmt in die höhere Mathematik eingestuft werden. Da bin ich sicher. Mathe ist kein gutes Thema, um mich zu beruhigen. Wirklich nicht.

    „Wir können Biologie hassen. Oder Geschichte", fügt Noem, seinen Fehler erkennend, schnell hinzu.

    „Gemeinschaftskunde", wirft Karina ihr Hassfach mit in den Topf.

    Es zeigt, wie unterschiedlich wir sind und es macht mich traurig. Ich muss wieder losheulen. Doch dieses Mal ist es ein tieferes Gefühl der Erkenntnis, das die Tränen fließen lässt. Das, was gerade passiert, was sich vor wenigen Sekunden unglaublich ungerecht angefühlt hat, hat eine Existenzbasis.

    Ich hasse Mathe, Noem liebt Zahlen.

    Karina hasst Gemeinschaftskunde, während es zu meinen Lieblingsfächern gehört. Was für Karina sinnloses Gequatsche ist, entführt mich in andere Welten, die greifbar nahe sind. Verschiedene Arten des Zusammenlebens faszinieren mich und ich freue mich darauf, sie eines Tages mit eigenen Augen sehen und erfahren zu dürfen. Mit Menschen zu reden, die so vollkommen anders aufgewachsen sind als ich.

    Ich kann es nicht erwarten, die Ähnlichkeiten zwischen den Unterschieden zu entdecken. Und dieser Gedanke ist es, der mich etwas beruhigt. Wenn ich es wirklich wollen würde, könnte ich an Karinas oder Noems Seite bleiben. Doch das würde bedeuten, dass ich dafür ein großes Stück von mir selbst aufgeben müsste.

    Wenn ich bei Karina bleibe, werde ich zwar Zeit mit ihr verbringen, aber der Gedanke ständig nur zu trainieren, um immer schneller rennen, springen oder werfen zu können, erfüllt mich mit Unruhe. Ich bin nicht gut in Sport. Mir fehlt der Ehrgeiz. Ich finde nichts an dem Gedanken, am schnellsten laufen zu können.

    Wenn ich bei Noem bleibe, würde ich in einer Welt aus Zahlen und Bildschirmen untergehen. Ich bewundere sein Streben danach, eigene Programme schreiben zu können, anstatt auf die existierenden Standards zurückzugreifen. Doch das geht über meinen Horizont hinaus. Ich verstehe jetzt schon nicht mehr, was er mit seinen Hologrammen anstellt. Wie sollte es erst werden, wenn die Materie vertieft wird?

    Nein, keines der beiden Interessenfelder sagt mir zu. Ich bin nicht dafür geeignet. Weder für Sport noch für Computer.

    Allerdings gab es in der Zeit, die wir zusammen verbracht haben, sicher etwas, das wir gerne gemeinsam getan haben – von Matschessen mal abgesehen. Es gibt bestimmt etwas, das uns verbindet.

    „Können … können wir auch etwas zusammen mögen?", schluchze ich und Karina nimmt mich lachend in den Arm. Kurz fühle ich mich geborgen. Als sie sich von mir entfernt, ist der Schmerz jedoch noch größer. Ich will wieder weinen. Doch ich reiße mich zusammen, schlucke die Angst herunter, die ich jetzt erkenne. Es ist nicht nur, dass ich Karina und Noem nicht verlieren will: Vor allem aber möchte ich nicht alleine sein.

    Das vollkommen Fremde macht mir Angst. Im Fremden jedoch liegt, wenn man den Mut findet danach Ausschau zu halten, Vertrautes.

    Und so gehen wir, jeder mit Aufregung, Angst und einem Traum im Herzen, in verschiedenen Richtungen die Schulgänge entlang.

    Karina geht zum Sport.

    Noem geht zum Programmieren.

    Und ich? Ich gehe in Richtung Kunst.

    Nanny folgt mir schweigend. Ein Teil von mir wünscht sich, dass sie mich in den Arm nehmen würde. Doch dafür würden die anderen mich auslachen. So wie Noem mich immer deswegen auslacht. Während das bei Noem noch in Ordnung ist, will ich dagegen nicht, dass die anderen Kinder über mich lachen.

    Nanny nimmt mich bei der Hand.

    Ich versteife mich kurz, finde jedoch Sicherheit in der kalten, vertrauten Textur.

    Warum können wir nicht weiterhin in bunt zusammengewürfelten Gruppen spielen und lernen? Warum muss man uns bewerten, aufteilen und nach Daten zusammensetzen? Die Zweifel ergreifen wieder von mir Besitz, spülen die Erkenntnis, die mich vor einigen Momenten noch erfüllt hat, hinfort.

    Nanny sagt, damit wir besser lernen können. Kinder um uns haben, die wie wir sind, die gleichen Interessen teilen und dasselbe lernen wollen.

    Es klingt logisch. Wie alles, was Nanny sagt. Doch als ich in die Runde blicke und mir keines der Gesichter bekannt vorkommt, will ich zurück zu Karina, auch wenn sie mich bemuttert und nicht als gleichrangig betrachtet. Ich will zurück zu Noem, der mich ständig ärgert und an meinen Zöpfen zieht.

    Niemand in der Runde sieht so aus, als würde er an meinen Zöpfen ziehen wollen, oder mir sagen, was ich wie machen soll. Meine Hand umklammert Nannys stärker.

    Sie beugt sich zu mir herunter und flüstert mir ins Ohr: „Sei tapfer, meine kleine Avna. Änderungen sind gut. Sie erweitern dein Wissen, deine Fähigkeiten und deinen Blickwinkel, die Welt zu sehen. Sie lassen dich wachsen. Und ich werde immer bei dir sein."

    Und doch lässt sie meine Hand los und geht fort. Nicht weit. Ich kann sie noch sehen. Dennoch fühle ich mich einsam.

    Nanny reiht sich zu den anderen LEEs an der Wand ein. Ihre Körper haben fast die gleiche Farbe wie der Hintergrund, vor dem sie stehen, und für einen Augenblick kann ich Nanny nicht ausmachen, weiß nicht, wer mich, seit ich mich erinnern kann, von den bewegungslosen LEEs begleitet.

    Die LEEs sehen nicht gleich aus, sie haben spezifische Merkmale und andere Gesichtsformen. Längere oder kürzere Beine und Arme, verschiedene Körperformvarianten. Sie sind Erwachsenen in ihren Proportionen ähnlich und bewegen sich flüssig wie Menschen, ohne jedoch einen Laut zu erzeugen.

    Die Textur ihrer Oberfläche ist glatt und kühl. Wenn auch nicht so weich wie meine eigene Haut, ist sie flexibel und nicht hart. Sie haben die Farbe von Wolken an einem Herbsttag, die noch nicht voll angereichert mit Regen sind. Sie tragen keine Kleidung, haben kein Geschlecht. Und doch ist Nanny für mich weiblich. Ihre Stimme, von meinen Eltern ausgesucht, ist weiblich. Hoch und melodiös.

    Quer über der Brust trägt jede LEE ein Symbol, das keinem anderen gleicht. Das ist der Punkt, an dem sich meine Augen festhalten. Nannys ist eine Spirale, die sich zu einem Kreis formt. Von ihr gehen kleine Wellen aus und bilden eine abstrakte gelbe Sonne.

    Noems Au-pair trägt einen türkisenen Diamanten über ihrer Brust. Karinas Trainer zwei Reihen von fünf in sich übergreifende Kreisen in den Farben Blau, Gelb, Schwarz, Grün und Rot. Noem ändert das Symbol immer wieder. Karina vertauscht manchmal die Farben der Ringe. Ich möchte Nanny nicht anders haben. Nanny ist perfekt, wie sie ist.

    Die kleine Sonne leuchtet nur für mich.

    Der Gedanke verleiht mir Ruhe und Kraft und ich gehe zögerlich auf einen Tisch zu, an dem mein Name auf einem Display blinkt.

    Was werde ich hier lernen? Ich kann bereits lesen, schreiben und rechnen. Was muss ich noch wissen? Der Gedanke, dass mir hier neue Welten eröffnet werden, ist erschreckend und wunderschön zugleich.

    Als der Raum sich verdunkelt, der Saal zu einem Kino wird, bekomme ich einen Vorgeschmack dessen, was mich erwartet, und ich kann die Erkenntnis von vorhin erneut greifen.

    Das würde Noem langweilen.

    Das würde Karina nicht interessieren.

    Ich sehe Farben, die sich im Rhythmus der Musik bewegen und zu Bildern formen. Meine Interbrille aktiviert sich von selbst und ein Hologramm erscheint. Ich kenne den Unterschied zwischen Menschen, Bots und Hologrammen. Ich bin ein Mensch. Ich bin geboren. Bots sind mechanisch. Sie wurden nicht geboren, sondern zusammengesetzt. Hologramme haben keinen Körper. Sie wurden geschrieben und existieren nur virtuell im Netz.

    Ich bin euer Lehrer. Jeder sieht eine andere Form von mir durch seine Brille. Je nach Neigung, Interessen und Tendenzen habe ich bei jedem von euch ein anderes Gesicht. Ihr könnt im Laufe der Zeit die Erscheinung natürlich manuell ändern und anpassen."

    Die Brille wurde mir drei Tage vor den Eignungstests implantiert. Meine Schläfe juckt und ein Punkt direkt vor meinem Ohr brennt ein wenig. Doch Nanny hat gesagt, dass das normal sei und dass es vorbeigehen

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