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Icecore
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eBook728 Seiten10 Stunden

Icecore

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Über dieses E-Book

Was ist vor 18 Jahren mit Thomas Novaks Frau Verena passiert?

Wieso musste vor 22 Jahren die Familie des Bergbauunternehmers Dr. Bernhard Seeger sterben?

Wo sind vor 26 Jahren die Forscher einer norwegischen Forschungsstation geblieben?

Eine Reihe von Geheimnissen sind Ausgangspunkt einer unglaublichen Reise an den unwirtlichsten Ort der Erde: Die Antarktis.
Eine Gruppe von Wissenschaftler, Dokumentarfilmern und Technikern starten eine Expedition von Punta Arenas aus. Ihr Ziel liegt hinter dem Transantarktischen Gebirge. Mit Spezialgerätschaften reisen sie 1600 Meter tief in den antarktischen Gletscher. Dort entdecken sie die verlassene Icecore-Forschungsstation.
Zurückgelassen und verwüstet.
Beim Erforschen stellen sich immer neue Fragen und unheilvolle Vorahnungen. Wer oder Was hat alle elektronischen Geräte herausgerissen und nicht mal halt vor 20 cm dicken Stahltüren gemacht?
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum24. Feb. 2012
ISBN9783844219227
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    Buchvorschau

    Icecore - Alexander Stania

    Prolog

    Der steile Winkel, in dem die Plattform in die Tiefe stürzte, schlug ihm auf den Magen. Und nicht nur das bereitete ihm Unbehagen. Auch diese Mission war ihm unheimlich. Nie zuvor war er so tief unter dem Eis gewesen und die Tatsache dass sie Virenschutzanzüge tragen mussten, machte es nicht besser. Er war kein Wissenschaftler oder Virologe. Er hatte nur Instruktionen zur Durchführung einer einfachen Aufgabe und mehr hatte man ihm nicht anvertraut. Er wusste nur, dass sie da reingehen, die Bombe absetzen und wieder rausgehen sollten. Ruuk versuchte, an seinem Kameraden vor sich vorbeizuschauen, in der Hoffnung, das Ende des Tunnels zu sehen. Viel war nicht zu erkennen, da die Lichtstrahlen von einem schwarzen Loch aufgesaugt wurden, aus dem unaufhörlich weiße Wände zu strömen schienen. Er und weitere fünf Soldaten standen hintereinander, in zwei Reihen auf einer Plattform und rasten immer tiefer in den antarktischen Gletscher. Die Plattform, auf der sie standen, gehörte zu einer Zahnradbahn, die nicht mehr als ein Geländer an den Flanken bot. Das Besondere an dieser von Eduard Locher entwickelten Zahnradbahn waren die waagrecht angebrachten Zahnräder. Sie griffen von jeder Seite in die Zahnstange und verhinderten auf diese Weise das sogenannte Aufklettern. Ruuk kannte weder Eduard Locher noch konnte er etwas mit dem Begriff „Aufklettern" anfangen. Er war kein Ingenieur, sondern Soldat. Im Augenblick quälte ihn nur die Frage wie er auf seine Uhr schauen konnte, aber die hing an der Hand, mit der er sich am Geländer festhielt. Und das Geländer nur für einen kurzen Moment los zu lassen kam nicht in Frage. Am linken Rand sauste plötzlich ein Haltesteg aus Metall vorbei und verschwand sofort in dem schwarzen Loch hinter ihnen. Nach seinen spärlichen Informationen war das die Haltestelle zur Icecore-Station gewesen. Sie aber fuhren weiter bis zum Ende des Tunnels. Nach einer weiteren kleinen Ewigkeit begann die Bahn  stark abzubremsen.

    Diese Haltestelle stand auf Stahltraversen, die in der Dunkelheit verschwanden. Nachdem die Bahn gestoppt hatte, ließ Ruuk das Geländer los, ging in die Knie und packte mit der Linken den Griff der großen Metallkiste neben sich. Mit der Rechten zog er seine Taschenlampe aus dem Hüftgurt. Pearl tat das Gleiche auf der anderen Seite der Kiste. Als die Kameraden vor ihnen die Plattform verlassen hatten, nahmen sie gleichzeitig die schwere Kiste hoch und gingen los. Sie folgten Corper und Wavefront, die mit erhobenen Sturmgewehren voraus in die gigantische Eishöhle schritten. Die Nachhut bildete Gilbert, ihr Teamleader. Der noch recht junge Rory blieb als Wache bei der Bahn zurück. Sie liefen von der Haltestelle aus einen waagrechten Steg entlang. Dieser führte geradewegs zwanzig Meter in die Höhle hinein. Je weiter sie auf dem Steg gingen, desto näher kam ihnen der Eisboden. Schließlich endete der metallene Steg, und sie liefen auf Eis weiter. Der Weg wurde in Form deaktiver Leitlichter links und rechts von ihnen weitergeführt. Diesen toten Lampen folgten sie. Es ging leicht aufwärts. Ruuk sah sich den Boden genauer an. Er schien zwar gefroren, aber unter der dünnen Eisschicht verschluckte etwas Dunkles seinen Lichtstrahl. Scheinbar liefen sie auf einem Felsen. Hatte ihm nicht jemand erzählt, der Gletscher wäre hier viertausend Meter dick? Und ihr Ziel lag nur in tausendsechshundert Metern Tiefe. Als er sich bewusst wurde, wie tief er unter dem Eis war, überkam ihn ein kurzer Anflug von Klaustrophobie. Die Eishöhle musste einen Durchmesser von mindestens zweihundert Metern haben, sonst hätten sie die andere Seite sehen können. Ihm lief ein außergewöhnlich langer Schauer über den Rücken, der kein Ende zu nehmen schien. Es war ein permanentes Kribbeln auf der Haut. Nein, nicht nur auf der Haut. Er fühlte es in seinen Zähnen und in jedem Organ seines Körpers. Er hatte das Gefühl, sein gesamter Körper stünde unter Strom. Durch seine leicht beschlagene Scheibe sah er Pearls Gesicht durch dessen Virenschutzanzug. Scheinbar war dieser genauso verwirrt wie er.

    „Nicht stehen bleiben, wir sind gleich da!", befahl Gilbert.

    „Ignoriert das Kribbeln, das ist nur das Energiefeld des Generators, den wir ausschalten sollen." Wenn ihr Teamleader das sagte, glaubten sie ihm, denn schließlich vertrauten sie ihrem Vorgesetzten und nur so funktionierte die Befehlskette. Sie hatten die höchste Stelle des Höhlenbodens überwunden, und es ging wieder bergab, den toten Leitlichtern nach. Ruuk konnte schon die Umrisse ihres Ziels erkennen. Das Kribbeln wurde umso stärker, je näher sie kamen. Ruuk verdrängte es aus seinen Gedanken und konzentrierte sich auf das Ziel.

    Die diffusen Umrisse einer Stahlkonstruktion wurden etwa zehn Meter vor ihnen von der Dunkelheit verschlungen. Laut Gilbert war es eine Brücke. Doch er stoppte ihre Gruppe und befahl Ruuk und Pearl, die Kiste hier abzustellen. Erst jetzt sah Ruuk, dass keine zwei Meter weiter der weiße, eisbedeckte Boden endete und eine sonderbar schwarze, ölig schimmernde Oberfläche zum Vorschein kam. Diese erstreckte sich bis zum Horizont und verlor sich ebenfalls in der Dunkelheit.

    Ruuk und Pearl setzten die mitgeschleppte Metallkiste ab und wollten sich gleich daran machen, die Bomben darin auszupacken, als ein gellender Schrei über sie hinweghallte. Die Soldaten, die ihre Waffen im Anschlag hatten, richteten sie instinktiv nach oben. An der Decke der circa dreißig Meter hohen Höhle konnte aber niemand etwas entdecken. Im Scheinwerferlicht sahen sie gerade noch die Metallwand der IcecoreForschungsstation, die etwa fünfzig Meter weiter östlich stand. Dieser Containerbau hatte die Form eines Zylinders. Da er keine Fenster hatte, ähnelte er dem gigantischen Reinigungsbecken einer Kläranlage, nur dass sie auf zwei Meter hohen Stahlbeinen stand. Ruuk bemerkte, dass die Station lauter dunkle Flecken aufwies. Um mehr erkennen zu können, waren sie jedoch zu weit weg.

    Wieder ertönte dieser Schrei.

    „Das ist nur das Eis", hörten sie ihren Teamleader Gilbert Host sagen. Alle schauten ihn fragend an.

    „Das ist der Druck der Eisdecke", sagte Gilbert.

    „Der Druck?", wiederholte Pearl mit einem dümmlichen Gesichtsausdruck.

    „Wir befinden uns zweitausend Meter unter riesigen Eismassen, und die drücken mit wahnsinniger Kraft aufeinander. Da wird hier und da mal was quietschen. Ewig wird diese Höhle auch nicht stehen, also los!" Konnte das die Erklärung für dieses markerschütternde Geräusch sein? Wieder kreischte und quietschte es, aber diesmal beachteten sie es nicht mehr.

    „Ruuk, Pearl! Macht die Bombe scharf und stellt die Zünder auf drei Stunden!" Mit diesem Befehl beendete Gilbert die kurze Phase der Unsicherheit. Mit routinierter Professionalität aktivierten sie die EMPBombe. Der elektromagnetische Impuls der Bombe würde jegliche Elektronik in dieser Ausgrabungsstätte zerstören, ohne sonst physischen Schaden anzurichten. Den Grund für den Einsatz einer EMPBombe kannte niemand von ihnen. Aber dass es sich hier nur um eine Ausgrabungsstätte handelte, bezweifelte Ruuk zunehmend. Warum sie hier in Virenschutzanzügen und Sauerstoffbehältern auf dem Rücken herumstampfen mussten, hatte ihnen niemand gesagt, denn schließlich waren sie nur Befehlsempfänger.

    Doch das war jetzt auch egal. Bald würden sie wieder zurück auf der Oberfläche sein und dann hoffentlich weg von diesem verfluchten Ort. Die Timer waren eingestellt.

    Da sie keine schwere Kiste mehr schleppen mussten, waren sie auch viel schneller wieder bei der Bahn zurück.

    Rory hatte es sich mittlerweile auf dem Boden bequem gemacht, da es ihm zu anstrengend, war zwei Stunden lang zu stehen. Er hatte sich nach einer Stunde auch schon Sorgen gemacht, wo seine Kameraden blieben. Zudem beunruhigten ihn die sonderbaren Geräusche, die aus der Eishöhle kamen. Aber Flucht kam nicht in Frage und Kontakt zur Zentrale konnte er auch nicht aufnehmen, da sie sich zu tief unter dem Eis befanden.

    Als seine Kameraden dann letztendlich wieder zurück waren, verglichen Ruuk und Rory den Stand ihrer Uhren. Verblüfft stellten sie fest, dass Rorys Uhr vor oder Ruuks eine komplette Stunde nachging. Was hatten sie hier nur ausgegraben? Gilbert ließ keine Zeit für Spekulationen. Er scheuchte sie auf die Plattform hoch und startete die Maschine der Zahnradbahn. Ruckelnd setzte sie sich in Bewegung und beschleunigte der Oberfläche entgegen. Alle an Bord waren erleichtert. Am meisten sah man es Rory an. Es war auch erst sein zweiter Einsatz in dieser Truppe. Ruuk war plötzlich so entspannt, dass er kaum seine Augen offenhalten konnte. Die vorbeirauschenden Eiswände des Tunnels verstärkten den Effekt. Nur fünfzehn Minuten musste er durchhalten, dann waren sie oben. Wieso hatten die Ingenieure dieser Station nicht an Stühle gedacht? Oder war das der Lastenaufzug? Typisch! Das waren seine letzten sinnvollen Gedanken, bevor ihm die Augen zufielen.

    Auf der Oberfläche der Antarktis, nicht weit vom Eingang des Eistunnels entfernt, standen zwei große Militärhubschrauber, Black Hawks. Sehr leistungsfähige Flugmaschinen. Ihre beheizbaren Rotorblätter waren nur eine der vielen Sonderausstattungen für diese Mission.

    Der eine Black Hawk hatte die Soldaten hierher gebracht, der andere Hubschrauber diente als Kommandozentrale. Hier beobachteten gerade drei Menschen eine Wand, die mit Monitoren bestückt war. Der vordere Teil der Kabine war sehr spartanisch eingerichtet: Außer zwei weiteren Computerarbeitsplätzen und den dazugehörigen festgeschraubten Stühlen gab es nichts. Hinter den zwei Operatoren saß Major Jackson Hidge, in seinen Händen hielt er eine Tasse mit Kaffee. Im Gegensatz zu den beiden anderen trug Hidge keine Uniform. Er hatte einen Schneeanzug an, sodass er eher wie ein Zivilist aussah.

    Plötzlich fingen sechs Lichter in einer Reihe von Lämpchen hektisch an zu blinken. Diese Blinklichter waren Teil einer in die Monitorwand integrierten Steuerkonsole.

    Unter jedem Lämpchen befand sich ein Kippschalter, der wiederum von einer durchsichtigen Sicherheitsklappe abgedeckt war.

    „Wir haben wieder Kontakt zu ihnen", sagte der Operator und öffnete dabei alle Sicherheitsklappen, über denen Lämpchen blinkten.

    „Wo sind sie?", fragte Hidge sichtlich angespannt.

    „Neunhundert Meter unter dem Eis, sieben Minuten, bis sie am Ausgang sind", gab der Operator zurück. Mayor Hidge weilte gedanklich für einen kurzen Moment in der jüngeren Vergangenheit. Dann fing er sich wieder und nickte dem Operator entschlossen zu. Daraufhin fing dieser an, die Hebel umzulegen.

    Der Knall war so laut, dass Ruuk dachte, sein eigener Schädel wäre explodiert. Die Druckwelle der Explosion hinter ihm schleuderte ihn nach vorne. Da er als Letzter eingestiegen war, befand er sich am Ende der Plattform. Er hatte sich mit dem Rücken zu den anderen gedreht, damit er nicht von der Bahn fiel, sollte er einschlafen. Der Schlag in den Nacken hätte ihn fast von der Plattform geschleudert, doch er konnte sich gerade noch am Geländer festhalten. Er rutschte mit den Beinen ins Leere, drehte sich und knallte mit den Rippen gegen die Plattformkante. Gerade noch erwischte er mit einer Hand das Geländergestänge. Völlig unfähig, die Situation zu beurteilen, sah er mit an, wie Sprengsätze an den Hinterköpfen seiner Kameraden nacheinander detonierten. Rory war der Einzige, der noch aufrecht stand, während Splitter und Blut um ihn herumflogen. Mit vor Angst verzerrtem Gesicht blickte er zu Ruuk. Rory hatte wohl auch begriffen, dass jemand dabei war, sie umzubringen. Wieder explodierte es, und Rorys blutiges Gesicht durchschlug die Sichtscheibe seines Schutzanzuges. Sein lebloser Körper flog von der Druckwelle getragen über Ruuk hinweg. Geistesgegenwärtig ergriff Ruuk Rorys Stiefel, und dieser riss ihn mit sich in die Tiefen des Eiskanals. Er musste außer Senderreichweite kommen, tief genug unter das Eis. Einen anderen Weg gab es nicht. Eigentlich hätte er schon früher misstrauisch werden müssen, schließlich hatten sie etwas Ähnliches bereits im Golfkrieg gemacht. Aber ein Soldat vertraute seinem Vorgesetzten nun mal.

    „Er ist außer Reichweite, Sir, sagte der Operator mit einem entschuldigenden Unterton zu Hidge. „Es muss sowieso ein Blindgänger gewesen sein, sonst ...

    Hidge brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Kommt er da allein wieder raus?", fragte Hidge nachdenklich.

    „Sehr unwahrscheinlich, Sir. Er könnte natürlich die Schienen wieder hochklettern. Aber bei der Kälte und der Steigung? Sechs Kilometer weit? Wahrscheinlich hat er sich sowieso alle Knochen gebrochen, falls er die Ankunft in der Höhle überhaupt überlebt hat", sagte der Operator überzeugt. Aber Hidge war klar, dass, auch wenn die Chance noch so gering war, eine Möglichkeit bestand. Nichts und niemand durfte aus der Höhle entkommen. Das musste sicher sein.

    „Sprengen Sie den Tunnel und lassen Sie alle Spuren beseitigen!" Der Operator setzte den Befehl sogleich in die Tat um und betätigte einen weiteren Schalter in der Konsole.

    Er hatte sich zwei oder drei Rippen gebrochen, diagnostizierte sich Ruuk selbst. Nach dieser Rutschpartie durch den steilen und stockfinsteren Eistunnel war es ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Dass er sich nicht noch mehr gebrochen hatte, verdankte er seinem toten Kollegen Rory, dessen Körper er als Schlitten missbraucht hatte. Er war über die Haltestellenplattform gerutscht, an dem Laufsteg vorbei, und dann etwa zwei Meter tief auf den Höhlenboden gestürzt. Bei diesem Aufschlag hatte er sich die Rippen gebrochen. Seine Taschenlampe war wahrscheinlich schon vorher aus ihrem Gurt gerissen worden.

    Die Höhle war so dunkel, dass Ruuk nicht mal seine Hände sehen konnte. Diese Erkenntnis und dass er völlig allein war, ließen ein Panikgefühl in dem sonst so kontrollierten Soldaten aufkeimen.

    Um zu überleben, musste er wieder die Kontrolle zurückerlangen. Er musste flexibel bleiben und sich kleine Ziele stecken. Als Erstes musste er zum Tunnel zurück. Ob er die Kraft hatte, sechs Kilometer bei einer Steigung von fünfundvierzig Grad die Schienen hochzuklettern? Das würde sich zeigen, wenn es so weit wäre. Er tastete nach der kleinen Stablampe in seiner Weste. Doch die befand sich unter seinem Virenschutzanzug. Mit einem Schlag kam ihm wieder die Bombe in seinem Anzug in den Sinn. Was war passiert? Ganz einfach: Ihre Auftraggeber hatten beschlossen, sie auf elegante Weise loszuwerden. Diese Mistkerle! Aber auch er hatte schon so etwas in der Art abgezogen. Am liebsten hätte sich Ruuk diesen verminten Anzug vom Leib gerissen. Andererseits war vielleicht die Bombe im Anzug nicht der einzige Grund, wieso er ihn trug.

    Er steckte in einem Zwiespalt. Vielleicht war die Bombe nur ein Blindgänger, der dann mit einer Verzögerung doch noch losging. Je länger er darüber nachdachte, desto stärker wurde seine Angst vor einer Explosion im Nacken. Ruuk machte sich nichts vor, er war sowieso so gut wie tot. Aber so unvermittelt wollte er nicht aus dem Leben gerissen werden. Er öffnete die Sicherheitsverschlüsse des Anzugs, klappte das Luftsiegelverdeck auf die Seite und wollte gerade das Versiegelungsklebeband über dem Reißverschluss abziehen, als er erneut ins Grübeln kam. Wenn er erst mal virenverseucht oder mit sonst etwas Unheilbarem angesteckt war, dann bräuchte er erst gar nicht versuchen, hier rauszukommen. Also machte er alles wieder dicht. Auch wenn er zwei gebrochene Rippen hatte, kein greifbares Licht und eine Meile unter dem antarktischen Eis war ? einen Funken Hoffnung musste er sich bewahren. Was die Bombe in seinem Nacken anging, so war diese sicherlich von der Druckwelle der ersten Explosion zerstört worden. Das redete er sich zumindest ein.

    Als Erstes musste er zum Eistunnel, und dann wollte er weitersehen. Flexibel bleiben und sich kleine Ziele stecken, so lautete seine Überlebensstrategie.

    Obwohl er sich ein paar Mal überschlagen hatte, wusste er noch, aus welcher Richtung er in die Höhle geflogen war. Sehr tief war er auch nicht, sonst hätte er das Kribbeln wieder gespürt. Als er aufstehen wollte, fuhr ihm ein mörderischer Schmerz durch die Brust. Die gebrochenen Rippen hatte er fast vergessen. Er biss die Zähne zusammen und stolperte blind durch die Dunkelheit in die Richtung, von der er glaubte, dass sich dort der Laufsteg befand.

    Plötzlich vernahm Ruuk ein heftiges Donnern und anhaltendes Grollen aus der Richtung des Eistunnels. Ihm war sofort klar, was das bedeutete: Sie hatten den Tunnel gesprengt. Noch ein Hoffnungsfunken erlosch. Dennoch, er sollte schleunigst hier weg, bevor die Lawine aus Eistrümmern in die Höhle stürzte. Da er sich eher am Rand der Höhle aufhielt und der Boden zur Mitte der Höhle anstieg, war klar, wohin die Eismassen fließen würden. Er musste sich so weit wie möglich vom Tunnel entfernen. Während er unter Aufgebot all seiner Kräfte über die Unebenheiten des vereisten Bodens hinwegrannte, wurde das Grollen immer lauter. Dann sackte er in eine Vertiefung und stürzte. Diesmal schoss ihm ein Schmerz durch den Fuß. „Verdammt!", schrie er in die Dunkelheit. Ein gebrochener Knöchel hatte ihm gerade noch gefehlt. Er belastete ihn vorsichtig und stellte erleichtert fest, dass er nur umgeknickt war. Das tat zwar auch weh, hinderte ihn aber nicht am Laufen. Und nun musste er laufen. Ein kühler Windstoß kündigte das hereinplatzende Eis an. Blind rannte Ruuk los. Hinter ihm krachte und rauschte es ohrenbetäubend laut. Er spürte Eissplitter gegen seinen Anzug und seine Sichtscheibe schlagen. Im Dunkeln hatte er fast kein Gefühl, wie weit er gekommen war, doch scheinbar weit genug, um nicht von der Lawine fortgerissen worden zu sein. Wieder stolperte er, aber diesmal über eine Erhöhung. Vom eigenen Schwung getragen, flog er kopfüber voraus und prallte mit seinem Helm, den er zum Glück unter dem Schutzanzug trug, mit voller Wucht gegen einen Metallpfeiler. Verdutzt blieb er liegen. Gegen was war er geprallt? Er griff vor sich und umfasste den Metallpfeiler. Er erinnerte sich, dass die Station auf Stahlbeinen stand. Schnell rappelte er sich trotz aller Schmerzen auf und tastete über sich. Er fühlte den Boden der IcecoreStation einen halben Meter über seinem Kopf. Er hatte einen neuen Hoffnungsfunken, wobei er nicht mal wusste, ob es von dort eine Verbindung zur Oberfläche gab. Erst mal hinein, war sein nächstes Ziel! Irgendwo musste es eine Laderampe oder eine Luke geben. Diese verdammte Dunkelheit! Und dabei hatte er eine Taschenlampe. Wieder überlegte er, ob er diesen sperrigen Virenschutzanzug ausziehen sollte. Plötzlich fiel ihm ein schwacher Lichtschein auf. Er ging darauf zu, eine Rampe hoch und stand schließlich vor einer Schleusentür. Er sah durch das höchstens zwanzig Zentimeter breite Fenster in der Tür, aus dem der schwache Lichtschein fiel. Es war eine Schleuse, ein zwei mal drei Meter großer Raum ohne jegliche Inneneinrichtung. Hermetisch und luftdicht verschlossen. Für eine Schleuse recht groß. Sie diente sicherlich zum Ein und Ausladen größerer Objekte, die auf Rädern bewegt wurden. Das verriet ihm der Boden, auf dem Reifenabdrücke zu sehen waren. Auf dem Boden, an eine Wand gelehnt, saß eine Frau Mitte dreißig, mit fettigen braunen, langen Haaren. Vielleicht war sie auch jünger, doch sie sah sichtlich mitgenommen aus. Sie steckte in einem weißen Kunststoffanzug, der Ruuks Virenschutzanzug nicht unähnlich sah. Wahrscheinlich war es doch die richtige Entscheidung gewesen, den Anzug nicht auszuziehen. Was aber machte die Frau eigentlich? In der Schulterschnalle ihrer Jacke steckte eine Taschenlampe, und die strahlte auf ein Buch mit einem roten Ledereinband, das auf ihren Knien ruhte. Sie schrieb.

    Ein Protokoll, Logbuch oder Tagebuch? Das war ihm jetzt egal, denn er spürte, dass sein Sauerstoffvorrat zur Neige ging. Er musste jetzt da rein ? und sie musste ihm helfen!

    Verena vernahm ein dumpfes Pochen auf der anderen Seite der Schleuse. Sie erschrak, blickte auf und sah verängstigt zur Tür. Ihre Gesichtsmimik entspannte sich wieder, als sie in dem weißen Schutzanzug einen Menschen erkannte. Ein Rettungstrupp? Major Hidge würde doch nie versuchen, sie zu retten, das hätte selbst sie nicht getan. Sie legte ihr Tagebuch neben sich auf den Boden und stand auf. Langsam und vorsichtig näherte sie sich der Scheibe. Sie konnte nicht sicher sein, dass der Mann das war, wonach er aussah. In dieser stabilen Schleuse war sie einigermaßen sicher. Glaubte sie jedenfalls.

    Der Mann vor der Schleusentür war sichtlich außer sich und versuchte hektisch, mit ihr zu kommunizieren. Aber durch die dicke Panzerglasscheibe und seinen Anzug konnte sie ihn nicht hören. Was sie aber hörte, war das Kreischen. Es kam von draußen auf sie zu. Verena ging langsam zurück. Der Mann schaute sie entsetzt an, dann drehte er sich der heranrasenden Lärmquelle zu, und schon rammte ihm etwas mit voller Wucht den Hinterkopf in das Schleusenfensterglas. Diesem Ansturm hielt das Panzerglas noch stand, doch die Explosion, die eine halbe Sekunde darauf folgte, durchschlug das Fenster. Verena riss die Arme schützend vor ihr Gesicht. Auf eine Explosion war die junge Genetikerin nicht gefasst gewesen, zumal sie auch nichts von der Bombe wußte die im Schutzanzug des Soldaten geschlummert hatte. Sofort schlug ihr eiskalter Wind durch das zerstörte Schleusenfenster entgegen. Nun bot der Raum keinen Schutz mehr, und Verena wollte noch lange genug leben, um ihr Tagebuch zu Ende zu schreiben. Wenn sie selbst schon gehen musste, so wollte sie doch wenigstens die wahre Geschichte dieses Ortes zurücklassen. Sie hoffte, dass sie eines Tages in die richtigen Hände gelangte. Vielleicht sogar zu ihrem Mann und ihrer Tochter. Beim Gedanken an ihre Lieben, die sie nie wieder sehen würde, stiegen ihr die Tränen in die Augen.

    Sie steckte ihr Tagebuch in die Seitentasche ihrer weißen Kunststoffhose, die sie unter dem Virenschutzanzug trug. Sie gab sich nicht mehr die Mühe, ihren Schutzanzug wieder zu schließen, und legte ihre zitternden Hände auf das manuelle Verriegelungsrad der Schleusentür. Der Öffnungsmechanismus der Tür ratterte monoton vor sich hin, als Verena die Schleuse ins Innere der Station öffnete.

    Dann stieg sie durch die ovale Öffnung und verschwand in den dunklen Eingeweiden der IcecoreForschungsstation.

    ICECORE

    Distanz 148

    In Photoshop sahen die Texte noch sauber aus, aber jetzt, als sie die TIFDatei in ihrem 3DProgramm öffnete, war die Schrift kaum mehr zu lesen. Diese Verarbeitungsfehler zwischen den Programmen traten immer dann besonders massiv auf, wenn man kurz vor einer Kundenpräsentation stand. Die sechsundzwanzigjährige Grafikerin fragte sich, ob ihre Berufswahl wirklich so klug gewesen war. Letztendlich war der Arbeitsmarkt im Computergrafikbereich hart umkämpft. Ihre verkrampfte Hand lockerte sich und ließ die bereits schweißige Maus los. Wenigstens konnte sie bei diesem Projekt von zu Hause aus arbeiten. Bei ihrem letzten Projekt, einem FullCGFeatureFilm, musste sie monatelang auf billigen IkeaStühlen sitzen und schlechten Kaffee trinken. Außerdem erntete sie böse Blicke, wenn sie mal vor zehn Uhr abends nach Hause ging. Aber dafür war man schließlich beim Film. Hier, zu Hause, würde sie sich diese Nacht sicherlich auch um die Ohren schlagen müssen, aber sie saß auf einem AeronBürostuhl und trank Tee. Trotzdem brauchte sie Sport zum Ausgleich, und sie freute sich auch schon auf ein verlängertes Skiwochenende mit ihren Freundinnen. Sie setzte sich auf, lief aus ihrem Schlaf/Arbeitszimmer zur kleinen Einbauküche, um heißes Wasser für ihren Earl Gray aufzusetzen. Das Verlangen nach einer Zigarette hatte sie seit dem Filmprojekt nicht ganz ablegen können, aber sie gab ihm nicht nach. Gerade wenn ein Projekt in Nachtarbeit und Stress überging, wurde das Verlangen sehr stark. Sie musste sich eingestehen, dass es in ihrer Zeit als 3DArtist beim Feature Film recht ungesund zugegangen war.

    Die Türklingel läutete zweimal kurz und einmal lang. Das alte Zeichen, um zu signalisieren, dass es ein Familienangehöriger war. Da ihre Mutter nicht mehr lebte und sie keine Geschwister hatte, konnte es nur ihr Vater sein. Sie öffnete ihm die Tür, und der große Mann im dunkelbraunen Pelzmantel trat auf sie zu und umarmte sie. Da es draußen schneite und die Straßen ganz matschig waren, zog er gleich seine Stiefel aus und stellte sie vor die Tür. Annika hatte bereits einen Kleiderbügel in der Hand und wollte Thomas den Mantel abnehmen, doch der winkte ab: „Schon okay, ich bleibe nur ganz kurz."

    Er ging geradewegs in ihr Wohnzimmer und blieb vor dem Fenster stehen. Seine angespannte Haltung verriet ihr, dass ihrem Vater etwas auf dem Herzen lag, und sie hoffte, dass es sich nicht wieder um das alte Thema drehte. Zu viel hatte sie deswegen durchgemacht. Thomas drehte sich zu ihr um, blickte ihr aber nicht in die Augen.

    „Ich werde eine Zeit lang verreisen." Bevor Annika ihm aufgebracht ins Wort fallen konnte, sprach er schnell weiter:

    „Nicht in die USA, nicht mal in die Nähe davon. In die Antarktis." Annika neigte fragend ihren Kopf und verengte ihre Augen:

    „Und das soll mich beruhigen? Du kommst mit dieser typischen Art an, die mir klar sagt, dass es wieder um Mutter geht." Ihre Enttäuschung und ihre damit verbundene Sorge konnte Thomas nicht ignorieren.

    „Ich weiß, das mit Amerika ist damals dumm gelaufen. Ich habe viel zu unvorsichtig in Wespennestern herumgestochert." Zorn funkelte in Annikas Augen auf, und sie antwortete scharf:

    „Du hast in Staatsgeheimnissen gestochert, schon vergessen? Den Amerikanern ist es doch egal, wonach ein Fremder sucht. Ein Land, das ständig in Angst vor Terroranschlägen steckt, ist in jeder Hinsicht paranoid. Was hast du erwartet?" Sie schüttelte ihren Kopf, und ihre langen braunen Haare weckten Erinnerungen an Verena in ihm. Sie war fast in dem Alter wie ihre Mutter, als diese verschwunden war, nur zwei Jahre jünger. Vielleicht konnte er sie aus diesem Grund nicht loslassen. Annika wurde ihrer Mutter einfach immer ähnlicher. Achtzehn Jahre waren vergangen, aber die Sehnsucht nach ihr wollte nicht abklingen. Oder war es Besessenheit? Nachdem Annika ihn aus der Gewalt der amerikanischen Behörden freigeboxt hatte, versuchte er mehrere Jahre, wieder ein normales Leben zu führen. Verenas Platz nahm aber keine andere Frau mehr ein. Er war wohl wie eine dieser Papageienarten, die nur einen Partner haben würden und dann einsam starben. So hatte er sich gefühlt, bis sich der Inder bei ihm gemeldet hatte. Doch nun war seine Besessenheit neu entflammt, und er war fest entschlossen, sich auf dieses Abenteuer einzulassen.

    „Die Geschichten, die du ausgegraben hast, sind doch nicht Grund genug, in die Antarktis zu fahren! Du bist doch gar nicht ausgebildet für so eine Reise!", warf Annika ihm an den Kopf.

    „Ich bin diesmal nicht alleine, Dr. Chakalakel kommt mit und noch ein ganzes Team von Spezialisten, versuchte Thomas, sie zu beruhigen. „Biologen, Geologen, Antarktisspezialisten und jede Menge andere Wissenschaftler.

    „Und wieso darfst du da mit? Soviel ich weiß, sind die Aufnahmebedingungen bei einer Antarktisexpedition ziemlich hart. Dafür bist du doch nicht fit genug."

    „Ich glaube nicht, dass du beurteilen kannst, in welcher Kondition ich bin", widersprach ihr Thomas.

    „Ich habe als Dokumentarfilmer angeheuert. Dr. Chakalakel hat sie davon überzeugt, und wenn du willst, kannst du als meine Assistentin mitkommen." Auf dieses Angebot war sie nicht gefasst. Sie könnte bei einer Antarktisexpedition dabei sein? Er wusste, dass eins ihrer Hobbys das Reisen in exotische Länder war. Oder an abgelegene Orte, an denen man sich nicht wie ein gewöhnlicher Tourist vorkam. Ihr Zorn wich Neugierde, aber sie war immer noch sehr misstrauisch.

    „Wer sind diese Leute? Das ist doch keine offizielle Expedition?"

    In das ernste Gesicht des großen Mannes schlich sich ein leichtes Lächeln: „Das musst du Dr. Chakalakel fragen."

    Distanz 147

    Nachdem ihr Vater gegangen war, schwirrte sein Angebot noch in ihrem Kopf herum. Es hatte für sie einen gewissen Reiz. Bisher waren die Ziele, zu denen sie gereist war, in tropischen Gefilden angesiedelt. In kalte Regionen hatte sie es außer im Skiurlaub nie gezogen. Doch die Antarktis war Abenteuer pur. Es würde auch kein Spaßurlaub werden, sondern ein Job.

    Andererseits wollte sie sich nicht kopflos in solch eine Reise stürzen. Sie musste sich erst mal genauer darüber informieren, um was für eine Expedition es sich handelte und wer das Kommando hatte. Sie war vorsichtig, denn ihr Vater hatte sich nur aus einem Grund darauf eingelassen, also hatte diese Expedition auch etwas damit zu tun.

    In einer Woche wollten sie aufbrechen, hatte ihr Vater gesagt. Folglich hatte sie ein paar Tage Zeit, im Internet zu recherchieren ? und morgen würde sie den Inder ausfragen.

    Distanz 146

    Den halben Nachmittag hatte Annika damit verbracht, Schlaf nachzuholen. Sie hatte noch bis fünf Uhr früh gearbeitet und dann die finalen Daten per FTPZugang auf den Kundenserver hochgeladen. Das war jetzt die zweite kostenlose Änderung, und ab der dritten würde es teuer werden. Eine alte Regel, die mittlerweile auch der Kunde kannte. Daher rechnete sie nicht damit, dass noch weitere Änderungen kommen würden. Es war schon halb sechs, als sie mit ihrem Ford Ka in den Garagenhof eines Wohnblocks hineinfuhr. Im dritten Stock bewohnte ihr Vater eine Mietwohnung, in der sie aufgewachsen war. Es war sozusagen ihr Elternhaus. Ab dem neunten Lebensjahr lebte sie mit ihrem Vater alleine dort. Manch einer hätte nach dem Verlust seines Lebenspartners die Wohnung gewechselt, aber ihr Vater nicht. Er klammerte sich an alle Dinge, die ihn an Verena, ihre Mutter, erinnerten. Das fünfstöckige Gebäude war ein Altbau aus dem neunzehnten Jahrhundert. Ihre Mutter wollte wenigstens den Charme eines Altbaus haben, wenn sie sich schon kein Eigenheim leisten konnten. Dafür gab es keinen Aufzug, nur ein breites Treppenhaus, welches Annika, ohne in Atemnot zu gelangen, hochstieg. Das Quietschen und Ächzen der alten Holzstufen ließ Erinnerungen an ihre Kindheit wach werden. Ihre Kindheit war sehr kurz gewesen. Mit fünfzehn Jahren schmiss sie fast alleine den Haushalt, während ihr Vater arbeiten musste. Vielleicht war sie deshalb so schnell mit ihrem Studium fertig gewesen. Jetzt, mit sechsundzwanzig, hatte sie auch schon so einiges erlebt, war viel gereist und hatte sogar an einem Spielfilm mitgewirkt.

    Mit dem Zeigefinger drückte sie rhythmisch das Familienklingel¬zeichen an der Wohnungstürglocke. Sie hatte zwar noch einen Wohnungsschlüssel, aber sie wollte nicht einfach hineinplatzen und vielleicht einem halbnackten Dr. Chakalakel überraschen. Diesen Mann, den Thomas in Indien entdeckt hatte, kannte Annika nicht, und sie hatte auch nie ein Foto gesehen. Sie war gespannt auf ihn.

    Ihr Vater öffnete die Tür und wirkte weniger ernst als gestern. Er sah irgendwie zufrieden aus. Er bat sie herein und machte eine einladende Geste ins Esszimmer, an dessen Esstisch ein Inder saß. Sollte das Dr. Chakalakel sein? Hatte ihr Vater nicht gesagt, dass er dreiundfünfzig wäre? Doch jetzt, im Jahr 2012, musste er mittlerweile neunundfünfzig Jahre alt sein. Sie erinnerte sich noch genau, als ihr Vater Tangatjen Chakalakel vor sechs Jahren kennengelernt hatte. Da war er bereits dreiundfünfzig Jahre alt. Doch der attraktive Inder, der sie mit seiner großen Nase und den tiefliegenden Augen an den Bollywoodstar Shah Rukh Khan erinnerte, konnte unmöglich neunundfünfzig Jahre alt sein. Höchstens dreißig, oder hielten sich Inder so gut? Er stand auf, reichte ihr die Hand und nannte dabei in gebrochenem Deutsch seinen Namen:

    „Hallo, Sie sind sicher Thomas Tochter? Mein Name ist Jenay Chochin, ich bin der wissenschaftliche Assistent von Dr. Chakalakel."

    Auch seine Mimik ähnelte dem des Bollywoodstars. Sie erwartete nur noch, dass sich seine Augen mit Tränen füllen und er anfangen würde zu tanzen.

    „Stimmt etwas nicht, Miss Annika?" Seine Frage war wohl auf ihren erstaunten Blick zurückzuführen. Blut schoss ihr in die Wangen. Hatte sie ihn so lange erstaunt angesehen?

    „Ach, wollen wir uns nicht einfach duzen?"

    „Duzen?", fragte Jenay, während er seine rechte Augenbraue hochzog.

    „Du zueinander sagen, statt Miss Annika. Annika reicht, und ich nenne dich Jenay. Okay?" Hoffentlich hatte er nicht das Gefühl, wie ein Behinderter behandelt worden zu sein, schoss es ihr danach noch durch den Kopf.

    „Okay, Annika", sagte er und legte ein charmantes Lächeln à la Shah Rukh Khan auf. Aus dem Wohnzimmer, welches an das Esszimmer grenzte, kam nun ein älterer Inder. Diesmal war es Dr. Chakalakel, und er sah auch so aus, wie sie ihn sich vorgestellt hatte.

    Distanz 145

    Thomas hatte eine Menge Wurst, Käse und Schinken aufgetischt, und an Tomaten, eingelegten Oliven und sonstigen Leckereien fehlte es nicht. Sie saßen zu viert um den Esstisch herum, und Dr. Chakalakel erzählte auf Englisch, wie er Thomas in Indien kennengelernt hatte. Es war im Jahr 2006 gewesen, als er mit dem fremden deutschen Mann in Varakulam zusammenstieß. Im wahrsten Sinne des Wortes war Thomas mit seinem Leihwagen in das kleine dreirädrige Ottokar von Dr. Chakalakel gefahren. Aber diese Geschichte kannte Annika bereits von ihrem Vater. Sie versuchte, das Gesprächsthema auf die bevorstehende Reise zu lenken, was auch kein Problem war. Der kleine alte Inder war Feuer und Flamme. Thomas genoss es, dass einmal ein Verbündeter seine Tochter mit diesem Thema konfrontierte. Da sie gut Englisch verstand und der indische Dialekt nicht völlig unverständlich war, konnte sie ihm gut folgen.

    Der Doktor holte weit in die Vergangenheit aus:

    Distanz 144

    Es war im antarktischen Sommer 1988, als er das erste Mal in Wilkesland war. Als Geologiestudent kam er über viele Umwege und Beziehungen zu einer norwegischen Antarktisexpedition. Das Ziel dieser Forschungsreise sollte es sein, Eisproben aus sehr tiefen Eisschichten der Antarktisgletscher zu bergen. „Eiskernbohrungen nannten die Forscher diese Tätigkeit. Tangatjen Chakalakel war schon immer fasziniert von diesem eingefrorenen Kontinent, der in einem extremen Kontrast zu Indien stand. Eine kilometerdicke Eisdecke hatte sich seit dreizehn Millionen Jahren über ein Land gelegt, das zuvor in manchen Teilen dem Klima Indiens sogar ähnlich gewesen war. Am Rande des transantarktischen Gebirges hatten sie eine Containerstation errichtet. Drei Monate hatte er dort mit den Norwegern verbracht, die ihm den einfallsreichen Spitznamen „Ghandi verpasst hatten. Sie waren in der Einsamkeit schnell zu Freunden geworden. Mit Hektor Amundsen verstand er sich besonders gut. In der letzten Woche seines Aufenthalts stießen sie beim Bohren in etwa eintausendsechshundert Metern Tiefe auf etwas, das ihren Bohrkopf völlig zerstörte. Als sie ihn näher untersuchten, stellten sie fest, dass er sich nicht nur deformiert hatte, sondern mit einer unbekannten metallischen Legierung verschmolzen war. Mithilfe der Atomspektroskopie versuchten sie, die genaue elementare Zusammensetzung des fremden Materials zu bestimmen. Dies scheiterte daran, dass sich die Legierung nicht in einen gasförmigen Zustand überführen ließ. Für dieses Verfahren war das nötig, aber das unbekannte Material ließ sich einfach nicht verdampfen. Für die meisten stand fest, dass es nicht von der Erde stammen konnte. Wilde Spekulationen machten die Runde, ScienceFictionKlassiker wurden zitiert. Es war, als hätten sie den „Goldenen Gral" der Antarktis gefunden.

    Aber so aufregend wurde es dann doch nicht. Zumindest nicht für Tangatjen Chakalakel, der wieder zurück nach Indien musste. Hector versprach ihm aber, ihn wegen des Fundes auf dem Laufenden zu halten. Tangatjen hörte jedoch nie wieder etwas von ihm. Natürlich versuchte er, Näheres über seinen norwegischen Freund herauszufinden. Er stolperte, ähnlich wie Thomas seinerzeit in den USA, über Geheimniskrämerei und Lügen, bis er mit Sicherheit sagen konnte, dass alle norwegischen Kollegen tot waren. All dies hatte er über Recherchen von Indien aus herausgefunden. Durch seine Fragen über den außergewöhnlichen Fund unter dem Eis wurden Personen auf ihn aufmerksam, die auch ihm nach dem Leben trachteten. Wäre da nicht eine Organisation aus dem Schatten getreten, die sich „Blizzard" nannte, wäre er wahrscheinlich schon lange tot. Hinter Blizzard steckte ein deutscher Konzern. Diese Information konnte er mit der Zeit herausfinden. Wer und wieso sie ihn rechtzeitig gewarnt hatten, erfuhr er erst vor vierzehn Tagen. Kurze Zeit danach rief er Thomas an.

    Distanz 143

    Dr. Tangatjen Chakalakel machte eine Pause und schaute erwartungsvoll in die Runde. Annika sah ihren Vater mit leicht offen stehendem Mund an. Thomas nickte bestätigend.

    „Wie ich es dir damals erzählt habe."

    „Was hat Ihre Frau beruflich gemacht?, fragte ihn Dr. Chakalakel. „Sie war Genetikerin, kurz vor ihrem Diplom, antwortete Thomas mit starrem Blick, der verriet, dass er gedanklich schon woanders war.

    „Dann müssen sie etwas Biologisches entdeckt haben. Wieso sollten sie damals sonst eine Genetikerin mitgenommen haben?", warf Jenay ein.

    Das ging Annika zu weit.

    „Wollen Sie ernsthaft behaupten, dass dort ein Ufo gefunden wurde? Sozusagen ein Roswell der Antarktis?" Annika hatte Probleme, an solche Dinge zu glauben, da für sie Außerirdische nur in Büchern und Filmen vorkamen. Das war irgendwie falsch.

    „Was ist Roswell?", fragte Dr. Chakalakel.

    „Das soll eine UfoAbsturzstelle gewesen sein. Area 51 ist doch sehr bekannt …", versuchte Jenay dem Doktor zu erklären, doch der schüttelte nur den Kopf. Annika fühlte eine innere Unruhe aufkommen, angeblich hatte sie diese Ungeduld von ihrer Mutter geerbt.

    „Jetzt erzählen Sie doch mal von der Antarktisexpedition! Der bevorstehenden!", fügte Annika noch schnell hinzu, damit der Doktor nicht wieder in die Vergangenheit abrutschte.

    Tangatjen Chakalakel faltete seine Hände wie zum Gebet und lehnte sich seinen Zuhörern entgegen:

    „Wie ich erwähnte, hat sich die Organisation Blizzard nach Jahren wieder bei mir gemeldet. Sie sind es, die alles finanzieren und organisieren. Seit Jahren beobachten sie einen speziellen Fleck in der Antarktis. Es ist der Ort, an dem ich damals meine Eiskernbohrungen gemacht habe. Seitdem die Amerikaner die Norweger vertrieben haben, besetzen sie diesen speziellen Ort mit einer amerikanischen Forschungsstation. Nur damit kein anderer auf die Idee kommen könnte, dort Bohrungen vorzunehmen. Nach Regierungswechseln und großen Haushaltslöchern in den USA musste der Betrieb dieser Station dann letztendlich eingestellt werden."

    „Antarktisstationen können sehr viel Geld verschlingen. Besonders wenn sie über so lange Zeit ständig erneuert werden müssen", fügte Thomas ein. Dr. Chakalakel fuhr fort:

    „Als die Amerikaner endlich abgezogen sind, startete die BlizzardExpedition zu diesem fernen Ort, um heimlich Bohrungen durchzuführen." Dr. Chakalakel machte eine Pause, die Annika nutzte, um ihm gezielt Fragen zu stellen.

    „Wer steht überhaupt hinter Blizzard? Kennen Sie Namen? Und wieso sind die sich so sicher, dass dort noch etwas zu entdecken ist?" Thomas schaute seine Tochter so verwundert an, als hätte er sich diese Frage nie gestellt.

    „Vielleicht haben die Amerikaner schon alles ausgegraben und sind deshalb weg", führte sie ihre Bedenken genauer aus.

    Dr. Chakalakel schmunzelte.

    „Es ist noch da. Das bestätigte mir Herr Müller. Das ist der Mann, der mich übrigens anrief und zur Expedition einlud. Er sagte mir, sie haben bereits mehrere Testbohrungen in Umkreis von fünfhundert Metern gemacht und sind immer auf das gleiche Ergebnis wie ich vor vierundzwanzig Jahren gekommen: mit einer unbekannten Legierung verschmolzene Bohrköpfe. Das bedeutet, dass es mindestens einen Durchmesser von einem Kilometer hat. So etwas können auch die Amerikaner nicht abtransportieren. Besonders, wenn es unter einer Meile Eis liegt." Er spülte seine Worte mit einem großen Schluck Wasser hinunter.

    „Aber wieso fahren sie wieder dorthin? Um noch mehr Bohrungen zu machen? Was erwarten die sich davon? Verstehen Sie mich nicht falsch, aber als Wissenschaftslaie wundere ich mich einfach, dass diese Organisation noch mal dorthin fährt, um weitere Eiskernbohrungen zu machen. Ergibt das Sinn?" Bei ihren letzten Worten wandte sie den Blick zu ihrem Vater.

    „Sie werden dort bohren, um runterzugehen", antwortete Thomas trocken.

    Annika fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Die Expedition, die in ihrem Kopf eine kleine Antarktisreise von Verschwörungs¬anhängern war, wuchs schlagartig zu einem Großprojekt an. Was war nötig, um in eine Tiefe von eintausendsechshundert Meter unter das Eis zu gelangen? Auf jeden Fall größere Maschinen. Diese mussten auf einen Gletscher in dreitausend Metern Höhe gebracht werden. Noch einmal fragte sie Dr. Chakalakel, wer genau hinter Blizzard steckte.

    „Also, ich weiß nur so viel: Ein deutsches Bergbauunternehmen wurde seinerzeit vom amerikanischen Militär beauftragt, eine Tunnelbohrmaschine zu entwickeln, mit der man sehr tief in antarktische Gletscher bohren kann, antwortete Dr. Chakalakel. „Seeger Bergbau war die Firma, die das richtige Knowhow hatte. Sie haben sich schon 1988 mit Bohrungen auf dem Mars befasst. Jedenfalls hatten sie damals sehr fortschrittliche Technologien entwickelt, sind aber nach dem Auftrag für die Amerikaner schnell bankrottgegangen. Damals gab es diesen Bergbauskandal, für den Seeger Bergbau verantwortlich gemacht wurde, und das gab ihnen den Rest.

    „Was ist denn da passiert?", fragte Annika. Dr. Chakalakel musste überlegen, aber Thomas übernahm die Erklärung:

    „Ende 1994 gab es im Ruhrgebiet ein Bergbauunglück in einem Tunnel, in dem die neuesten Maschinen von Seeger Bergbau eingesetzt wurden. Dem Unternehmen wurde vorgeworfen, fehlerhafte Maschinen eingesetzt zu haben. Ein paar Menschen sind gestorben, und dann war der Ruf des Unternehmens zerstört. Nach meiner Internetrecherche hatten viele amerikanische Investoren ihre Finger im Spiel, bis hin zu einer Person Namens Major Hidge vom amerikanischen Militär." Thomas hatte wieder diesen verschwörerischen Blick, mit dem er leidenschaftlich über die wildesten Theorien sprach.

    „Der Firmenchef Dr. Seeger und seine Familie kamen kurze Zeit später bei einem Autounfall ums Leben. Als ich das alles entdeckte, wurde mir klar, dass hier mutmaßlich Menschen aus dem Weg geräumt wurden, um etwas sehr Wichtiges geheim zu halten!"

    Annika bereute ihre Frage mittlerweile, denn sie konnte diese Verschwörungsgeschichten nicht mehr hören. Nach Thomas’ Wahrheitssuchaktion in Amerika hatte er die dort gesammelten Informationen zu einer riesigen Verschwörungskonstruktion zusammengesetzt. Über mehrere Jahre hatte er nicht aufgehört, davon zu sprechen. Bis sie ihm eines Tages deutlich die Meinung gesagt hatte. Dann war lange Zeit Ruhe gewesen ? bis jetzt. Und dementsprechend stellte sie ihre Frage recht schroff: „Was hat das denn jetzt alles wieder mit dieser Expedition zu tun? Ich will doch nur einfach wissen, wer das Ganze macht. Thomas war es sichtlich unangenehm, dass seine Tochter vor seinen Gästen so aus dem Häuschen geriet. Annika empfand ihre Reaktion im Nachhinein auch etwas als übertrieben, aber Dr. Chakalakel antwortete, als wäre es eine ganz normale Frage gewesen. „Die Firma DDC, Deep Digging Constructions, übernahm die Restbestände des zerstörten SeegerKonzerns. Deren Geschäftsführer ist Alexander Müller der Mann, der mich anrief. Am zehnten Januar starten sie von Punta Arenas in Chile. Das liegt am südlichsten Ende von Südamerika. Anfang des Jahres ist in der Antarktis Sommer, und es ist durchgehend hell, also perfekt für einen Ausflug jenseits des transantarktischen Gebirges im Wilkesland. Und wir dürfen mit.

    Annika war sprachlos, dass es der Inder endlich auf den Punkt gebracht hatte. „Und diesen Leuten können wir vertrauen?", hakte sie noch nach.

    „Das sind nicht irgendwelche Fanatiker, da kommen auch noch seriöse Wissenschaftler mit. Natürlich ist es keine offizielle Expedition. Wir wollen auch nicht die Aufmerksamkeit der Amerikaner erregen", antwortete Thomas, als gehöre er schon zu Blizzard. Jenay beugte sich etwas näher zu Annika hin und blickte sie ebenfalls verschwörerisch an:

    „Da kommen nur Profis mit. Sonst wäre ich auch nicht mitgekommen."

    Jetzt verstand sie, dass alle drei Anhänger der Verschwörungstheorie waren. Und dann waren da noch diese angeblich seriösen Wissenschaftler, die mithilfe einer geheimen Organisation fanatischen Zielen nachjagten. Und das alles finanziert von einem Bergbauunternehmen? Konnte es sich ein Unternehmen leisten, fanatisch zu sein? Wohl kaum. Sicherlich standen finanzielle Gründe dahinter. Der Dokumentarfilm konnte ein Grund sein und der Fund eines außerirdischen Artefakts ein weiterer.. Aber wie weit würden sie sich dabei in legalen Grenzen bewegen? Annika musste mit Grauen an die Zeit zurückdenken, als ihr Vater in der Gewalt der amerikanischen Behörden war. Unter keinen Umständen wollte sie Gesetze brechen.

    Und sie wollte auch nicht, dass ihr Vater es tat.

    Distanz 142

    Es war eine typische Warteschlange für Fluggäste, die ihr Gepäck am Münchner Flughafen abgaben. Genau in der Mitte davon befanden sich Thomas, Jenay und Dr. Chakalakel. Thomas schaute wieder auf die Uhr. Obwohl der Flieger erst in einer Stunde starten würde, wollte er mit allen zusammen einchecken, damit sie auch Sitzplätze nebeneinander bekamen.

    Hatte es sich Annika doch noch anders überlegt? Im Laufe der vergangenen Woche hatte sie sehr unentschlossen gewirkt. Vielleicht war es von Thomas keine gute Idee gewesen, sie auf diese Expedition mitnehmen zu wollen. Aber sie hatten schon seit geraumer Zeit nichts mehr miteinander unternommen, und er befürchtete, sie könnten sich entfremden. Er könnte es nicht ertragen, noch ein Familienmitglied zu verlieren.

    Thomas bemerkte in Jenays Gesicht ein breites Lächeln, und seinem Blick folgend sah er am anderen Ende des Terminals Annika auf sie zu marschieren. Annika winkte den drei Expeditionsteilnehmern zu und machte keine Anstalten, mit ihrem Trolly im Schlepptau am Ende der Schlange stehen zu bleiben. Sie hob unbekümmert das schwarzweiße Abgrenzungsband hoch und schlüpfte geschmeidig in die ZickzackSchlange zu den anderen. Dass sie ein paar Passagiere verstimmt ansahen, kümmerte sie überhaupt nicht.

    Jenay war sehr angetan von ihrem Auftreten. Sie bewegte sich sehr selbstbewusst in ihrem lässigen Outfit auf sie zu. Sie trug schwarze halblange Lederstiefel, Blue Jeans, eine schwarze gefütterte Lederjacke und eine Kappe mit Fellbezug. Jenay war froh, dass er seine Kordhose gegen ein paar Jeans eingetauscht hatte. Im Heimatdorf seiner Eltern hatte er die meiste Zeit des Jahres ein buntes Hemd und ein Stofftuch um die Hüften getragen. Aber hier versuchte er, sich dem Trend der Europäer besser anzupassen.

    „Schön, dass du doch noch gekommen bist! Ich hoffe für dich, dass du ein paar wärmere Sachen dabei hast", sagte Thomas etwas spitz.

    „Na klar, bin bestens gerüstet. Du aber auch, wie ich sehe." Dabei deutete sie auf den Gepäckwagen hinter Thomas, auf dem sich neben den Koffern von Jenay und Dr. Chakalakel auch noch zwei Metallkoffer, drei schwarze große Kamerataschen und ein normaler SamsoniteKoffer stapelten. Die Kamerataschen konnte sie noch verstehen, schließlich hatte ihr Vater die Aufgabe, eine Dokumentation zu drehen. Aber was war in den Metallkoffern?

    „Zwei HDCamcorder, zwei Digitalspiegelreflexkameras, zwei Laptops, jede Menge Akkus, Kabel, Objektive und ein nicht ganz leichter Solarstromgenerator. In der Antarktis gibt es nämlich keine Steckdosen. Außerdem müssen wir alles doppelt haben. Sollte ein Gerät versagen, ist die Dokumentation gestorben", antwortete Thomas.

    „Solange ich als deine Assistentin nicht alles schleppen muss …", kommentierte Annika die belehrenden Worte ihres Vaters.

    „Und habt ihr auch genug warme Sachen dabei?", wandte sie sich von ihrem Vater an die zwei Inder und wiederholte für Dr. Chakalakel ihren Satz auf Englisch.

    „Noch nicht alles", antwortete Tangatjen.

    „In Punta Arenas werden wir die nötige Kleidung für die Antarktis kaufen. Dort ist es billiger, und wir müssen nicht so viel mitschleppen."

    Dr. Chakalakel hatte sie in den letzten Tagen mehrmals darüber informiert, wie ihre Reiseroute sein würde, aber Annika konnte sich nur merken, dass sie irgendwann von Chile aus zur Antarktis reisen würden. Aber wie lange würden sie brauchen? Der Doktor wollte sich da irgendwie nicht richtig festlegen, zu viel würde wohl vom Wetter abhängen. Das Ganze würde aber höchstwahrscheinlich nicht länger als eine Woche dauern. Jenay erklärte ihr gern noch mal den Reiseplan.

    „Von München nach Frankfurt dauert es nur fünfzig Minuten, wir können sogar in der Maschine bleiben, aber dann geht es über den Atlantik. Dreizehn bis vierzehn Stunden Flugdauer von Frankfurt nach Buenos Aires. Aber an Bord des Airbus 380 gibt es ein Bordrestaurant. Schon mal mit einem Airbus 380 geflogen?", fragte Jenay nach.

    „Das sind diese zweistöckigen Riesen, oder?" Jenay nickte auf Annikas Frage zwei Mal.

    „Nein, bin ich noch nicht, aber so lange bin ich schon geflogen. Ich mag das gar nicht. Aber vielleicht kann man sich in dem fliegenden Schiff ganz gut die Füße vertreten", scherzte Annika. Jenay lächelte sie breit an, aber Annika war unsicher, ob er den Scherz verstanden hatte.

    „Geht es in Buenos Aires gleich weiter, oder können wir dort eine Pause machen?"

    „Ein paar Stunden werden wir dort auf unseren Anschlussflug warten müssen, aber dann geht es weiter nach Santiago de Chile, Flugzeit eine Stunde und fünfunddreißig Minuten, und von Santiago de Chile nach Puerto Montt in knapp zwei Stunden. Dort machen wir dann einen Tag oder mehr Pause." Die letzten Worte sprach er ganz schnell aus, als er sah, wie Annikas Augen immer größer wurden.

    Distanz 141

    In Frankfurt ließ Jenay Annika am Fenster sitzen. Er hatte bereits das Vergnügen, acht Stunden an einem Flugzeugfenster zu sitzen, als sie von Indien nach Deutschland gekommen waren. Er fragte sich, ob es nicht kürzer gewesen wäre, in die andere Richtung um die Erde zu fliegen oder über Australien und Neuseeland gleich zur Antarktis. Dr. Chakalakel hatte die Route geplant, und der musste sich natürlich an die DDCCompany halten, die ihren Startpunkt in Chile hatte. Sie saßen alle vier in einer Reihe sehr weit vorne im Airbus, aber nicht in der ersten Klasse. Diesen Luxus erlaubte ihnen DDC nicht. Dann beschleunigte der Airbus 380 auf der Startbahn und erhob sich zu seiner dreizehnstündigen Flugreise in den Himmel Richtung Buenos Aires.

    Distanz 140

    Das Restaurant war den ganzen Flug immer voll besetzt, und so verbrachten die vier Reisegefährten die meiste Zeit des Fluges in ihren Sitzen, um dort zu essen, zu schlafen oder laut zu lachen. So kam es jedenfalls Thomas vor, denn Annika und Jenay alberten viel neben ihm herum. Einerseits hinderte es ihn daran, den Flug zu verschlafen, andererseits freute er sich darüber, seine Tochter herzhaft lachen zu sehen. In seiner Gegenwart war sie meistens sehr ernst. Wer konnte es einer Tochter verdenken, die ihren Vater aus dem Gefängnis holen musste? Wieder begann Thomas, sich in seinen Gedankengängen zu verteidigen. Er hatte damals in den USA kein wirkliches Verbrechen verübt. Nur Nachforschungen über seine Frau angestellt. Die Ausrede der amerikanischen Regierung, sie sei bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, war nach nur wenigen Recherchen unglaubhaft geworden. Sie hatten sich geschworen, jeden Tag miteinander zu telefonieren, bevor sie zu Bioniko in den USA ging. Er machte sich wieder Vorwürfe, weil er sie darin bestärkt hatte, diese Gelegenheit zu nutzen. Es sollten nur vier Monate sein. Vier Monate Auslandserfahrung, die ihrer Karriere einen ordentlichen Schub verliehen hätten.

    Bei ihrem letzten Telefonat erzählte sie ihm, dass sie an einem besonderen Projekt teilnehmen dürfte, sie aber wegen der Sicherheitsmaßnahmen und des abgelegenen Ortes für zwei Wochen nicht miteinander telefonieren könnten. Sie klang sehr begeistert und aufgeregt, aber sie verriet nicht, worum es sich bei diesem Projekt handelte.

    Wieder ließ er es zu. Thomas hatte die letzten Briefe von Verena immer bei sich. Er hatte sie schon so oft gelesen, dass das Papier an manchen Stellen brüchig geworden war, aber nie herausgefunden, was wirklich zwischen den Zeilen stand. Es fehlten die kleinen Floskeln, die nur harmonisierende Paare miteinander teilten. Die Briefe waren von ihr, aber jemand hatte das wegradiert, was sie wirklich sagen wollte. Trotzdem hatte er herausgefunden, dass sie mit Kollegen des BionikoInstituts in die Antarktis gebracht worden war. Seine Wahrheitssuche führte ihn zu den Verwandten der anderen, die auch vermisst wurden. Er stieß auf immer mehr Widersprüche, und andere Fakten belegten Tatsachen, die verborgen gehalten wurden.

    Irgendwann tauchte dann der Name auf: Major Hidge, militärischer Leiter von Fort Shellbay in den Rocky Mountains. Dass er eine wichtige Rolle in dieser Vertuschungsgeschichte spielte, wurde Thomas erst wirklich bewusst, als man ihn zur Untersuchung in ein Militärgefängnis steckte. Der Name des Majors hatte in gewissen militärischen Kreisen Aufmerksamkeit erweckt ? und das nicht ohne Grund. Einen Monat hatte es gedauert, bis Annika herausgefunden hatte, wo ihr Vater steckte, und weitere zwei Monate, bis sie ihn den Klauen der amerikanischen Bürokratie entrissen hatte. Eine geheime Macht wollte Thomas nicht mehr gehen lassen, und in den drei Monaten Inhaftierung glaubte er schon, dass man ihn verschwinden lassen wollte.

    Ohne die Bemühungen seiner Tochter wäre er wahrscheinlich wirklich verschwunden.

    Einfach so.

    Distanz 139

    Dr. Chakalakel hatte es geschafft, kurz nach dem servierten Abendessen einzuschlafen, und mit etwas Glück blieb er möglichst lange in diesem Zustand. Annika und Jenay hatten ihm den Platz am Fenster überlassen, damit ihn keiner aufwecken musste, sollte einer von ihnen mal aufstehen müssen. Thomas saß nun direkt neben Jenay und war bei seinen Gedankengängen eingeschlafen. Im Gegensatz zu Annika schlief Thomas gerade im Sitz, mit dem Kopf nach hinten geklappt, sodass sein Hals trotz des Kissens leicht überstreckt war. Diese Stellung hatte zur Folge, dass sein Mund leicht offen stand und dass er leicht röchelte. Annika hatte sich unter eine dünne Schlafdecke gekuschelt, leicht seitlich gelegt und ihren Kopf an Jenays Schulter geschmiegt. Wären sie alleine gewesen, hätte Jenay ihre Nähe durchaus genießen können. Doch in dieser Situation, mit Annikas Vater auf der anderen Seite, der im Begriff war, ein ausgewachsenes Schnarchen zu erzeugen, fiel es ihm außerordentlich schwer, romantische Gefühle zu entwickeln. So schloss auch Jenay seine Augen und ließ seine Gedanken hinter das transantarktische Gebirge reisen.

    Distanz 138

    Der Flug neigte sich seinem Ende zu. Nicht alle hatten das Glück, fünf Stunden geschlafen zu haben. Thomas hatte lediglich zwei Stunden in diesem Zustand verbracht. In der Zwischenzeit war er durchs Flugzeug geschlendert und schrieb im Restaurant in seinem Tagebuch die Ereignisse nieder, die seit seinem letzten Eintrag passiert waren. Eigentlich war es mehr ein Wochenbuch als ein Tagebuch. Er hatte es sich angewöhnt, jeden Sonntagabend seinen Wochenrückblick zu machen. Heute war allerdings erst Donnerstag, aber jetzt hatte er Zeit und konnte sowieso nicht schlafen. Er führte mittlerweile seit achtzehn Jahren Tagebuch. Es hatte damit angefangen, dass Verena in die Vereinigten Staaten gegangen war. Sie kauften sich jeder das gleiche, in rotes Leder gefasste Buch mit leeren Seiten und einem Lederband zum Einwickeln. Wenn sie getrennt voneinander waren, würde jeder von ihnen Tagebuch führen. Bis sie wieder zusammen waren. Es war Verenas Idee gewesen, und Thomas fand es zuerst etwas albern, da sie doch sowieso jeden Tag telefonierten. Aber er tat es ihr zuliebe doch. Er sollte besonders die Entwicklungsschritte von Annika festhalten, denn sie hoffte, vielleicht einen kleinen Teil von dem, was sie in den USA verpassen würde, auf diese Weise nachlesen zu können. Obwohl sie nicht mehr zurückkam, behielt Thomas dieses Ritual bei und kaufte auch immer nur dieses Tagebuch mit dem roten Ledereinband. Mittlerweile hatte er sich einen Vorrat an Tagebüchern zugelegt, von denen er dreißig mit seinen Einträgen gefüllt hatte. Er machte sich keine Hoffnungen, dass er seine Frau jemals lebend wiedersehen würde, aber vielleicht würde er eines Tages ein Tagebuch von ihr finden.

    Distanz 137

    Um sechs Uhr früh nahm der Flug in dem riesigen Airbus sein Ende. Alle an Bord waren wieder auf ihren Plätzen angeschnallt, und die Maschine begann mit dem Sinkflug auf den Flughafen von Buenos Aires. In Argentinien herrschte zu dieser Zeit wesentlich wärmeres Wetter als im winterlichen Deutschland. Bei dem Flug über den Atlantik hatten sie den Äquator überquert und waren von der Winterseite der Erdkugel auf die Sommerseite gewechselt.

    In Buenos Aires würden sie sich gar

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