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Túatha Dé Danann. Sternenheim: Teil 1
Túatha Dé Danann. Sternenheim: Teil 1
Túatha Dé Danann. Sternenheim: Teil 1
eBook308 Seiten4 Stunden

Túatha Dé Danann. Sternenheim: Teil 1

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Über dieses E-Book

Cornelis von der Bruderschaft der Archivare sinnt auf Rache. Er folgt Nyail, dem Gesandten des Abgründigen Gottes, der seine Mutter Bernadette getötet hat. Dabei verschlägt es ihn und seine Begleiter in die riesige Metropole Sternenheim, wo er die Bestie Ereschkigal besiegen muss, um den Gral zu erringen. Der magische Kelch ist nicht nur eine von drei verbliebenen Waffen der Túatha Dé Danann, sondern auch das Instrument, mit dem Cornelis die Welt retten muss. Doch er hat nicht die geringste Ahnung, wie diese Aufgabe zu bewältigen ist. Während die Entropie Nord- und Südland nach und nach zerstört und sich gewaltige Karawanen mit Flüchtlingen am Ende der Welt in der Nekropolis zusammenrotten, muss sich Cornelis seinem größten Gegner stellen: dem neu erstandenen, furchteinflössenden Gott Cú Chulainn und seinen in den Schatten verborgenen Horden der Túatha Dé Danann.
SpracheDeutsch
Herausgeberacabus Verlag
Erscheinungsdatum23. Juli 2012
ISBN9783862821822
Túatha Dé Danann. Sternenheim: Teil 1

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    Buchvorschau

    Túatha Dé Danann. Sternenheim - Sean Connell

    Vorspiel

    Die Bühne ist bereitet. Rauch steigt auf. Ein von drei prächtigen, weißen Hirschen gezogener Wagen rollt heran. Darauf befinden sich einhundertfünfzig abgetrennte Köpfe, manche von ihnen mit Gold oder Silber überzogen, andere grotesk eingepfercht in kleinen Holzkästchen. Drei betörend schöne Frauen stehen auf dem Wagen und blicken auf die Sitzreihen eines leeren Theaters.

    Der Wagen kommt zum Stehen.

    Streicher im Orchestergraben weben einen hellen, epischen Klang in unterschiedlichen, aber ineinandergreifenden Tempi, unterstützt von Posaunen und Trompeten.

    Die drei Frauen – allesamt gekleidet wie Gralsbotinnen, mit sehr bleich geschminkten Gesichtern, die großen Augen in schwarze Schatten getaucht, mit Mündern rot wie jungfräuliches Blut – tragen Imitate der Waffen der Túatha Dé Danann: den Speer, das Schwert, den Kessel der Wiedergeburt und den Königsstein Lia Fail.

    Die Musik steigert sich zu einem wilden Crescendo, dann bricht sie plötzlich ab, das Licht geht an und offenbart die einsame Größe des Saals.

    Die drei Frauen steigen vom Wagen. Langsam und vorsichtig, darauf bedacht, die aus Wachs und Plastik geformten Schädel der Ritter nicht zu beschädigen. Sie flüstern miteinander.

    Die Erste sagt: „Sein Schicksal entscheidet sich nun."

    „Es war alles vergebens", klagt die Zweite.

    Die Dritte aber, Gwenhwyfer, lächelt. „Nichts ist vergebens, nicht einmal in diesem Moment."

    Angharad, die Erste, die gesprochen hatte, ruft: „Die Welle steigt empor. Sie wird ihn verschlingen!"

    Blancheflor wirkt unschlüssig. „Was können wir tun?"

    Gwenhwyfer blickt sie an. „Wir werden tun, was wir immer schon getan haben. Wir werden warten."

    Der Wagen wird wieder auf seine ursprüngliche Position gezogen.

    Erneut steigt Rauch auf.

    1 Maschinenvater

    Sternenheim war ein Hermaphrodit, der sich selbst liebte; ein größenwahnsinniger Moloch, nur mit seinen ureigenen, inneren Angelegenheiten beschäftigt – eitel und verkommen nach einer beispiellosen, fünfhundertjährigen Geschichte der Blüte. Zuletzt narzisstisch in Selbstbetrachtung erstarrt und im Kern bereits verfault. Häuser, Fabriken, Terrassen, Viadukte und Straßenzüge – sie alle ruhten in diesem Moment in der mausgrauen Dunkelheit der Nacht. Holten Atem für den neuen Tag.

    Harlekin kauerte in der Aussparung eines Stahlträgers der Westbarrenumfahrung und blickte hinunter auf die schlafende Stadt. In dieser schwindelerregenden Höhe waren die Heime der Menschen nur mehr leuchtende Nester, ein verkehrt herum aufgehängtes Sternenzelt.

    Verlorenheit, dachte er, ist vielleicht das, was ich empfinden sollte. Menschen würden es tun.

    Er starrte in die Schluchten, in denen die nächtlichen Lichter glommen. Sie erschienen ihm fremd.

    Du bist nicht verloren, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Es war Rachel. Noch nicht, du mechanischer Narr!

    Harlekin verzog das Gesicht zu einer Grimasse.

    Was willst du denn? Warum gehst du nicht einfach weg? Verschwindest dahin, woher du gekommen bist.

    Weil es keinen Ort gibt, an den ich gehen kann, bin unbehaust, ewig umherziehend, und trotz allem gefangen in deinem mechanischen Körper!

    Harlekin blickte auf. Der Himmel schien wie ein Spiegelbild der Stadt: Sterne, so weit das Auge reichte.

    Er dachte nach.

    Ich fühle mich in meinem Körper nicht unbehaust. Warum kannst du nicht sein wie ich?

    Oh, ja! Du bist du, aber ich bin nicht du. Ich bin eine Seele. Vielleicht die erste und einzige Seele. Wer weiß? Cú Chulainn hat sie mir im Augenblick meines Todes geschenkt, aber dummerweise bin ich gefangen in deinem Kopf, so lange, bis deine Schaltkreise und Prozessoren aufhören zu funktionieren. Bis du rostest und verrottest und eines Tages auf einem der beschissenen, unzähligen Schrottplätze von Sternenheim liegst!

    Harlekin kicherte leise und hoffte, dass seine Stimme nicht als Echo von den Stahlträgern widerhallte. Es war gefährlich, laut zu sein; er könnte immerhin von denjenigen entdeckt werden, die er beobachtete.

    Und was, amüsierte er sich kurz darauf still an Rachel gerichtet, wenn deine Seele nach meinem Dahinscheiden einfach hier gefangen bleibt, verhaftet in einem nicht verrottbaren Stück Metall meines Körpers, gebunden für endlose Jahrmillionen? Wirst du dann ein Gespenst sein, das auf ewig sein Unwesen treibt, während ich längst aufgehört habe zu existieren?

    Die Stimme in seinem Kopf schwieg verdrossen, und Harlekin, der Maschinenjunge, war zufrieden und erleichtert. Er mochte die Stimme nicht, jene Seele, die Jerry Marrks, sein Schöpfer, ihm gegen seinen Willen eingepflanzt hatte. Er hasste sie geradezu. Nach einer Weile des Schweigens war er beinahe überzeugt davon, dass Rachel nun endgültig genug hatte. Vermutlich war sie eingeschnappt und würde bis morgen früh schweigen. Oder zumindest für eine Weile.

    Er dachte jetzt an seinen Auftrag, an Ro Thanaya, Kanzlerin von Sternenheim, ihren anmutigen Körper, ihr ebenmäßiges, strahlendes Gesicht, ihren brillanten Geist. Er beschattete sie.

    Sie und die Banshees.

    Maschinenvater hatte gesagt, die Banshees und Ro Thanaya gehörten zusammen. Obwohl das ein Widerspruch zu sein schien, denn die Banshees waren das Böse, der Feind der Stadt. Es waren Kreaturen der Finsternis, die das Leben aus den Hirnen der Lebenden saugten. Ro Thanaya hingegen war eine Erleuchtung. Das wusste jeder Wähler Sternenheims, der ein Stimmrecht besaß. Sie war das einzige, helle Licht, das diese Stadt aus ihrem langen und unaufhaltsamen Abstieg in die Trostlosigkeit erretten konnte. Ro Thanaya spendete Hoffnung. Hoffnung für die Armen und Unterprivilegierten, für die Mitglieder der mächtigen Gilden, für die Arbeiter, für die Unternehmer, die Denker, den militärischindustriellen Komplex, die Ärzte, die Geistlichen und selbst für die Polizisten; für alle, die auf zwei oder mehr Beinen gingen und so viel Bewusstsein besaßen, dass sie am Wahltag mit einem einfachen Kreuz an der richtigen Stelle ihrer Hoffnung Ausdruck verleihen konnten. Hoffnung auf ein besseres Leben. Ro Thanaya versprach ihnen allen diese Hoffnung: den Menschen, den Nichtmenschen, den Hybriden und allen übrigen Lebensformen, die in Sternenheim eine Heimat gefunden hatten. Sie waren alle bereit, die amtierende Kanzlerin erneut zu wählen, für dieses kleine Stückchen Hoffnung. Die Opposition im Parlament, eine machtlose, kleine Gruppierung, war nicht nur entsetzt darüber, sondern regelrecht erstarrt in ihrer politischen Sprachlosigkeit, unfähig den scheinbar unverdienten Ruhm Thanayas zu begreifen. Stumm und mit vor Zorn geballten Fäusten sahen sie mit an, wie diese überaus schöne und kluge Frau erneut die Herzen der Menschen eroberte. Dabei – da waren sich Ro Thanayas Kritiker einig – gäbe es durchaus Grund für Wechselstimmung: auf den Straßen von Sternenheim herrschte blutiger Terror. Die Bewohner der Millionenmetropole wurden heimgesucht von einem Unheil, das auf den Namen Ereschkigal hörte.

    Ereschkigal und die Banshees.

    Doch Ro Thanaya versprach die Auslöschung des Bösen. Sie sagte nicht wie und mit welchen Mitteln, doch sie ließ keinen Zweifel daran, dass es geschehen würde. Noch vor der Wahl. Und die Bewohner von Sternenheim glaubten ihr.

    Nur Jerry Marrks nicht, Maschinenvater, wie Harlekin ihn nannte. Sein Schöpfer und Mentor.

    „Es ist eine Falle, hatte er dem Maschinenjungen eingebläut. Immer wieder. „Die Kanzlerin und die Kreatur – sie sind ein und dasselbe!

    „Niemand wird uns glauben."

    „Es gibt Beweise … besorge sie mir."

    „Wie wichtig ist das, Maschinenvater? Der Gral … das ist es, was wir wirklich brauchen. Harlekin ertappte sich dabei, dass er an die Seele in seinem Kopf dachte und an die Hoffnung, sie durch den Gral wieder loszuwerden. „Den Gral für deine Wunde. Für unsere Zukunft, für die Rettung aller.

    „Der Gral …?" Marrks seufzte. Er berührte sich an der Seite, spürte die niemals heilende Wunde unter seinen Fingern pulsieren, spürte das ins Nichts tropfende Ramnarough.

    „Geh’ und folge Ro Thanaya, hefte dich an ihre Fersen und lass dich nicht aufhalten oder abwimmeln. Egal, was passiert. Es wird nicht lange dauern, dann wirst du in ihrer Nähe die Banshees finden. Und bete darum, dass sie dich nicht finden!"

    „Ich bete nicht, Maschinenvater."

    „Sei’s drum. Tu’ einfach, was ich sage. Folge ihr und sende mir eine Botschaft, wenn du die Lagerräume, den geheimen Hafen oder den Tempel von Ereschkigal gefunden hast."

    „Dann lösche ich sie aus, vernichte den Hort des Bösen und besorge uns den Gral."

    „Du darfst nicht zu Schaden kommen. Das, was du in dir trägst, ist das Wichtigste im meinem Leben. Wir dürfen deine Existenz nicht sinnlos aufs Spiel setzen, hörst du? Bleibe auf Abstand und liefere mir Beweise für die Verbindung zwischen der Kanzlerin und den Banshees. Alles andere erledige ich."

    Harlekin schwieg. Nichts, was er in seinem mechanischen Leib trug, war in Maschinenvaters Augen besonders wertvoll, das wusste er, außer jenem nichtmateriellen Gedankenkonglomerat, das sein Schöpfer Seele nannte. Doch es gehörte nicht zu ihm, war nur eine vorübergehende Manifestation in seinem Kopf. Ein Fremdkörper, ein ungebetener Gast. Das Ergebnis jenes Experiments, bei dem Maschinenvater sich die unheilbare Wunde zugezogen hatte. An dieser Seele hing Maschinenvater, nicht an ihm, seiner Roboterschöpfung.

    Im Westen hörte Harlekin jetzt das ferne Rauschen des Meeres. Oder waren es nur die dampfbetriebenen Fahrzeuge auf der riesigen Westbarrenumfahrung? Er vermochte es nicht zu sagen. Viele Meter unter ihm erstrahlte plötzlich Licht im Garten der Thanayas. Ein Garten, der von seinen Ausmaßen an einen großen Park erinnerte. Baumhohe Gasfontänenlampen begannen schwach zu glühen, tauchten den fein geschnittenen Rasen in diffuses Gelb.

    In das schlafende Anwesen, das er bereits seit Stunden observierte, kam jetzt Leben: Gepanzerte Fahrzeuge rollten zielstrebig auf den von einem mächtigen Portal gekrönten Eingang zu. Die Flügeltüren des Hauses wurden geöffnet und dunkel gekleidete Bedienstete eilten heraus und verluden hölzerne Fässer aus dem Inneren des Hauses in die Fahrzeuge. Kurz darauf wendeten sie und verschwanden genauso schnell, wie sie gekommen waren, in dem ewig dahinfließenden, nächtlichen Verkehrsstrom der Stadt.

    Harlekin blickte sich um. Weit und breit schien das Geschehen nicht bemerkt worden zu sein. Das Grundstück der Thanayas war für Sternenheim ungewöhnlich groß und die nächsten Nachbarn weit entfernt.

    Ideal für eine geheime Operation, dachte Harlekin. Ideal für Ereschkigal und die Banshees.

    Kurz darauf erloschen die Gasfontänenlampen und das Grundstück der Thanayas fiel zurück in nächtlichen Schlummer.

    Und jetzt, fragte die Stimme in seinem Kopf. Was machst du jetzt?

    Ich werde mir das mal aus der Nähe ansehen, dachte der Maschinenjunge und stellte überrascht fest, dass er mit diesen Worten versuchte, sich selbst Mut zu machen, denn er verspürte urplötzlich eine nie gekannte, lähmende Angst. Ein seltsames Gefühl für eine Maschine, aber Jerry Marrks hatte ganze Arbeit geleistet: Harlekin war perfekt – zumindest als Kopie eines Menschen mit all seinen Fehlern, Schwächen und Ängsten.

    Ein Vorgängermodell mit Namen Colombina, an das er sich nicht mehr erinnern wollte – denn sie hatten einander einst etwas mehr bedeutet als zwei sich gegenseitig aushelfende Ersatzteillager –, war nicht mit dem Makel der Angst befleckt gewesen, und dennoch, oder gerade deshalb, hatte sich dieses Modell für unvollendet gehalten. Doch Colombina war fort, zurückgelassen auf dem nördlichen Kontinent im Goldenen Turm der Älteren, weil Maschinenvater dort jemanden brauchte, der ihnen den Rücken freihielt. Und nun musste er ganz allein mit seiner Angst zurechtkommen.

    Warum gehst du nicht einfach zurück zu Jerry Marrks? Gesteh’ dir dein Versagen ein, Maschinenjunge!

    Lass mich in Ruhe. Da ist etwas im Busch, dessen Ausmaß ich nicht einschätzen kann.

    Was immer in diesem Anwesen dort unten gewesen ist, es ist nun jedenfalls fort. Du hast gesehen, wie sie die Fässer verladen haben. Verschwende nicht unsere Zeit.

    Spuren, dachte Harlekin, Spuren sind vielleicht noch vorhanden. Der ominöse Tempel, nach dem Maschinenvater sucht. Die Lagerräume. Der geheime Hafen. Wer weiß? Eventuell auch noch andere Dinge. All das mag in diesem Anwesen dort unten verborgen sein. Maschinenvater hat in den letzten Tagen viele Gerüchte gehört. Wenn wir hier etwas finden, das auf eine Verbindung zu den Banshees hindeutet, dann sind wir einen riesigen Schritt weiter. Vergiss nicht, die Wahl ist bereits in drei Wochen. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.

    Und wie willst du da reinkommen? Das Anwesen wird über mehr Sicherheitssysteme und Sensoren verfügen, als du über Schaltkreise und Prozessoren.

    Ha, sehr witzig! Und selbst wenn es so ist … Maschinenvater will Ergebnisse sehen. Aber du kannst ja hierbleiben, wenn du keine Lust hast mitzukommen. Dann wage ich mich alleine in die Höhle des Löwen.

    Ich glaube nicht, dass du weißt, was Löwen sind, echote es in seinem Kopf, dann schwieg Rachel. Das hatte gesessen. Seltsamerweise hatte er nie verstanden, warum sie überhaupt eine Gefangene in seinem Kopf war. Irgendwie hatte er immer geglaubt, als körperlose Seele könne sie entfliehen, wie es ihr beliebte. Jedenfalls schien das Thema Rachel zuzusetzen. Harlekin wartete einige Sekunden auf eine unfreundliche Entgegnung, doch sie blieb aus.

    Die Dunkelheit war allumfassend, und jeder Schritt erhöhte die Gefahr eines Fehltritts. Harlekin bewegte sich äußerst langsam vorwärts. Zu sehen gab es nichts. Selbst auf dem Infrarotband nicht. Seine Füße verursachten auf den Dielen ein leises, aber doch hörbares Geräusch.

    Du wirst alle aufwecken, zischte Rachel. Harlekin ignorierte sie. Seine innere Sensorik, die eigentlich nicht für Observationen geeignet war, sagte ihm, dass in dem weitläufigen Anwesen zwar mehrere Personen zu dieser nächtlichen Stunde unterwegs waren, im Augenblick schien aber keine Gefahr zu drohen – sie waren weit weg, in einem anderen Teil des Hauses.

    Der Einbruch selbst war einfach gewesen.

    Fast zu einfach, wie Harlekin Rachel im Nachhinein recht geben musste. Bereits nach kurzer Suche hatte er ein offenes Fenster im Anbau des Westflügels entdeckt.

    Wir sind wie Diebe, hatte Rachel spitzfindig angemerkt, nachdem Harlekin mit nahezu perfekter Lautlosigkeit in das Innere eines unbeleuchteten Zimmers geklettert war. Der Maschinenjunge erwiderte nichts, sondern trat hinaus in ein ebenso finsteres Treppenhaus.

    Sein Ziel war das Untergeschoss.

    Wenn du in ein Schlafzimmer des Dienstpersonals trittst, und die wohnen nun mal meistens im Untergeschoss, mein Lieber, sind wir verloren! Rachel lachte. Das wäre äußerst dumm von dir, aber es würde mich nicht überraschen. Bei deinem Pech …

    Harlekin schwieg weiterhin.

    Was er suchte, waren Lagerräume. Lagerräume mit seltsamen Dingen. Vielleicht gehörten auch jene Fässer dazu, die zuvor vom Anwesen weggebracht worden waren. Doch wo konnten sich solch geheime Räume befinden? Er erinnerte sich wieder an die Details von Maschinenvaters Instruktionen. Die Lagerräume befanden sich demnach an einem Ort, an den sich keiner von Thanayas Gästen jemals verirren würde. Nach einer Weile ergebnislosen Suchens verspürte der Maschinenjunge plötzlich einen leichten Luftzug auf der Haut. Die künstlichen Haare auf seinen Unterarmen stellten sich auf.

    Hast du das bemerkt, raunte er Rachel in Gedanken zu.

    Ja, gab sie zurück. Das könnte eine Lüftungsanlage sein.

    Seine Finger ertasteten wenige Augenblicke später ein quadratisches Gitter, durch das kühle Luft strömte. Es war so enttäuschend klein, dass nicht einmal sein Kopf hindurch gepasst hätte. Ehe er einen Seufzer ausstoßen konnte, bemerkte er rechts neben dem Lüftungsschacht Stufen, die in die Tiefe führten. Er folgte ihnen und am Ende stand er vor einer verschlossenen Tür.

    Sie zu öffnen könnte riskant sein, appellierte Rachel an seinen Verstand.

    Harlekin ignorierte die Stimme in seinem Kopf und drückte vorsichtig die Klinke nach unten. Die Tür glitt auf. Dahinter lag ein langgezogener Gang mit einem roten Teppichboden und blau gemusterten, mit feinen Goldfäden durchwirkten Wandtapeten.

    Du wirst uns umbringen, Maschinenjunge!

    „Dann bist du endlich erlöst, Seele Rachel. Ist es nicht das, was du immer wolltest?", stieß er laut hervor und schritt den Gang entlang, ohne auf die einsetzenden Proteste in seinem Kopf zu achten.

    Der schallabsorbierende Fußboden, die gleichförmige Deckenbeleuchtung und die zunehmende Stille verstärkten das Gefühl von Unwirklichkeit. Zu beiden Seiten befanden sich Türen. Sie sahen alle gleich aus, und fast schien es, als würde Harlekin sich seit geraumer Zeit nur noch im Kreis bewegen. Kein Hinweis darauf, wohin sie führten: keine Nummern, keine Türschilder, kein Farbcode. Nichts. Gelegentlich streckte er seine Hand nach einem der Griffe aus, fest entschlossen sie zu öffnen, doch es war jedes Mal Rachel, die ihn davor bewahrte.

    Sie mussten sich längst außerhalb des Hauses aufhalten, irgendwo unter dem Garten des Anwesens. Die Sensoren des Maschinenjungen funktionierten jedenfalls nicht mehr richtig.

    Was machen wir jetzt?

    Du Jammerlappen! Was bist du nur für eine Maschine? Selbst die einfachsten Aufträge deines Meisters scheinen dir zu misslingen. Erst besitzt du die Unverschämtheit hier einzudringen und jetzt weißt du nicht mehr weiter. Also gut, ich gebe mich geschlagen. Tu es … mach eine Tür auf … diese Tür da!

    Harlekin legte den Kopf schief, rührte sich aber nicht.

    Gab Rachel jetzt endgültig klein bei?

    Mach schon, maulte sie.

    Harlekin tat wie befohlen.

    Er öffnete die Tür – und sie betraten einen düsteren, nicht verputzten Keller. Feucht, nach Moder und Schimmel riechend, war er; ein Raum, zum Bersten voll mit durchsichtigen, aber vollkommen verstaubten, mehr als mannshohen Bottichen in bronzefarbenen Einfassungen. Von den dicht an dicht liegenden Deckenleitungen tropfte rostiges Kondenswasser auf den Boden. Was immer der Sinn und Zweck der Behälter war, blieb Harlekin zunächst verborgen.

    Ein leises, unangenehmes Summen erfüllte den Raum.

    Der Maschinenjunge trat neugierig näher an die Tanks heran. In der grünlichbraunen Flüssigkeit im Inneren bewegte sich etwas. Er konnte undeutlich einen Körper ausmachen. Es war ein Mensch. Harlekin erschrak.

    Tote Menschen.

    Nein, Narr … sieh genauer hin. Die sind nicht tot. Die Schläuche … sie sind mit den Schläuchen verbunden … und sie leben.

    Aus der Wirbelsäule einer der reglosen Gestalten ragten metallene Manschetten, durch die die Schläuche ins Innere des Körpers eindrangen.

    Harlekin blickte von einem Bottich zum anderen.

    Überall das gleiche Bild: Wie in Zeitlupe drehten sich weiße, aufgedunsene Leiber um ihre vertikale Achse, ihre leeren Augen blickten ins Nichts.

    Harlekin starrte auf ihre Münder. Ganz langsam bewegten sich die Lippen, als würden sie versuchen, ihm etwas zu sagen.

    „Was ist bloß mit ihnen?", fragte Harlekin laut, und der Klang seiner eigenen Stimme ließ ihn zusammenzucken.

    Das ist das Werk der Banshees, erklärte Rachel. Es sieht so aus, als wäre das hier eine Art Vorratskammer. Hast du jetzt genug gesehen?

    „Einen Moment noch … Harlekin sah sich unschlüssig um. „Wofür ist das alles gut? Was hat das zu bedeuten?

    Keine Ahnung … am besten gehst du hin und fragst Ro Thanaya persönlich, was es damit auf sich hat; und du kannst sie dann auch gleich fragen, ob sie bereit wäre zuzugeben, dass sie in Wirklichkeit Ereschkigal ist.

    „Verstehe …, beschwichtigte Harlekin kleinlaut. „Du hast recht. Es ist Zeit zu verschwinden.

    Er drehte sich um und erstarrte. In der offenen Tür standen mehrere Männer mit Waffen im Anschlag.

    Jerry Marrks hatte kein gutes Gefühl. Sternenheim hatte sich in einen Albtraum verwandelt. All die vertrauten, ineinander verzahnten Geschichten des Gebärens, des Lebens und des Sterbens gingen in den Tagen des scheinbar nie enden wollenden Wahlkampfes völlig unter, wurden negiert, verdrängt, von den Medien ignoriert – verblassten völlig. Die Politik – sie allein beherrschte in diesen Tagen das Geschehen.

    Jerry Marrks, der in der dunkelsten Stunde der Nacht auf seinem Balkon stand und die immer noch belebten Straßenzüge Sternenheims überblickte, grübelte, suchte trotz des augenscheinlichen Verlustes menschlicher Themen weiterhin akribisch nach den Geschichten hinter den Geschichten. Nach Hinweisen auf den Gral.

    Er gehörte zu den unsterblichen Älteren, Menschen, die vormals auf der Erde gelebt hatten, vor tausend Jahren. Gemeinsam mit Juri-Hiro Ramnarough, Bernadette la Halle und einigen weiteren Auserwählten hatte er diese neue Welt geschaffen. Im Laufe der Jahrhunderte hatte er ein gutes Gespür für ihre Besonderheiten entwickelt, war vertraut mit dem Klang des Lebens und ihrem Pendant, dem schrillen Missklang des Sterbens. Anfangs, so erinnerte sich Marrks, waren es nur ein paar schiefe Töne gewesen, die ihm im Konzert zwischen Geburt und Tod aufgefallen waren, kaum wahrnehmbare Dissonanzen im Alltagsgetöse, kleine Abweichungen in der Partitur der Existenz, die nicht weiter auffielen, vereinzelte, holprige Tempiwechsel, die nicht zum schnellen, städtischen Leben passen wollten – atonale Folgen, scheinbar vernachlässigbare Ausreißer im Gesamtbild: Alles gut und recht, dachte Marrks, das war einmal. Mittlerweile spielte das ganze Orchester falsch. Es war geradezu beängstigend. Niemand außer ihm schien es zu bemerken. Doch wenn man genau hinhörte, wenn man mit wachem Verstand wagte, die Dinge, die verantwortlich für den Missklang zu sein schienen, genauer in Augenschein zu nehmen, dann prangte ein Name wie ein brennendes Fanal über allen Meldungen der letzten Monate:

    Ereschkigal – die Bestie.

    Es bestehe keine Gefahr für die Bevölkerung, hieß es in den Kommentaren der Medien. Man müsse nur vorsichtig sein.

    Es sei nur eine vage Bedrohung – etwas, das sich ausschließlich an der Peripherie der Stadt zutrug und das kaum eine Meldung wert war.

    Die Größe Sternenheims, dachte Jerry Marrks, sie lässt die Menschen diese Dinge glauben. Merkten sie denn gar nichts von der Bedrohung durch die Bestie?

    Die Stadt im Meer der Stille war ein Moloch, und alle, die darin lebten, waren berauscht. Ständig. Es war wie Rom zu Beginn der Kaiserzeit, Byzanz während der Blüte Justinians. Andere Zeiten, dieselbe Gleichgültigkeit, dachte Marrks verbittert. Hochmut und Dekadenz hatten die Stadt befallen. Der letzte Tango eines taumelnden Imperiums. Dennoch: Eine schleichende Unruhe nagte an den Menschen in Sternenheim – etwas, dem sie gerne mit derselben, alten Ignoranz früherer Generationen begegnet wären, hätten sie nur deren Format besessen. Aber so war es eine schweißklamme Angst, die sie nachts in der Dunkelheit befiel. Ein kaltes, todbringendes Venom, das sie zittern ließ. Voller Furcht wälzten sie sich in ihren Laken, bemühten sich Schlaf zu finden, was nicht gelang. So blieben sie mit pochenden Herzen wach und starrten in die Dunkelheit.

    Selbst die Haus- und Nutztiere in den Ställen standen mit aufgestellten Ohren reglos lauschend, während ihre Nüstern sich furchtsam blähten. Alle blickten hinauf zum bleichen Trabanten, der wie ein böses Omen seit Tagen über Sternenheim hing und die Straßen in fahles, blaues Licht tauchte.

    Doch mit dem morgendlichen Aufgang der Sonne verloren die nächtlichen Albträume ihre Schrecken, verblassten, und alles ging erneut seinen gewohnten Gang. Die Kessel der Dampfmaschinen wurden angefeuert, die Bürger eilten zur Arbeit und das elektrische Licht, eine Errungenschaft, derer sich Sternenheim bereits seit Jahrhunderten rühmte, verdrängte die dichten Schatten aus den Köpfen

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