Die einzige Strasse
Von Astrid Rosenfeld
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Über dieses E-Book
Sie alle wohnen in einem kleinen Bungalowpark in Greensville County, Virginia, sie alle sind vom Leben versehrte Menschen, Gestrandete mit wenig Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Dort, wo James B. Morgan ein Hotel errichten wollte, einen Ort der Begegnung und Bequemlichkeit, scheinen die armseligen Behausungen nur von geplatzten Träumen und Enttäuschung zu erzählen. Oder sind auch hier neue Verbin- dungen und Freundschaften möglich, vielleicht sogar Lieben?
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Buchvorschau
Die einzige Strasse - Astrid Rosenfeld
Per le mie sorelle Dagmar e Yvonne
1
»Lupe, Lupe, tanz wie Shakira.« Die Stimme des Soldaten drang durch das kaputte Fenster.
Obwohl niemand Jackie bei ihrem zweiten Namen rief, reagierte ihr Körper. Sie tanzte nicht wie Shakira, sondern erstarrte.
»Jackie, verdammte Scheiße. Hörst du mir überhaupt zu? Ich muss mich auf dich verlassen können, verstehst du?«
»Ja, Papa. Aber …«
»Dann los. In Position«, sagte Stanley.
Jackie zupfte ihren Bademantel zurecht, Stanley nahm den Besen, und Gene, Jackies achtjähriger Bruder, drückte auf Play.
Die ersten Takte von Whitesnakes Here I Go Again schallten durch das Zimmer. Jackie schlug ein Rad, ihre Beine knickten ein. Wenn niemand zuschaute, gelang es ihr immer. Spagat. Das musste sie noch üben.
Stanleys Einsatz war perfekt. David Coverdales Stimme, die aus den Boxen drang, und Stanleys waren eins. »I don’t know where I’m going …«
Jackie rekelte sich auf dem Boden, und in diesem Moment fühlte sie sich tatsächlich wie die schöne Frau aus dem Musikvideo. Hätte ihr Vater jetzt zu ihr hingesehen, wäre er stolz gewesen. Zumindest zufrieden. Jackie kroch auf allen vieren durch das Wohnzimmer, schwang ihr Haar zurück, stand langsam auf. Wild. Sexy. Jeder Mann im Publikum wollte sie, und alle Frauen beneideten sie. Wild. Sexy.
Gene lachte laut. Das dumme Lachen eines kleinen Jungen, und Jackie war wieder nur ein etwas zu dickes, etwas zu großes 13-jähriges Mädchen. Das durchsichtige Kleid nur ein weißer Frotteebademantel. Verschwunden das Publikum. Die Drehung um die eigene Achse misslang. Sie stolperte gegen den Besen, der Stanleys Mikrofonständer darstellen sollte.
»Verdammt«, fuhr er sie an, während David Coverdale weitersang.
Jackie glitt zu Boden. Brücke. Ihre Arme zitterten. Die letzten acht Sekunden. Aufstehen. Ihr Herz raste. Sie schwitzte. Rechtes Bein in die Höhe, linkes Bein in die Höhe. Jackie verlor die Balance, strauchelte.
»Mach aus!«, schrie Stanley.
Gene drückte auf Stopp. Ein paar Sekunden lang war es ganz still.
»Das ist eine Scheißperformance. Eine Scheißperformance, hörst du?«, sagte Stanley.
»Er hat gelacht«, sagte Jackie.
»Was?«
»Gene. Er hat gelacht, und da …«
»Hast du gelacht, Gene?«, fragte Stanley.
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Er hat nicht gelacht. Verdammt, Jackie.«
Gene war ein Arschloch.
»Ich habe gedacht, meine Tochter hat was drauf«, sagte Stanley, »meine Tochter ist ’ne Waffe. Ich will Jackie und keine andere.«
Jackie wusste, dass er Brianna aus Nr. 6 gefragt hatte, aber sie wollte nicht.
Dann hatte er Jackie das Video gezeigt und auf die schöne Frau gedeutet.
»Das bist du«, hatte er gesagt.
Und Jackie war so glücklich gewesen, dass es wehgetan hatte.
»Du musst üben, üben, üben. Denn was wollen wir?«
»Gewinnen«, sagte Jackie leise.
»Genau, und die Zeit läuft«, er sah Jackie an. »Also Besprechung«, sagte Stanley. »Gene, hol die Liste.«
Die Liste lag neben dem CD-Player. Stanley las vor:
»Kleid für Jackie.
Stanleys Haare färben.
Lederhose für Stanley.
Lederweste für Stanley.«
Er sah auf.
»Aber was ist das Wichtigste?«, fragte er.
»Die Performance«, antwortete Jackie.
»Genau. Mit einer Scheißperformance kann man nicht gewinnen, und was wollen wir?«
»Gewinnen«, sagte Jackie.
Stanley ging auf und ab. Von einer Ecke des Zimmers zur anderen. Auf und ab. Das tat Stanley immer, wenn er wütend war. Das hatte er sich angewöhnt, damit er niemandem die Fresse polierte. Früher hatte Stanley ständig jemandem in die Fresse geschlagen. Jetzt lief er auf und ab. Ganz selten knallte er seine Faust gegen die Wand. Vorgestern hatte er die Wand verfehlt und das Fenster kaputt gemacht.
»Wie musst du sein?«, fragte Stanley.
»Anmutig und begehrenswert.«
»Lauter. Wie musst du sein?«
»Anmutig und begehrenswert.«
Auf und ab. Auf und ab.
»Und was müssen die Männer im Publikum wollen?«
»Mich.«
»Und wer bist du?«
»Die Frau aus dem Video.«
»Und was machst du jetzt?«
»Üben.«
»Und warum?«
»Damit wir gewinnen.«
Stanley blieb stehen. Er lächelte.
»Genau. Jackie, wir schaffen das. Wir haben nur noch ’n paar Tage.«
Sie rückten die Möbel zurück an ihren Platz. Stanley ließ sich aufs Sofa fallen.
»Gene, hol mir ’n Bier und mach die Kiste an. Ich muss jetzt ein bisschen entspannen.«
Jackie sah durch das kaputte Fenster, der Soldat saß auf seinem Schaukelstuhl.
2
Rachel parkte den Wagen am Straßenrand. Ihre Haare, das T-Shirt, selbst ihre Haut stanken nach Frittierfett. Sie öffnete die Fenster. Heiße Luft drang herein.
Es war Sommer und die Klimaanlage kaputt. Aber sie wollte noch nicht nach Hause und allein in ihrem Bungalow sitzen.
Rachel weinte. Sie holte ihr Telefon aus der Tasche.
Anrufen. Jordan Slater.
»Diese Nummer ist nicht vergeben. Überprüfen Sie die Nummer oder rufen Sie die Auskunft an.«
Neun Mal hörte sich Rachel die Ansage an.
Dann tippte sie auf den Foto-Ordner.
Alben. J.S.
324 Bilder. Fotos, die sie im Internet gefunden hatte.
J.S. Jordan Slater.
Als er sich an den Tresen gesetzt hatte, war er ein unbekannter Schauspieler gewesen, der auf seinen Durchbruch hoffte, so wie gefühlt jeder Zweite in Los Angeles.
Es war Dienstag, die Bar fast leer. Er bestellte Gin und fragte sie nach ihrem Namen. So fing es an. Die drei anderen Gäste zahlten bald. Nur Rachel und Jordan blieben.
»Ich bin nach Los Angeles gezogen, weil ich am Meer leben wollte«, hatte sie gesagt und gelacht. »Ich wohne in Downtown, das Meer ist weit weg.«
Beinahe hätte sie ihm erzählt, dass sie sich einsam fühlte, aber Einsamkeit war nicht attraktiv.
Und dann hatte er gesagt: »Manchmal fühle ich mich verdammt einsam hier.«
»Ich auch.«
Sie hatten einander angesehen, als hätten sie schon lange nach dem anderen gesucht und ihn endlich gefunden.
Um Mitternacht half er Rachel, die Bar zu schließen.
Hand in Hand gingen sie zu ihrem Auto. Hand in Hand betraten sie Rachels Wohnung.
»Morgen fahren wir ans Meer«, hatte Jordan gesagt und seine Telefonnummer auf einen Zettel gekritzelt, noch bevor sie ins Bett gingen.
Sie schliefen nicht miteinander, er war zu betrunken. Aber er hielt ihre Hand. Er atmete gleichmäßig, die Augen geschlossen. Rachel fühlte sich lebendig. Als sie aufwachte, war er weg. Die Luft im Zimmer stickig. Gin, Schweiß und der Atem zweier Menschen. Rachel sah auf die Uhr, es war kurz nach acht. Sie öffnete die Fenster. Auf dem Küchentisch lag der Zettel mit seiner Nummer.
»Das ist die Mailbox von Jordan Slater. Nachrichten nach dem Beep.«
Sie sagte nichts.
Dann schrieb sie:
Fahren wir ans Meer?
Rachel.
Sie wartete, trank Kaffee. Wartete, duschte, schminkte sich. Wartete, packte Handtuch und Badeanzug in eine Tasche. Wartete. Sie trank eine halbe Flasche Wein. Und dann wurde es dunkel. Und dann war es Nacht.
Rachel wartete drei Monate, sie schrieb 146 Textnachrichten, hinterließ 35 Sprachnachrichten und googelte seinen Namen Hunderte Male. Er hatte in zwölf Kurzfilmen, zwei Horrorfilmen und einem Musikvideo mitgespielt. Auf Youtube fand sie einen der Horrorfilme. Haus der Rache. Ein Mann lockt Studenten in sein Haus und quält sie zu Tode. Jordan Slater war das erste Opfer. Spike, ein Jurastudent. Sechs Minuten bis zu Spikes Tod. Ein einziges Mal hatte sich Rachel den ganzen Film angesehen. Denn in Horrorfilmen können Tote zurückkehren. Spike kehrte nicht zurück. Sechs Minuten Haus der Rache. Immer und immer wieder.
Jede Nacht, wenn Rachel allein in ihrem Bett lag, stellte sie sich ihr Wiedersehen vor. Sie würden einander gegenüberstehen und sich ansehen, als hätten sie lange nach dem anderen gesucht und ihn endlich wiedergefunden.
A Postcard From Vietnam – Sein Gesicht auf einer Plakatwand. Der Independent-Film wurde zum Box-Office-Erfolg und Jordan zum Publikumsliebling.
Rachel las jedes Jordan-Slater-Interview. Las, dass er und seine Freundin seit fünf Jahren zusammen waren, dass sie bald heiraten würden. Las, dass das Paar ein Haus in West Hollywood gekauft hatte.
Rachel trug ein weißes Kleid, als sie über die Sandsteinmauer kletterte.
Sie stand in seinem Garten, und er stand ihr gegenüber. Die Alarmanlage heulte.
»Ich bin’s, Rachel«, sagte sie. »Wann fahren wir ans Meer?«
Er sah sie an, so als ob es ihre Nacht nie gegeben hätte.
Wie das Foto in sämtlichen Magazinen gelandet war, wusste Rachel nicht.
Jordan Slaters Stalker (Rachel M.) verhaftet.
Zwei Polizisten und sie in dem weißen Kleid. Sie sah aus wie eine Verrückte.
Rachel packte ihre Sachen und fuhr 35000 Kilometer.
»Suchst du einen Job?«
Sie hatte den Aushang in dem Diner gelesen.
»Ja.«
Hier in Greensville, Virginia, erinnerte nichts an Los Angeles. Niemand kannte sie.
3
Greg hatte das Chihuahua-Hündchen in einem Müllcontainer gefunden. Eine braune Papiertüte mit der Aufschrift Lupe’s Tortillas klebte an seinem blutverkrusteten Fell.
Sechs Tage lang lag Lupe zusammengerollt auf Gregs Schoß und weigerte sich zu essen.
Greg hatte es mit Hundefutter, mit frittiertem Huhn, Hotdogs, Joghurt, Erdnüssen und Tacos versucht.
»Du wirst sterben, Lupe«, sagte Greg. »Vielleicht hätte