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GegenStandpunkt 2-20: Politische Vierteljahreszeitschrift
GegenStandpunkt 2-20: Politische Vierteljahreszeitschrift
GegenStandpunkt 2-20: Politische Vierteljahreszeitschrift
eBook374 Seiten4 Stunden

GegenStandpunkt 2-20: Politische Vierteljahreszeitschrift

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Über dieses E-Book

Das hatte niemand kommen sehen: Ein ziemlich ausländisches und ziemlich tödliches Virus breitet sich gegen jede marktwirtschaftliche Vernunft und gegen jedes Erfordernis der deutschen Konkurrenzposition am Standort D aus und veranlasst die Obrigkeit zu einem Shutdown. Der sorgt für einen Wirtschaftseinbruch, der alles übertrifft, was das an periodische Wirtschaftseinbrüche gewöhnte, insofern abgebrühte kollektive Gedächtnis aus den letzten 100 Jahren so gespeichert hat. Die öffentliche Meinung reagiert gespalten zwischen „Muss sein!“ und „Geht gar nicht!“.
Dieser Dissens lebt von einem durchs Virus offensichtlich nicht angekränkelten Konsens: Weil die seuchenpolitische Ausnahmesituation für die meisten ungemütlich, für viele unerträglich und für nicht wenige existenziell unaushaltbar ist, soll der seuchenfreie Normalzustand wieder her – unbedingt und so schnell, aber auch so endgültig wie möglich. Immun ist dieses Lob der Normalität gegen jeden Gedanken, dass die vermisste Normalität dafür sorgt, dass ein paar Wochen gedämpfter Betriebsamkeit zu einem ökonomischen Desaster werden. Obwohl bekannt ist, dass schon der Normalzustand mit seinen nun vermissten Freiheiten für die meisten vor allem in der Mühsal von werktätigem Gelderwerb und Geldeinteilen besteht.
Darum gibt es in GegenStandpunkt 2-20 erstens eine Artikelserie zur Pandemie, die entgegen der Propaganda gemeinsamer Betroffenheit von „Corona“ die Gegensätze, die Widersprüche und auch das unübersehbare Moment von Gewalt der politischen Seuchenbekämpfung erklärt: dass und wie die sich der Logik der kapitalistischen Normalität und ihrer über jeden Zweifel erhabenen Selbstverständlichkeiten verdanken; und dass und wie auch die Dummheit der verbreiteten anti-seuchenpolitischen Kritik sich halbwegs im Rahmen des demokratisch Üblichen bewegt.
Darum gibt es zweitens eine Artikelreihe über den Stand der Auseinandersetzungen, die die Gewerkschaften ganz ohne Krankheit & Krise offensichtlich immerzu gegen das Kapital führen müssen, damit ihre Leute im gewöhnlichen Getriebe überhaupt zurechtkommen mit Lohn und Leistung. Das gehört nämlich nicht zu den Selbstverständlichkeiten marktwirtschaftlicher Normalität, ist darum immerzu Gegenstand des Kampfes – und es ist darum umso verrückter, dass Deutschlands große Industriegewerkschaften den vom Standpunkt schwarz-rot-goldener Sozialpartnerschaft führen.
Dass sich an „Corona“ auch die Nationen der Welt gründlich scheiden, ist ebenfalls bekannt; und auch, dass das irgendwie damit zu tun hat, wie die sowieso dastehen. Im Artikel über die Ukraine wird erklärt, was die Karriere dieses Landes zum gigantischen ‚failed state‘ mit den Bemühungen zu tun hat, es zum kapitalistisch wirtschaftenden antirussischen Frontstaat zu machen – und warum die Folgen der Pandemie so katastrophal ausfallen, wie der Zustand des ganzen Landes längst ist.
Außerdem in GegenStandpunkt 2-20: Ein Artikel über Trumps imperialistische Friedenspolitik gegenüber dem altgedienten Feind Nordkorea, deren Fortschritte und Widersprüche beweisen, wie konsequent und seriös der schlecht beleumundete US-Präsident die Revision der eingerichteten imperialistischen Weltordnung betreibt; eine Kritik der obrigkeitlichen Belehrungen des deutschen Volkes darüber, warum sich fremdenfeindlicher Terror für ein gutes Volk nicht gehört; ein Brief an die – insbesondere grünen – Wähler in Österreich über die Fehler des Wählens und deren staatstragende Leistung; eine Korrespondenz zur Kritik der politischen Ökonomie des Grundeigentums.
SpracheDeutsch
HerausgeberGegenstandpunkt
Erscheinungsdatum19. Juni 2020
ISBN9783962214371
GegenStandpunkt 2-20: Politische Vierteljahreszeitschrift

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    Buchvorschau

    GegenStandpunkt 2-20 - GegenStandpunkt Verlag München

    Inhaltsverzeichnis

    Die deutsche Sozialpartnerschaft heute

    I. Arbeiterbewegung in nationaler Mission: Wie Deutschlands Industriegewerkschaften sich um den Geschäftserfolg der nationalen Unternehmerschaft kümmern

    1. Die Chemie-Runde: „Qualitative Fortschritte" für das Proletariat einer deutschen Edelindustrie – oder : Was sich mit dem Widerspruch von Zeit und Geld alles anstellen lässt

    Ein persönliches Zukunftskonto

    Eine tarifliche Pflegezusatzversicherung

    2. Die abgekürzte Metall-Runde in Zeiten der ‚Transformation‘: Einsatz für den Erhalt von Arbeitsplätzen, also für die Zukunft der Ausbeutung

    Das Angebot der IG Metall

    Die Antwort der Arbeitgeber: Ja, aber …

    II. Lufthansa gegen UFO: Wie Deutschlands mobiles Weltunternehmen Gewerkschaftstätigkeit unterdrückt

    1.

    2.

    3.

    III. Apropos Zalando – Drangsale und Fortschritte in Sachen Personalführung

    Korrespondenz zur Wohnungsfrage im Kapitalismus

    Zuschrift zu einer Veranstaltung

    Antwort der Redaktion

    Offener Brief an die Grün-Wähler in Österreich und alle anderen

    Enttäuscht

    Zufrieden bis begeistert

    PS an den großen Rest

    Stichwort: Verantwortung

    Von der Sittlichkeit der Macht zur fiktiven Zuständigkeit

    Verantwortung I: Tugend der Ausübung von Herrschaft

    Verantwortung II: Allerweltstugend

    Verantwortung III: Fiktive Zuständigkeit

    Und noch ein Fortschritt für „America first!" und die Welt

    Trump befreit Amerika vom Korea-Konflikt

    I. Trumps Update der amerikanischen Nordkorea-Strategie

    1. Trumps Kritik an 70 Jahren Feindschaft gegen Nordkorea: zu viel Respekt für den Gegner

    2. Trumps Korrektur: endlich Frieden per Deal zwischen Ungleichen

    Die Prämisse von Trumps Friedenspolitik: geklärte Rangordnung

    Der Inhalt der Friedensdiplomatie: unverhandelbare Angebote für einen Deal

    Die Rolle der traditionellen Rivalen und Alliierten für Trumps Frieden: keine

    II. Nordkoreas Antwort

    1. Kim entdeckt die Chance auf ein erfolgreiches Ende von 70 Jahren Behauptungskampf …

    2. … und ihren Haken

    3. Nordkoreas Umgang mit Trumps Deal-Making: Länger durchhalten

    Die Ukraine in den Zeiten von Corona

    Von Russland befreit, bis zum Ruin verwestlicht, von Krisen überrollt

    I. Der Schuldenstaat zwischen drohendem Default und Erpressung des IWF

    In der Krise schon vor der Corona-Krise

    Ein Erfolg der „Öffnung" und der Assoziierung mit der EU

    Die Corona-Krise

    Ein Haushalt ohne Geld

    Die Staatsgewalt in der Schuldenfalle

    II. Die Forderungen des IWF: Respekt vor den Regeln der Marktwirtschaft erzwingen!

    Die Landreform

    Die „Lex Kolomojskyj"

    III. Eigenheiten der ukrainischen Demokratie

    IV. Krieg und Frieden im Donbass

    Selenskyjs unglückliche Friedensliebe

    Die innere Front des Kriegs gegen den „Aggressorstaat"

    Das Leiden an Trump und den europäischen Schutzmächten

    Frühjahrsoffensiven an allen Fronten

    V. „Westernization" der ukrainischen Armee

    Zustand der Streitkräfte

    Die „Reform" der ukrainischen Armee: Ein großes Abbruchunternehmen unter Aufsicht der NATO

    Korruptionsbekämpfung im militärisch-industriellen Komplex: Noch ein großes Abbruchunternehmen und ein bisschen offizielle Industriespionage

    Strategische Aufgaben und militärische Ausstattung der Ukraine

    Was Deutschland bewegt

    Die Antwort auf den ausländerfeindlichen Terror in Hanau

    Zwei Präsidenten reden ihrem Volk ins Gewissen

    Steinmeier

    Schäuble

    Chronik der Corona-Pandemie

    FEBRUAR

    Pandemie I. + Migrantenflut = Doppelkrise:

    So war ‚Globalisierung‘ nicht gemeint!

    1.

    2.

    MÄRZ

    Pandemie II.

    Vom demokratischen Sinn einer Seuche

    Pandemie III.

    Die wirkliche Doppelkrise …

    1.

    2.

    3.

    … und was Deutschlands öffentliche Meinung oben und unten daraus macht

    Wortmeldungen aus dem Geist des patriotischen Internationalismus

    Ganz viel Zwischenmenschlichkeit

    Kritisches aus diversen Echokammern

    Frühling in Deutschland: Pandemie IV.

    Belastungsprobe

    1.

    2.

    3.

    APRIL

    Pandemie V.

    Exkurs zum Thema Volksgesundheit

    1.

    2.

    3.

    Frohe Ostern: Pandemie VI.

    Hinterher wird nichts mehr wie vorher sein – von wegen!

    1.

    2.

    3.

    a)

    b)

    Pandemie VII:

    Kredit und internationale Konkurrenz Mit Weltgeld gegen die „Corona-Krise"

    Die Disziplin der „Schwarzen Null"

    Der Nutzen der „Schwarzen Null" und sein Grund: Grenzenloser Kredit für die Macher eines Weltgelds

    Die Kumpanei der großen Weltgeldmacher

    Die Krankheit des „globalen Südens": Kein Geld!

    Corona-Bonds oder was? Europäische Solidarität in der „größten Krise seit 100 Jahren"

    Der Lockdown zieht sich in die Länge: Pandemie VIII.

    Klassenbewusstsein von rechts

    1.

    2.

    3.

    Pandemie IX: Die „Öffnungsdiskussionsorgie"

    Geschäft, Leben, Freiheit, Würde – schweres Geschütz gegen seuchenpolitische Vorsicht

    1.

    2.

    3.

    MAI

    Pandemie X: Von der Pandemie zum Pandämonium des Bösen

    Die Bürger und ihre ultimative Wahrheitsfrage – wer ist schuld an der ganzen Misere?!

    1. Vom breiten Spektrum des Wissens in einer demokratischen Wissensgesellschaft

    2. Vom beschränkten Wissensdurst selbstbewusster Bürger

    3. Vom enttäuschten Vertrauen in die politische Führung zur Entlarvung des Bösen, von dem das Volk in Wahrheit durchseucht wird

    PS

    Ein Nachtrag zu Pandemie V.

    Volksgesundheit und Kapitalismus

    Zu 1.

    Leserbrief 1: Corona – Volksgesundheit versus Geldverdienen

    Leserbrief 2: Schwierigkeiten mit ‚Pandemie V.‘

    Antwort der Redaktion

    Zu 2.

    Leserbrief 3

    Antwort der Redaktion

    Zu 3.

    Die deutsche Sozialpartnerschaft heute

    Das muss man in Deutschland glatt in Erinnerung bringen:

    Gewerkschaften gibt es, weil Lohnarbeit im System namens Marktwirtschaft eine ohnmächtig abhängige Existenzweise ist; abhängig von einem machtvollen, nämlich mit der Kommandomacht des Geldes versehenen Unternehmerinteresse an Hilfskräften für anspruchsvoll kalkulierten Geschäftserfolg, das dem Existenzinteresse der Abhängigen entgegensteht. Deren Notlage, die in der ewigen Sorge um den Arbeitsplatz dauernd präsent ist, nutzt das Unternehmen in einer Weise aus, die das Leben der lohnabhängigen Hilfskräfte umfassend, von Anfang bis Ende und bis ins Detail, bestimmt: als einen Widerspruch zwischen verdientem Geld, das nie wirklich langt, und freier Zeit, die auch nie langt.

    Gewerkschaft ist der Zusammenschluss von Betroffenen, die Rücksichtnahme auf ihre Interessen erstreiten, indem sie im Kollektiv den Spieß umdrehen und per angedrohter, notfalls mit wirklicher Arbeitsverweigerung die Abhängigkeit der Geschäftserfolge der Unternehmer von ihrer Dienstbereitschaft geltend machen. Ihre Schranken findet diese Gegenwehr nicht nur in der Notwendigkeit, wieder für Geld arbeiten zu müssen, die durch vorweg angesparte Streikgelder nur sehr kurzfristig außer Kraft zu setzen ist. Diese Notwendigkeit selbst wird gar nicht in Frage gestellt. Gewerkschaftliche Gegenwehr zielt auf Korrekturen an den Ergebnissen abhängiger Arbeit für die, die sie leisten, reproduziert also ihren Ausgangspunkt, ihre eigene Notwendigkeit.

    In Deutschland muss man das in Erinnerung bringen – wegen dem, wozu Deutschlands mächtigste Gewerkschaften diesen Widerspruch proletarischer Gegenwehr inzwischen fortentwickelt haben. Davon legen gerade die letzten Tarifrunden der Vor-Corona-Zeit Zeugnis ab.

    I. Arbeiterbewegung in nationaler Mission:

    Wie Deutschlands Industriegewerkschaften sich um den Geschäftserfolg der nationalen Unternehmerschaft kümmern

    1. Die Chemie-Runde: „Qualitative Fortschritte" für das Proletariat einer deutschen Edelindustrie – oder :

    Was sich mit dem Widerspruch von Zeit und Geld alles anstellen lässt

    Der unternehmerische Standpunkt, mit dem die Gewerkschaft sich dieses Jahr einmal mehr konfrontiert sieht: „Nullrunde". Mehr lässt der Gewinnausblick nun einmal nicht zu; der ist nach den unternehmerischen Fürsprechern im Handelsblatt nämlich „alles andere als rosig". Zu den Handelskonflikten auf dem Weltmarkt gesellt sich ein Nachfragerückgang aus der Industrie, vor allem aus der Autobranche; deren ‚Transformation‘, gerade erst in Gang gekommen, verspricht nachhaltige Unsicherheit für die Chemie-Bilanzen. Forderungen nach mehr Geld haben daher ihr Recht verloren; die bedeuteten ein noch größeres Minus in der Bilanz; Verbesserungen der Lage der Arbeitskräfte wären ein noch weiterer Abzug von dem, worauf es einem Unternehmen ankommt – und wovon auch die Arbeitskräfte selbst leben... Klar, so reden Unternehmen immer, erst recht, wenn Tarifverhandlungen anstehen. Sie übersetzen ihr Interesse in einen Sachzwang, der ihnen viel abverlangt; was sie ihren Dienstkräften an Opfern abverlangen, ist daher ein Gebot der Vernunft, alternativlos und unwidersprechlich. Das alles kann man den Arbeitgebern Deutschlands glauben oder auch nicht, auf die Überzeugungskraft solcher Rechtfertigungen kommt es ohnehin nicht an. Sie haben schließlich die Macht ihres Geldes und die abhängige Ohnmacht ihres Gegenübers auf ihrer Seite. Aber deswegen haben Chemiearbeiter ja auch eine Gewerkschaft.

    Die geht dieses Jahr – „einmal mehr neue Wege". Nämlich zunächst ganz ohne konkrete Lohnforderung und ohne bezifferte Laufzeit in die Tarifrunde. Die Abhängigkeit ihrer Mitglieder vom Gewinninteresse ihrer Arbeitgeber anerkennt sie so sehr, dass sie es nicht nur als maßgebliche Größe ihrer eigenen Forderungen übernimmt, sondern sich auch die Sprachregelungen zu eigen macht, mit denen es zu einer Sachlage verklärt wird, an der niemand, auch nicht die Kollektivmacht einer Gewerkschaft vorbeikommt. Auch die IG BCE schwafelt von einem enger gewordenen „tarifpolitischen Spielraum", von „wirtschaftlich herausfordernden Zeiten", und meint dabei nicht die Herausforderungen, die ihre Mitglieder in solchen Zeiten zu bewältigen haben, sondern die, für deren Bewältigung sie in Anspruch genommen werden: „Uns ist klar, dass die Branche nicht mehr so rosig dasteht wie vor einem Jahr." (Ralf Sikorski, IG BCE) Was an der Lohnfront herauskommt, ist danach: ein Abschluss, dessen Belastung für das Unternehmensbudget zur Zufriedenheit des Chemie-Arbeitgeberverbands BAVC „historisch sehr niedrig" ausfällt. Die Tarifpartner einigen sich auf eine rekordverdächtige Laufzeit von 29 Monaten mit einer Einmalzahlung und jährlichen Erhöhungen von 1,5 % in 2020 und 1,3 % in 2021, aller Erwartung nach also auf Reallohnverluste.

    Aber das ist keineswegs das letzte Wort in dieser Tarifrunde, sondern eher die Nebensache. Die IG BCE hat es dieses Jahr auf den Beweis angelegt, dass sich auch „in wirtschaftlich herausfordernden Zeiten tarifpolitische Innovationen für die Beschäftigten durchsetzen lassen". Sie „macht von Anfang an deutlich", dass ihr „qualitative Tarifforderungen ... besonders wichtig" sind. Und sie erzielt „tarifpolitische Innovationen" in zwei Angelegenheiten, die – so heißt es – den Beschäftigten viel mehr Sorgen bereiten als der Geldmangel: „Arbeitsverdichtung und Sicherheit im Alter".

    Ein persönliches Zukunftskonto

    Gegen die Arbeitsverdichtung, den beklagten Umstand, dass die „Belastung im Job seit Jahren wächst", wird ein ‚Zukunftskonto‘ geschaffen, das mit zusätzlichen freien Tagen zur individuellen Verfügung der Beschäftigten bestückt wird. Im ersten Jahr zwei, dann drei und schließlich im dritten Jahr fünf zusätzliche freie Tage im Jahr sollen die zunehmende Belastung verkraftbar und mehr Zeit für „die Familie oder pflegebedürftige Angehörige" ermöglichen.

    Die Gewerkschaft versieht diese Errungenschaft mit dem Motto: „Zeit ist das neue Geld". Den Unternehmen jedenfalls ist daran gar nichts neu. Sie praktizieren diese Gleichung schon immer – die beklagte Arbeitsverdichtung zeugt davon, die Arbeitszeitkonten mit ihren Millionen Überstunden auch. Sie können nicht lang genug arbeiten lassen und nicht genug Arbeit in jede dafür vorgesehene Stunde packen, sobald und sofern sich die Sache lohnt. Der Lohn ist für sie eine lohnende Kost – lohnend zu machen durch eine möglichst intensive Arbeitsleistung, die wiederum durch möglichst wenig Geld umso lohnender wird. Indem ein Unternehmen seine Gleichung von Zeit und Geld an seinen abhängigen Bediensteten vollstreckt, lässt es sie ihren Widerspruch zwischen Zeit und Geld, den Widerspruch ihrer Einkommensquelle spüren: Je mehr Zeit sie im Betrieb verbringen, desto mehr Zeit brauchen sie, um sich davon und dafür zu erholen; sie haben dann zwar mehr Geld, dafür aber weniger Zeit, mit ihm etwas anzufangen. Und umgekehrt: Je mehr Freizeit, desto weniger Geld, um mit ihr etwas anzufangen. Diesen Widerspruch müssen Lohnarbeiter bewältigen, sich in ihm entscheiden. Die Erfahrung lehrt: Die Entscheidung fällt in aller Regel nicht so aus, dass zwar das eine reicht, das andere aber nicht; es bleibt bei einer Abwägung zwischen zwei defizitären Posten. Und die Entscheidung selbst wird ihnen praktisch ohnehin großteils abgenommen; die Lohnarbeiter richten sich nach dem, was ihr Arbeitsplatz erfordert und hergibt, und sie schauen, wie sie damit zurechtkommen. Eines steht dabei jedenfalls fest: Den proletarischen Widerspruch zwischen Zeit und Geld bekommen sie definitiv nicht so zu spüren, dass ihr Bedarf nach mehr Geld mit ihrem Bedarf nach mehr Zeit irgendwie austauschbar, das eine durch das andere irgendwie zu ersetzen wäre.

    Ihre Gewerkschaft sieht das aber offenbar so. Und ihren Standpunkt einmal eingenommen, lässt sich bei der Bewältigung dieses Widerspruchs eine Menge Freiheit erobern: Das neue Zeitguthaben für einen aktuellen Bedarf nach Freizeit zu nutzen, ist nämlich nur die erste von insgesamt acht Optionen, die die ausgehandelte Regelung vorsieht. Die Beschäftigten können die freie Zeit auch auf einem Langzeitkonto parken – schließlich wird die weiter zunehmende Belastung im Job mit dem ebenfalls zunehmenden Alter nicht leichter auszuhalten. Wenn es gut läuft, verschafft eine sparsame Bewirtschaftung des Zeitkontos den Vielbelasteten sogar das Luxusgut einer Extraportion Zeit außer der Reihe. Man kann das Zeitguthaben auch für Weiterbildung benutzen – das ist sogar ziemlich notwendig, weil damit zu rechnen ist, dass der belastungsreiche Job nicht immer, nicht einmal sehr lange der ihre bleiben wird. Da tun sie gut daran, sich schon jetzt für die zukünftigen Ansprüche des Unternehmens an ihre Leistung zu qualifizieren. Welche, erfahren sie allerdings erst später – das haben sie also zwar nicht in der Hand, aber umso mehr Grund, aktuelle Zeit für die Chance auf zukünftiges Geld zu opfern. Mehr Geld, das sie nun in der Form von mehr Zeit haben, brauchen sie freilich auch noch. Beides können sie nicht haben, aber sie können sich auch entscheiden, ihre Zeit in mehr Geld rückzuverwandeln, es sich auszahlen zu lassen und ihre kostbaren freien Tage lieber im Betrieb zu verbringen, um mehr davon zu verdienen, da es jetzt schon nicht reicht. Das Geld können sie alternativ für die Altersvorsorge aufsparen – im Alter werden sie mal tatsächlich die Zeit haben; und wenn sie später auch das Geld haben wollen, um mit ihr etwas anzufangen, dann sollten sie sich die freie Zeit lieber nicht jetzt leisten. Vorsorge braucht natürlich auch die Gesundheit – die kostet schließlich auch Geld, und dass man die behält, ist gerade bei der dichter werdenden Arbeitszeit nicht ausgemacht. Bedacht sein will ja auch, dass die Belastung in eine Berufsunfähigkeit ausarten könnte, in der man dann gar nicht mehr Geld verdienen kann – noch so ein Wechselfall des Arbeitslebens, für den vorzusorgen ebenso vernünftig wie kostspielig ist. Zusammen mit der Vorsorge für den Pflegefall, von der noch die Rede sein wird, bieten die Alternativen des Zukunftskontos eine lockere Übersicht über den aktuellen Stand der verschiedenen Drangsale eines deutschen Edelproletariers. Verlangt ist von ihm die Auswahl einer Option zu Lasten aller anderen, also die Entscheidung, an welcher Front Entlastung am dringendsten ist. Und damit genau das, was die moderne Armut auch von Elitearbeitnehmern überhaupt ausmacht: das permanente Sich-Einteilen mit den beschränkten Ressourcen in Sachen Geld und Zeit.

    Welche der acht Optionen dem Beschäftigten überhaupt zur Auswahl stehen, entscheidet sich daran, welche Vorauswahl von „mindestens zwei Optionen" die Betriebsparteien treffen. Das hängt davon ab, ob die Optionen mit den aktuellen Notwendigkeiten des jeweiligen Unternehmens verträglich sind. Dessen Bedarfslage hat Vorrang vor den Kompensationsbedürfnissen der Beschäftigten, die die betriebliche Kalkulation mit ihrer Leistung und Entlohnung erzeugt. Das gilt insbesondere für die neue Währung ‚Zeit‘: „Voraussetzung für zusätzliche freie Tage ist, dass das betrieblich notwendige Arbeitsvolumen sichergestellt ist." Dieser Sicherstellungsbedarf der Arbeitgeber ist dann auch der Motor weiterer Fortschritte der Tarifparteien in Sachen Arbeitszeit: „Im Gegenzug können die Unternehmen individuell längere Arbeitszeiten vereinbaren", es wird „mobiles Arbeiten erleichtert", indem die vorgeschriebene Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen von elf auf neun Stunden verkürzt werden kann. Und wenn die Tarifparteien schon dabei sind, das für die Betriebe notwendige Arbeitsvolumen zu sichern, vereinbaren sie gleich noch, „die geltende Regelung für Altersfreizeiten zu überprüfen". Die sieht bislang noch eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit für Beschäftigte ab 57 und für Schichtarbeiter ab 55 um 2,5 resp. 3,5 Stunden vor und passt einfach nicht in die Zeit, i.e. zum Bedarf der Unternehmen nach Arbeit: „Aus Sicht der Arbeitgeber ist eine Neujustierung dringend geboten, da die Regelung aufgrund des demographischen Wandels zunehmend zu Engpässen führt." So gehört beides auf ewig zusammen: Die Fortschritte des arbeitshungrigen Regimes über Jung und Alt im Betrieb und die gewerkschaftlich errungenen Instrumente, um damit klarzukommen.

    Eine tarifliche Pflegezusatzversicherung

    Eine Sorge liegt der IG BCE unter der Rubrik „Sicherheit im Alter" besonders am Herzen: die Frage der Pflegebedürftigkeit. Kein Wunder: Ob es den Arbeitnehmer selbst oder seine Angehörigen trifft, das ‚Lebensrisiko Pflegebedürftigkeit‘ ist für Mitglieder der besonderen Spezies der Lohnabhängigen nicht privat zu bewältigen – so etwas gibt ein Lohn nicht her, der sich mit der Gewinnrechnung vertragen muss, für die er überhaupt gezahlt wird. Auch nicht mit Hilfe der gesetzlichen Pflegeversicherung, die einen Bestandteil desselben Lohns für die Bezahlung der fälligen Leistungen ein- und heranzieht; die hinterlässt vielmehr die berühmte ‚Pflegelücke‘. Deren Schließung durch eine zusätzliche private Versicherung verträgt der verbleibende Lohn auch nicht, siehe Ausgangspunkt. Und was den Fall zu pflegender Angehöriger betrifft – da scheidet in Zukunft die bislang übliche kostensparende Umgangsweise des Chemieproletariats immer eindeutiger aus:

    „In der Vergangenheit ist bei uns hier in Deutschland sehr viel über Familienpflege zu Hause gelaufen, das wird so nicht mehr überall funktionieren. Die Lebensentwürfe und die gesellschaftlichen Strukturen haben sich verändert." (Lutz Mühl vom BAVC)

    Der muss es wissen, repräsentiert er doch die Figuren, die die maßgeblichen „Strukturen" vorgeben: mit der Zahlung von Löhnen, von denen ein einziger kein Familieneinkommen abwirft, sodass der Lebensentwurf namens ‚Doppelverdienst‘ Familienpflege zu Hause unmöglich und die Pflegelücke der Angehörigen zum Problem macht. Dieser Unterfall proletarischer Armut ist anno 2020 gesellschaftliche Normalität.

    Die geht die Chemiegewerkschaft auf tatsächlich kreative Weise an: durch die Schaffung einer arbeitgeberfinanzierten Pflegezusatzversicherung inklusive der Option, auf eigene Kosten die Betroffenheit durch einen Pflegefall in der Verwandtschaft abzusichern. Da hat sich die kollektive Macht der gewerkschaftlich organisierten Chemiearbeiterschaft mal wirklich bewährt – zwar nicht als eine Macht in dem Sinne, die Rücksicht auf ihre Notwendigkeiten erzwingt, aber durch ihre kollektive Masse immerhin als eine respektable Geschäftsgelegenheit für Versicherungsunternehmen, was ihnen Konditionen beschert, die sie als Einzelne nie erreicht hätten: Den Individuen erspart die Kollektivlösung eine individuelle Gesundheitsprüfung, die womöglich den Zugang zu einer Versicherung ganz versperrt hätte. Und bei der Vielzahl von Versicherten, die ganz ohne Vermittlungsgebühr dem privaten Versicherungsgeschäft zugeführt werden, lässt sich mit geringem finanziellen Aufwand von monatlich 33,65 Euro immerhin eine Versicherungsleistung von 300 Euro im Falle ambulanter und 1000 Euro bei stationärer Pflege abdecken. Behoben ist das Problem damit zwar auch nicht, aber dafür gibt es ja die Möglichkeit, den Zukunftsbetrag zur Aufstockung zu verwenden.

    So innovativ, nämlich als Lückenbüßer des Sozialstaats und als Organisator einer attraktiven Kundenmasse für die Versicherungsindustrie, bewährt sich die Chemiegewerkschaft als Vertretung des Chemieproletariats. Und sie hat dafür sogar ihren Tarifpartner gewonnen, den die Schwierigkeiten bei der Einteilung des Lohns, den er seinen Arbeitern zahlt, in der Regel nichts angehen: Er zahlt Löhne, okkupiert Arbeitszeit und Kaufkraft, beteiligt sich aber nicht am privaten Zurechtkommen mit alledem:

    „Intern war beim BAVC lange umstritten, warum Arbeitgeber sich überhaupt um dieses Thema kümmern sollen. Am Ende setzte sich aber die Ansicht durch, dass man als Tarifpartner so gesellschaftliche Verantwortung übernehmen kann." (Handelsblatt, 22.11.19)

    Bei den Arbeitgebern hat sich offenbar die Ansicht durchgesetzt, dass sie selbst ein Problem mit dem Pflegerisiko haben, zu dem sie mit ihren Leistungsansprüchen und ihrer Bezahlpraxis einen stattlichen Beitrag leisten – ein Problem, das sich auf die Art gut, nämlich kostengünstig angehen lässt: Wenn die Bewältigung der ganz privaten Notwendigkeiten ihrer Beschäftigten mit knappen Mitteln und knapper Zeit auf Kosten ihrer Verfügbarkeit als Arbeitskräfte zu gehen droht, dann sichern sie sich ihre Verfügung über „Menschen im arbeitsfähigen Alter". Das betrifft einerseits ganz direkt die Menschen, die sie „als Fachkräfte in den Unternehmen" angestellt haben und die dank der rechtzeitig gezogenen Familien-Aufstockungs-Option ihrer tariflichen Pflegezusatzversicherung möglichst auch im Falle pflegebedürftiger Angehöriger weiterarbeiten können sollen. Andererseits und überhaupt sichern sie in Zeiten eines allgemeinen Fachkräftemangels mit einem weiteren sozialen Baustein den Arbeitskräftenachschub der Branche in Konkurrenz zu anderen Arbeitgebern: „Genau wie die Altersvorsorge, genau wie sehr gute Möglichkeiten zur Weiterbildung oder die hervorragende Bezahlung in unserer Branche kann auch eine betriebliche oder tarifliche Pflegeversicherung ein positives Argument zur Gewinnung von Fachkräften sein."

    So sehen sie aus, die „tarifpolitischen Innovationen, mit denen wir die Arbeitsplätze in der Branche attraktiver machen wollen. Wir übernehmen gewissermaßen den Job der Arbeitgeber. Darüber sollten sie froh sein, anstatt zu klagen." (IG BCE-Chef Michael Vassiliadis, Tagesspiegel, 28.10.19)

    2. Die abgekürzte Metall-Runde in Zeiten der ‚Transformation‘:

    Einsatz für den Erhalt von Arbeitsplätzen, also für die Zukunft der Ausbeutung

    Die andere große Industriegewerkschaft Metall widmet sich ebenfalls herausfordernden Zeiten. Die bereiten den Metallarbeitern derzeit eine Existenzsorge der fundamentaleren Art, weil zur Existenz eines Lohnarbeiters auch das gehört: Zwar wird ihre Arbeit als Produktionsfaktor geschätzt, aber weil ihr Lebensunterhalt eine Kost darstellt, sind Unternehmen ständig damit befasst, sie zu reduzieren, im Idealfall ganz zu beseitigen. Dass sie zu diesem Zweck eine technische Revolution nach der anderen veranstalten, um mit der Steigerung der Produktivität der Arbeit jede Menge Arbeiter und damit deren Lebensunterhalt zu einem überflüssigen Posten in ihrer Bilanz zu machen – damit haben die deutschen Arbeitergenerationen gerade in dieser Branche reichlich Erfahrung gemacht.

    Diesmal wird die Revolution ‚Digitalisierung‘ getauft, die ‚E-Mobilität‘ gleichzeitig als Zukunft entdeckt. Da haben die Metallarbeiter es mit einer ambitionierten Geschäftsoffensive der vielen großen und kleinen Champions der deutschen Leitbranche zu tun – mit der automobilen Schlüsselindustrie vorneweg. Damit die Champions von heute auch auf den Geschäftsfeldern der Zukunft den Ton angeben, greifen sie zu Maßnahmen, für die es keine neuen Termini gebraucht hat: zur ‚Rationalisierung‘ ihrer Produktion durch Stellenabbau und Standortschließungen, also durch eine massenhafte, nach allgemeiner Auskunft allerdings noch im Anfangsstadium befindliche Überflüssigmachung von Arbeitern. Und damit sich niemand darüber täuscht, wie notwendig diese Geschäftsoffensive und ihre Konsequenzen für das Elektro- und Metallproletariat

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