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Die Flamme im Eis
Die Flamme im Eis
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eBook372 Seiten4 Stunden

Die Flamme im Eis

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Über dieses E-Book

Vier Mädchen, von der Königin erwählt.
Eine junge Waise mit einer seltenen Gabe.
Ein Schloss voll düsterer Geheimnisse.

Im Königreich Fehrenlund verfügt ein Teil der Bevölkerung über magische Kräfte. Die sogenannten Begabten kontrollieren je eins der vier Urelemente Feuer, Wasser, Erde und Luft. Alle zehn Jahre holt die Gütige Königin vier Mädchen zu sich ins Schloss, um mithilfe ihrer Gaben das Gleichgewicht im Reich zu wahren.

Als die Feuerbegabte Elea an ihrem sechzehnten Geburtstag ausgewählt wird, scheint die Zukunft ihrer Geschwister, um die sie sich seit dem Tod ihrer Eltern kümmert, endlich gesichert. Doch schon bald entdeckt Elea, dass sich im Schloss ein dunkles Geheimnis verbirgt, das nicht nur sie, sondern ganz Fehrenlund in Gefahr bringt.

Elea steht vor der Wahl: Schweigen und ihre Familie beschützen oder sich in einen Kampf stürzen, den sie unmöglich gewinnen kann …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum11. Nov. 2021
ISBN9783959916264
Die Flamme im Eis

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    Buchvorschau

    Die Flamme im Eis - Carina Schnell

    1

    An diesem bitterkalten letzten Abend im Jahr sahen die Sterne am Himmel aus wie goldene Taler auf einem nachtschwarzen Tuch. Elea stellte sich vor, wie sie die Münzen mit beiden Händen aufsammelte, wie diese auf dem Weg nach Hause in ihren Taschen klimpern würden. Fast spürte sie das glatt polierte Gold unter ihren Fingerspitzen.

    Ein Windstoß fuhr durch die schmale Gasse, stach ihr in die Wangen. Elea senkte den Blick und blinzelte ein paar Schneeflocken aus ihren Wimpern. Widerwillig wandte sie sich von den Sternen ab und dem kleinen Feuer zu, das sie in dieser eisigen Nacht mühevoll am Leben hielt.

    Fröstelnd zog sie sich ihren dünnen Lumpenmantel enger um die Schultern und betrachtete die Schwefelhölzer, die sie zu kleinen Bündeln verschnürt vor sich auf einem Schal ausgebreitet hatte. Obwohl es aus allen Schornsteinen Fehrenlunds rauchte, hatte sie heute nur wenige verkauft.

    Mit zitternden Fingern verschob Elea eins der kostbaren Holzbündel, um ihre Ware bestmöglich zu präsentieren. Doch all ihre Mühe war umsonst. Auf den verschneiten Straßen war niemand zu sehen. Die Leute blieben lieber zu Hause und feierten den Neujahrsabend mit ihren Familien. Nur in der Ferne entdeckte Elea einen einsamen Luftbegabten in der tintenblauen Uniform der Stadtreiniger. Mit einer beiläufigen Handbewegung erschuf er einen Windstoß und befreite damit den Gehsteig vom frisch gefallenen Schnee.

    Auf ihrem Rückweg durch die vereisten Straßen würde Elea durch Fenster in hell erleuchtete Wohnzimmer spähen, in denen die Eltern mit ihren Kindern zusammensaßen und ihnen Geschichten erzählten, wie es am Vorabend des neuen Jahres üblich war.

    Nicht in Eleas kleiner Hütte, wo der Wind durch die Ritzen der notdürftig zusammengezimmerten Bretter heulte und Elea sich mit ihren Geschwistern vor der Feuerstelle zusammendrängen musste, um sich zu wärmen. In ihrem Haus wurden nur selten Geschichten erzählt, seit ihre Mutter gestorben war. Und es wurde auch nicht mehr viel gelacht.

    Elea seufzte erneut. Es war schon spät, doch sie konnte nicht nach Hause gehen, ohne genug verkauft zu haben, um wenigstens eine Schale lauwarmen Eintopf bezahlen zu können. Die kleine Lua war krank und brauchte dringend etwas Warmes.

    Bei dem Gedanken an ihre Geschwister, die mit knurrenden Mägen auf sie warteten, wurde Eleas Herz schwer. Während sie überlegte, ob sie einpacken oder bleiben sollte, näherten sich schlurfende Schritte. Verwundert hob sie den Kopf. Männer und Frauen mit dreckiger Haut, löchrigen Schuhen und verfilztem Haar drängten sich an Eleas provisorischen Verkaufsstand vorbei. Sie sprachen durcheinander, gestikulierten aufgeregt. In der Mitte der Gruppe liefen mehrere junge Mädchen in Eleas Alter. Einige folgten den Erwachsenen erhobenen Hauptes, andere wehrten sich und wurden gegen ihren Willen mitgezogen. Elea konnte gerade noch den Schal mit den Schwefelhölzern zurückreißen, damit sie nicht zertrampelt wurden. Ein Mann beugte sich herab und hielt im Vorbeigehen einen Stock in ihr kleines Feuer, um ihn wie eine Fackel zu entzünden.

    »He!«, rief sie empört, doch er war schon weitergegangen. Mit zusammengezogenen Brauen blickte Elea der Prozession hinterher. Die Menschen trugen ebenso heruntergekommene Lumpen wie Elea. Manche waren sogar trotz der Kälte barfuß. Nicht einmal die grau in die Höhe ragenden Stadthäuser schützten sie vor dem beißenden Wind.

    Eleas Blick wanderte zum Schloss auf der Spitze des Grünen Bergs außerhalb der Stadt. Düster ragten die drei Türme in den Nachthimmel. In keinem der unzähligen Fenster brannte Licht. Trotzdem waren diese Leute ohne Zweifel dorthin unterwegs. Denn im Schloss lebte die Gütige Königin, wie die Herrscherin Fehrenlunds von ihrem Volk genannt wurde.

    Früher hatte sich die Gütige Königin immer am letzten Tag eines Jahres auf den Marktplatz begeben, um sich ihrem Volk zu zeigen und Köstlichkeiten an die Kinder zu verteilen. Alle zehn Jahre wählte sie dann vier begabte Mädchen aus, die sie am darauffolgenden Tag mit ins Schloss nahm. Diese jungen Frauen, gerade sechzehn Jahre alt, wurden zu ihren engsten Vertrauten. Die Familien wurden so reich für den Verlust ihrer Töchter belohnt, dass es ihnen ihr ganzes restliches Leben an nichts mangelte.

    Doch seit drei Jahren hatte niemand mehr die Königin gesehen. Die Tore zum Schloss waren an den letzten Neujahrsabenden verschlossen geblieben. Und mit der Abwesenheit der Monarchin hatte die Armut im einst wohlhabenden Fehrenlund Einzug gehalten.

    Elea konnte das zuckende Licht einiger Fackeln vor den Schlosstoren am Fuß des Berges erkennen. Sie glaubte, das Wehklagen der verzweifelten Menschen zu hören, die dort standen, um der Königin ihre Töchter anzubieten und reich belohnt zu werden. Doch vielleicht war es auch nur der Wind, der durch die engen Gassen heulte.

    Als Elea sich kopfschüttelnd vom Schloss abwandte, um nach ihrem Feuer zu sehen, wurde sie von ihrem Atem abgelenkt. Wie immer bei dieser Kälte, tanzte er beim Ausatmen als weiße Wolke vor ihrem Gesicht. Aber was war das?

    Wenn sie genau hinsah, konnte sie tanzende Figuren im wirbelnden Weiß ausmachen, die jedoch schnell verblassten. Hastig stieß Elea erneut die Luft aus. Da waren sie wieder. Fein gekleidete Herren, die Damen in weiten Reifröcken umherwirbelten, allesamt schneeweiß.

    Wie auf einem königlichen Ball, dachte Elea erstaunt. Zumindest glaubte sie, dass es so auf Bällen zuging, denn sie hatte einer solch vornehmen Feier nie selbst beigewohnt.

    Erneut stieß Elea die Luft aus, um ihre Frosttänzer in Bewegung zu bringen. Sie war derart fasziniert von dem kleinen Wunder, dass sich ein Lächeln auf ihr Gesicht stahl. Immer schneller wirbelten die Tanzenden umher, zu einer Melodie, die nur sie hören konnten.

    Da schlängelte sich eine Rauchfahne von Eleas Lagerfeuer durch die Szene im weißen Frost und trieb die Tanzenden auseinander. Wie so oft forderten die Flammen Eleas Aufmerksamkeit. Sie schenkte sie ihnen bereitwillig. Denn das Feuer war Eleas Freund, ihr alltäglicher, Trost spendender Begleiter und ihre Begabung. Es flüsterte ihr Geheimnisse zu und erheiterte sie mit Geschichten. Es hielt sie warm, und seine beste Eigenschaft war, dass es das ihr so verhasste Eis zum Schmelzen brachte. Das Feuer hatte sie noch nie im Stich gelassen. Anders als die Menschen in ihrem Leben.

    Gedankenverloren streckte Elea ihre vor Kälte steifen Hände aus. Die Flammen leckten an ihren Fingern, tanzten über ihre Haut, liebkosten sie, ohne sie zu verbrennen. Sofort wurde ihr wärmer.

    Elea starrte so gebannt in die Flammen, dass sie gar nicht bemerkte, wie sich aus dem Rauch, der von ihnen aufstieg, ebenfalls tanzende Figuren lösten. Es waren die Tänzer aus ihrem gefrorenen Atem. Die Herren beugten abermals die Knie, während die Damen graziös knicksten.

    Diesmal waren es keine kalten weißen Frostgestalten, die sich über Eleas Kopf drehten und wiegten, sondern rauchgraue. Vom Feuerschein angestrahlt, färbten sie sich mal gelb, mal orangerot.

    So vertieft war Elea in die Funken sprühende Glut, dass sie nicht einmal aufsah, als eine Kutsche vor ihr anhielt. Die Türen wurden geöffnet, die vergoldeten Stufen ausgezogen. Dann schob sich ein in einem juwelenbesetzten Schuh steckender Fuß über die Schwelle.

    2

    »Das ist wahrlich zauberhaft«, sagte eine melodiöse Frauenstimme.

    Elea erschrak, die Tänzer stoben auseinander. Sie riss den Kopf in die Höhe und blickte in nachtblaue Augen. Unwillkürlich kroch ihr ein Schauer über den Rücken. Dieses Gesicht hatte sie schon einmal gesehen. Die Gütige Königin!

    Die Monarchin Fehrenlunds musterte Elea so eindringlich wie vor zehn Jahren, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Mit ihrem perlenbesetzten Kleid war sie durch die Reihen der jubelnden Menschen auf dem großen Marktplatz geschritten. Kurz hatte sie vor Elea verharrt und sie mit ihren nachtblauen Augen gemustert. Damals war es Elea so vorgekommen, als sähe die Königin ihre geheimsten Träume und Wünsche, ihre Ängste und Sorgen. Doch nach einem Wimpernschlag hatte sie sich von Elea abgewandt und war weitergegangen. Noch heute verfolgte dieser durchdringende Blick Elea in ihren Träumen. Und nun stand die Königin abermals vor ihr.

    Verwirrt runzelte Elea die Stirn. Was hatte die Monarchin zu solch später Stunde in diesem Teil der Stadt verloren? Elea war so überrascht, dass sie die Königin unhöflich anstarrte, verloren in ihren Nachtaugen.

    Da trat ein hagerer, ganz in Schwarz gekleideter Mann heran. Er strafte Elea mit einem eisigen Blick. »Steh gefälligst auf und zolle der Königin deinen Respekt, Mädchen.«

    Eleas Wangen brannten. Sie stolperte auf die Füße, riss sich die Mütze vom Kopf und vollführte einen unbeholfenen Hofknicks.

    »Eure Majestät«, stammelte sie. »Verzeiht mir.«

    »Schon gut.« Die Königin lächelte freundlich. Ihr Blick blieb für einen Moment an Eleas zerzaustem Haar hängen und wanderte dann über ihr kleines Feuer zu der auf dem Gehsteig ausgebreiteten Ware. »Was verkaufst du Schönes?«

    Eleas Verwunderung wuchs. Warum interessierte sich die Königin für ihre Schwefelhölzer?

    »In Schwefel getränkte Kiefernhölzchen, Eure Majestät«, erklärte der hagere Diener an Eleas Stelle.

    »Das sehe ich, Anton«, antwortete die Königin kühl. »Aber ich habe die junge Frau gefragt.«

    Er entschuldigte sich und zog sich hastig zurück, ließ Elea jedoch nicht aus den Augen.

    »Die Schwefelhölzer stelle ich gemeinsam mit meinen Geschwistern her«, murmelte Elea schüchtern. »Seit dem Tod unserer Eltern verkaufe ich sie während des Frostmonds, damit wir über die Runden kommen. Im Sonnenmond basteln wir daraus kleine Holzspielzeuge für Kinder.«

    Erschrocken über ihre Redseligkeit biss sie sich auf die Lippe. Warum spürte sie diesen Drang, sich der Königin anzuvertrauen? Sicher interessierte sie sich nicht für Eleas Probleme.

    »Deine Eltern sind verstorben?«, fragte sie.

    Elea nickte verlegen. »Meine Mutter wurde uns im vergangenen Frostmond vom Schwarzen Husten genommen. Vater ist schon vor einigen Jahren bei einem Minenunfall ums Leben gekommen. Seitdem kümmere ich mich um meine kleinen Geschwister.«

    Die Herrscherin nickte. »Das tut mir leid.« Ein Schatten verdunkelte das Blau ihrer Augen wie Schneewolken den Nachthimmel. »Ich weiß, wie schlecht es um mein Volk steht. In letzter Zeit war ich … verhindert. Aber jetzt bin ich hier, um es wiedergutzumachen.«

    Plötzlich strahlten ihre Augen wieder, als wären die Sterne hinter den Wolken hervorgekommen.

    »Komm.« Sie reichte Elea ihre Hand, die in einem schneeweißen Wildlederhandschuh steckte. »Wir bringen dich nach Hause. Niemand sollte am Neujahrsabend allein sein.«

    Elea keuchte überrascht auf. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. Warum hatte sich die Königin in den letzten Jahren zurückgezogen? Warum hatte sie die Bewohner Fehrenlunds in der Not im Stich gelassen? Und warum kam sie ausgerechnet heute von ihrem Berg herunter und sprach mit einer einfachen Schwefelholzverkäuferin, statt sich ihrem Volk zu zeigen? Elea traute sich jedoch nicht, diese Fragen auszusprechen. Zögernd betrachtete sie die ausgestreckte Hand. Ihre Eltern hatten ihr eingeschärft, nie mit Fremden mitzugehen. Aber diese Frau war schließlich die Königin von Fehrenlund.

    »In meiner Kutsche wartet eine Tasse heiße Schokolade auf dich.« Die Königin zwinkerte ihr zu, als ahnte sie etwas von Eleas innerem Zwiespalt. »Du siehst aus, als hättest du etwas Warmes dringend nötig.«

    Elea konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Schokolade gekostet hatte. Sie schluckte und leckte sich über die Lippen. Fast schon konnte sie die bittere Süße auf der Zunge schmecken, spüren, wie die warme Flüssigkeit ihre Kehle hinabrann. Außerdem wollte sie nicht unhöflich sein. Also nickte sie entschlossen und ergriff die ausgestreckte Hand der Königin.

    »Wie heißt du, Mädchen mit den Schwefelhölzern?«, fragte diese freundlich.

    »Elea.«

    »Ein schöner Name. Ich heiße Liandra.« Sie schüttelte Eleas Hand, als wären sie zwei ganz normale Frauen, die sich auf der Straße begegnet waren. Bis dahin hatte Elea den Namen der Gütigen Königin nicht gekannt. Während sie ihr folgte, wiederholte sie ihn ehrfürchtig in Gedanken.

    Liandra geleitete sie zu der Kutsche mit goldbeschlagenen Rädern, deren Inneres so groß wie Eleas Wohnzimmer sein musste. Als Elea sich noch einmal zu ihrem Feuer und den Schwefelhölzern umdrehte, drückte die Königin aufmunternd ihren Arm.

    »Sorge dich nicht. Mein Diener wird sich um deine Waren kümmern.«

    Anton trat heran und wickelte die Schwefelhölzer in den Schal, auf dem sie gelegen hatten. Augenblicklich verspürte Elea den Drang, ihn von ihrer Ware wegzuzerren. Sie wollte nicht, dass dieser griesgrämige Alte etwas anrührte, das sie und ihre Geschwister so viel Mühe gekostet hatte. Als er ihr kleines Feuer austrat, zuckte Elea zusammen. Die letzte Flamme verrauchte mit einem leisen Seufzen, ein letztes tanzendes Paar stieg auf rauchigen Schwingen in den Nachthimmel auf. Daraufhin legte sich eisige Dunkelheit über die Straße. Ohne Eleas geliebtes Feuer kroch die verhasste Kälte des Frostmonds tief in ihre Knochen. Elea ignorierte das unheilvolle Prickeln auf der Haut, nahm ihren Mut zusammen und kletterte hinter der Königin in die Kutsche.

    Beim Einsteigen spiegelte sich Eleas Gesicht im Fenster der Kutschentür und sie hielt einen Moment inne. Ihr fuchsrotes Haar war zerzaust, die Kleidung schäbig und ein Rußstreifen zog sich über die Sommersprossen auf ihrer rechten Wange. Unbehaglich rieb sie sich über das Gesicht. Sie gehörte nicht in diese prunkvolle Kutsche, hatte nichts an der Seite der Königin von Fehrenlund verloren. Doch Liandra wollte sie lediglich nach Hause bringen und nicht auf einen Ball mitnehmen.

    Elea schloss die Augen, vertrieb das Spiegelbild des armen, verdreckten Mädchens aus ihren Gedanken und setzte sich neben die Gütige Königin auf die weichen Damastkissen.

    3

    Nachdem Elea dem Diener auf dem Kutschbock ihre Adresse genannt hatte, setzte sich die Kutsche sanft schaukelnd in Bewegung.

    Im Inneren war es angenehm warm und es stand tatsächlich eine reich verzierte Porzellankanne auf einem Stövchen bereit. Königin Liandra, die Elea gegenübersaß, füllte zwei Tassen mit der dampfenden Flüssigkeit und reichte ihr eine davon. Wie ist es möglich, dass das Getränk beim Geschaukel der Kutsche nicht überschwappt?, fragte sich Elea, doch da stieg ihr auch schon der herbe Duft in die Nase. Ihr leerer Magen zog sich zusammen, alle Fragen waren vergessen. Sie nahm einen großen Schluck, schloss einen Moment die Lider. Der Geschmack der bittersüßen Flüssigkeit kitzelte auf der Zunge und die Wärme breitete sich in ihrem Magen aus. Während sie sich bemühte, die Schokolade nicht in einem Zug auszutrinken und nach einer zweiten zu verlangen, musterte sie die Königin verstohlen.

    Liandra trug einen eleganten nachtblauen Mantel, der mit weißem Hermelinfell gesäumt war. Graziös zog sie ihre Handschuhe aus und legte sie auf ein Kissen, bevor sie nach der zweiten Tasse griff. Das Gesicht der Königin zog Elea in ihren Bann. Im Kontrast zu den weichen, beinahe jugendlichen Zügen standen die kleinen Fältchen um Augen und Mund. Das ebenholzschwarze Haar, das man ihr zu einer kunstvollen Frisur auf dem Kopf drapiert hatte, war von einigen grauen Strähnen durchzogen. Gekrönt wurde es von einem schmalen Silberdiadem.

    Es schien Elea unmöglich, das Alter der Königin zu schätzen. Ihr Leben lang war die Königin einfach da gewesen, eine nicht greifbare Person, die von ihrem fernen Schloss aus regierte. Ewig und alterslos.

    »Schmeckt dir die Schokolade?«, fragte Liandra.

    Elea senkte ertappt den Blick und nickte. »So etwas Köstliches habe ich lange nicht mehr getrunken. Zu Hause brühen wir manchmal ein paar Pfefferminzblätter oder Kamillenblüten auf, um Tee zu machen. An schlechten Tagen ist es das Einzige, was wir zu uns nehmen.«

    Erschrocken presste Elea die Lippen zusammen. Einmal mehr verwunderte sie ihre Redseligkeit gegenüber der Königin. In Liandras Gegenwart sprach sie, ohne nachzudenken. Allerdings schien es der Monarchin nichts auszumachen, denn sie nickte wissend und stellte ihre Tasse unangerührt zurück auf das Tablett.

    »Dann trink auch meine Schokolade«, forderte sie Elea auf.

    »Aber Eure Majestät, ich könnte nie …«

    Liandra schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »Elea, ich möchte, dass du begreifst, warum ich dich in meine Kutsche gebeten habe. Wenn du mein Angebot annimmst, wirst du sehr bald jeden Tag noch köstlichere Süßigkeiten naschen können. Du wirst leben wie eine Königin. Wie ich.«

    Elea verschluckte sich an ihrer Schokolade, hustete röchelnd. Ihre Wangen wurden heiß und sie entschuldigte sich kleinlaut, doch die Königin fuhr ungerührt fort.

    »Du scheinst eine aufgeweckte junge Frau zu sein, Elea. Ich möchte, dass du deine besondere Gabe nicht verschwendest, sondern unter meiner Anleitung weiterentwickelst und für einen guten Zweck einsetzt.«

    Eleas Kopf schwirrte von all den neuen Informationen. Die Wände der Kutsche rückten plötzlich unangenehm auf sie zu. Ihre Gabe, das Feuer, hatte sie von Kindesbeinen an begleitet, doch das war nichts Ungewöhnliches. Im Königreich Fehrenlund, vor allem in der gleichnamigen Hauptstadt, gab es unzählige Begabte, die je eins der vier Elemente beherrschten. Die meisten davon waren um einiges mächtiger als Elea. Sie hatte nie die Mittel gehabt, die prestigeträchtige Akademie zu besuchen, um ihre Fähigkeiten zu trainieren und einen der vielen Berufe für Begabte zu erlernen. Nun wurde ihr schwindelig, als sie endlich begriff, was Liandra ihr anbot. Schließlich war es der letzte Abend des Jahres und sie saß in der königlichen Kutsche …

    Mit einem lauten Klirren stellte sie ihre Tasse auf das Tablett. »Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr mich als eine Eurer Begabten ausgewählt habt?«, krächzte sie heiser.

    Liandra nickte lächelnd. »Ich habe schon drei. Du bist die letzte.«

    Elea vergrub ihre Finger in den weichen Kissen, da sie plötzlich jeglichen Halt verlor. »Aber ich bin noch nicht sechzehn. Mein Geburtstag ist erst morgen.«

    Elea hatte sich oft gewünscht, von der Königin erwählt zu werden, doch stets war ihr Traum von der Tatsache zerstört worden, dass sie einen Tag zu jung sein würde, wenn ihre Zeit käme. Erst in zehn Jahren würde Liandra vier weitere Mädchen in ihr Schloss holen, und dann wäre Elea zu alt. Sie hatte sich längst damit abgefunden, nie in den Genuss des Hoflebens zu kommen.

    Irgendetwas lief hier gewaltig schief. Die Zeremonie zur Auswahl der vier Begabten fand sonst immer auf dem Marktplatz in aller Öffentlichkeit statt. Doch die letzte Zeremonie vor drei Jahren hatte die Königin verpasst. Wie kam es, dass Elea nun in der königlichen Kutsche saß? Dass Liandra bereits andere Mädchen ausgewählt hatte? Waren sie womöglich schon auf dem Weg zum Schloss?

    Eleas Herz raste. Sie fühlte sich wie ein Kaninchen, das in eine Falle getappt war. Würde Liandra ein Nein akzeptieren? Konnte Elea, wenn nötig, aus der fahrenden Kutsche springen? Dabei würde sie sich bestimmt alle Knochen brechen.

    Da beugte sich die Königin vor und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Augenblicklich verlangsamte sich Eleas Herzschlag.

    »Beruhige dich erst einmal. Wie versprochen, bringen wir dich nach Hause, wo du dich von deiner Familie verabschieden kannst. Ich werde dich nicht gegen deinen Willen entführen.«

    Verabschieden. Das Wort hallte dumpf in Eleas Ohren nach. Was sollte sie ihren Geschwistern sagen? Was würden sie ohne sie tun? Ihr wurde übel bei der Vorstellung, wie sie den Kleinen beibringen sollte, dass sie für zehn Jahre fortgehen würde. Aber hatte sie eine Wahl? Schließlich war es ihre Pflicht, für ihre Familie zu sorgen.

    »Deinen Lieben wird es nie wieder an etwas mangeln. Du hast mein Wort.« Abermals war es, als spürte die Königin ihren inneren Aufruhr.

    Elea wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie konnte nicht klar denken, während ihr ganzes Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Sie müsste sich geehrt fühlen, von der Königin auserwählt worden zu sein, doch es gefiel ihr nicht, dass Liandra sie unter einem Vorwand in die Kutsche gelockt hatte. Dies war keine Entscheidung, die man leichtfertig traf. Elea musste dringend ihre umherwirbelnden Gedanken ordnen und mit ihren Geschwistern sprechen.

    Die Kutsche wurde langsamer und ein Blick aus dem Fenster sagte Elea, dass sie ins Armenviertel am Rande der Stadt eingebogen waren. Davon zeugten auch die Schlaglöcher in der Straße, von denen sie nun durchgeschüttelt wurden, während die heiße Schokolade davon auf wundersame Weise unberührt blieb.

    Elea blieb nicht mehr viel Zeit.

    »Was ist das für eine besondere Gabe, von der Ihr sprecht?«, fragte sie mit zittriger Stimme. »Nach welchen Kriterien wählt ihr die Begabten aus?«

    »Das wirst du noch früh genug herausfinden.« Liandras Augen funkelten. »Ich kann dir nur sagen, dass sich dein Leben für immer verändern wird. Zum Guten.«

    Verständnislos zog Elea die Brauen zusammen.

    »Du hast die einmalige Chance, deine Familie zu retten, ihnen das Leben zu geben, wovon sie nie zu träumen gewagt haben. Vergiss das nicht.«

    Elea war nicht entgangen, dass Liandra ihrer Frage ausgewichen war. Es sah nicht so aus, als würde sie ihr an diesem Abend mehr verraten. Sie schwieg, bis die Kutsche vor ihrem Haus zum Stehen gekommen war. Die Königin ließ ihren stechenden Blick keine Sekunde von ihr.

    »Du hast eine Nacht Zeit, deine Entscheidung zu treffen«, erklärte sie, als der Diener Elea die Tür öffnete. »Die Schlosstore werden bis morgen Mittag für dich offen stehen. Kommst du zu spät, werden sie dir für immer verschlossen bleiben.«

    Elea hielt ihrem Blick eine Weile stand. Dann nickte sie und kletterte wortlos aus der Kutsche. Der Geruch nach frischem Schnee hing in der Luft, legte sich kalt und schwer über Elea und drohte, sie zu ersticken. Um ihr Gleichgewicht bemüht blieb sie auf dem vereisten Gehweg stehen, drehte sich zu Liandra um und knickste. »Ich danke Euch für das Angebot, Eure Majestät.«

    Die Königin lächelte wie eine zufriedene Katze, die gerade eine Maus verspeist hatte. Etwas an diesem Lächeln griff mit frostigen Fingern nach Eleas Herz und sie schauderte. Eilig wandte sie sich zu ihrem windschiefen Häuschen um.

    In diesem Teil der Stadt gab es keine Straßenlaternen. Die schäbigen Hütten drängten sich aneinander, als versuchten sie, sich gegenseitig zu wärmen. Aus Eleas bescheidenem Heim fiel ein schwacher Feuerschein durchs Fenster in den verwilderten Vorgarten. Beim Gedanken daran, wie sich ihre Geschwister drinnen vor dem Feuer aneinanderkuschelten und auf sie warteten, wurde Elea schwer ums Herz. Wenn sie die Tür öffnete, würden Lua und Benni aufspringen und freudig zu ihr laufen, um sie zu begrüßen. Die ältere Igrid würde die beiden ermahnen, Elea erst einmal Zeit zu geben, ihren Mantel auszuziehen. Ihr Bruder Kian hätte bereits Wasser in dem alten Kessel über dem Feuer aufgesetzt. Bis vor einer Stunde hatte Elea geglaubt, dass sie ihnen dann traurig erzählen würde, dass sie nur wenig verkauft und ihnen nichts zu essen mitgebracht hatte. Doch nun hatte sie ganz andere Neuigkeiten, die ihrer aller Leben für immer verändern würden.

    Der griesgrämige Diener schlurfte auf sie zu. Er reichte ihr einen mit einem roten Tuch abgedeckten Korb. Als Elea nach ihren Schwefelhölzern fragte, lachte er. »Die brauchst du nicht mehr.« Er warf den Schal mit den Hölzern vor ihr in den Schnee.

    Elea funkelte ihn wütend an, während er kehrtmachte und auf den Kutschbock sprang. Sie hob den Schal auf, machte sich aber nicht die Mühe, die herausgefallenen Hölzchen einzusammeln. Nasse Schwefelhölzer waren nutzlos.

    Vor der Tür sah sie noch einmal über ihre Schulter zurück. Hinter den Fensterscheiben blitzten Liandras Augen ein letztes Mal im Mondlicht auf, bevor die Kutsche in der Nacht verschwand.

    4

    Als Elea die knarzende Haustür öffnete, standen Lua, Benni, Kian und Igrid allesamt am Fenster und starrten der sich entfernenden Kutsche hinterher.

    Die Flammen der Kerzenstümpfe auf den Fensterbrettern flackerten im Zugwind. Die einzige andere Lichtquelle im Raum kam von der Glut in der rußgeschwärzten Feuerstelle. Darüber hing ein zerbeulter Kessel, von dem ein schwacher Pfefferminzgeruch ausging. Sie hatten also geahnt, dass Elea mit leeren Händen nach Hause kommen würde.

    Elea stellte den Korb mit einem lauten Rums auf den klapprigen Dielen ab und vier Köpfe ruckten zu ihr herum. Ihre Geschwister blickten für einen Sekundenbruchteil zwischen Elea, dem prall gefüllten Korb und der davonfahrenden Kutsche hin und her – dann begann der Fragensturm.

    »Was war das für eine Kutsche?«

    »Wer war der unfreundliche alte Kerl?«

    »Was ist in dem Korb?«

    »Was hat das alles zu bedeuten?«

    Im allgemeinen Chaos huschte Lua unbemerkt zu dem Korb, fiel davor auf die Knie und hatte den Inhalt auf dem Fußboden ausgekippt, bevor jemand reagieren konnte.

    »Ellie«, quietschte sie, mit sich vor Vergnügen überschlagender Stimme. »Du hast Rosinenbrötchen mitgebracht!«

    »Und Zuckerstangen«, rief Benni, der Jüngste, während er sich mit Lua durch die Köstlichkeiten auf dem Boden wühlte.

    Elea wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nur, dass sie ihren Geschwistern gleich das Herz brechen würde. Die Freude auf den Gesichtern der Kleinen stand in starkem Kontrast zu ihren eigenen Gefühlen.

    Brodelnd bahnte sich die Anspannung, die während der Kutschfahrt Besitz von ihr ergriffen hatte, einen Weg an die Oberfläche. Sie entlud sich in einem hysterischen Lachen. »Ihr werdet nicht glauben, was mir passiert ist.«

    Eine erwartungsvolle Stille setzte ein. Doch anstatt zu erzählen, zog Elea nur hilflos die Schultern hoch. Sie war noch nicht bereit.

    »Nun komm erst mal rein«, sagte Igrid. »Es wird kalt hier drin.« Sie gab Elea einen flüchtigen Begrüßungskuss auf die Wange und schloss die Haustür.

    Alle halfen dabei, den Inhalt des königlichen Korbs wieder einzusammeln, bevor sie sich auf dem Boden vor der Feuerstelle niederließen. Dort kamen sie immer zusammen, wenn sie etwas Wichtiges zu besprechen hatten.

    Kian verteilte seine selbst geschnitzten Holzteller und -becher und

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