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Umgekehrter Totalitarismus: Faktische Machtverhälnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld
Umgekehrter Totalitarismus: Faktische Machtverhälnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld
Umgekehrter Totalitarismus: Faktische Machtverhälnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld
eBook726 Seiten31 Stunden

Umgekehrter Totalitarismus: Faktische Machtverhälnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld

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Über dieses E-Book

Ende des 20. Jahrhunderts sehen wir uns vermehrt neuen, postdemokratischen Regierungstechniken ausgesetzt, die Elemente der liberalen Demokratie mit denen totalitärer politischer Systeme verbinden. Das Streben nach Superpower und das Management von Demokratie haben zu diesem "umgekehrten" Totalitarismus geführt, so Sheldon S. Wolin. Den zentralen Unterschied zum klassischen Totalitarismus sieht er darin, dass diese postmoderne Form totaler Herrschaft auf eine weitreichende Entpolitisierung der Bevölkerung und auf weichere, kaum wahrnehmbare Unterdrückungsmechanismen setzt. Wer die zerstörerischen Auswirkungen dieser neuen Machtstrukturen auf unsere Demokratie erkennen und verstehen will, kommt an diesem Klassiker der politischen Philosophie nicht vorbei!
SpracheDeutsch
HerausgeberWestend Verlag
Erscheinungsdatum14. Feb. 2022
ISBN9783864898693
Umgekehrter Totalitarismus: Faktische Machtverhälnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Einführung von Rainer Mausfeld
Autor

Sheldon S. Wolin

Sheldon S. Wolin (1922—2015), Demokratietheoretiker und Politikwissenschaftler, lehrte politische Theorie am Oberlin College, an den Universitäten von Kalifornien, Berkeley, Santa Cruz und Los Angeles, der Princeton University, der Cornell University und der Oxford University. Zu seinen Schülerinnen zählte Judith Butler. Er war der Gründungsherausgeber des Journal of Democracy. Wolin schrieb in seiner politischen Theorie der Demokratie einen flüchtigen Charakter zu und betonte die zentrale Kraft lokaler Formen der politischen Beteiligung als Gegengewicht zu den totalisierenden Tendenzen staatlicher Macht.

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    Buchvorschau

    Umgekehrter Totalitarismus - Sheldon S. Wolin

    Sheldon Wolin und die Gegenwart der Vergangenheit. Demokratie, Kapitalismus, Totalitarismus und Herrschaft durch freiwillige Unterwerfung

    Eine Einführung in die deutschsprachige Ausgabe von Rainer Mausfeld

    Im Jahr 2008 veröffentlichte der große US-amerikanische politische Philosoph Sheldon Wolin (1922–2015) ein Buch mit dem leicht sperrigen, aber aussagekräftigen Titel Democracy Incorporated: Managed Democracy and the Specter of Inverted Totalitarianism; es liegt hier erstmals in deutscher Übersetzung vor. In Umgekehrter Totalitarismus wendet Wolin die Erträge und Einsichten einer mehr als sechs Jahrzehnte währenden Beschäftigung mit der Ideengeschichte der politischen Philosophie auf die drängendsten politischen Pro­bleme unserer Gegenwart an. Dabei bringt er zivilisatorische demokratische Errungenschaften in Erinnerung, die in einem langen und mühevollen kollektiven Prozess des politischen Denkens und Handelns errungen werden konnten, heute jedoch weitgehend verloren gegangen sind.

    Sheldon Wolin war ein Denker von außergewöhnlicher Gelehrsamkeit und Produktivität. Er verfügte über profunde Kenntnisse der gesamten Ideengeschichte der politischen Philosophie – von der Antike bis zur Gegenwart –, ihrer Kernprobleme und ihrer begrifflichen Probleme, Ambiguitäten und Konfliktlinien. Schon in den 1960er Jahren galt er in den USA als eine der führenden Autoritäten auf seinem Gebiet. Zugleich war er ein aufmerksamer und kritischer Beobachter der politischen Entwicklungen der Gegenwart. Sein zentrales Anliegen war es, den in vielen Jahrhunderten gewonnenen immensen Schatz an Ideen, Einsichten und begrifflichen Werkzeugen der politischen Philosophie für aktuelle Probleme fruchtbar zu machen. »Sheldon Wolin besaß die außergewöhnliche Fähigkeit, die politischen Theorien kanonischer Denker wiederzubeleben und eigene originelle, überzeugende Ideen auszuarbeiten, die es seinen Lesern ermöglichten, sich mit dringenden zeitgenössischen Problemen auseinanderzusetzen.« (Cane, 2020, S. 192)¹ Wolin holte die politische Philosophie aus dem akademischen Elfenbeinturm, stellte sie in einen Gesamtzusammenhang mit Gegenwartsproblemen und vitalisierte ihre tradierten und über die Jahrzehnte und Jahrhunderte zur Schablonenhaftigkeit gewordenen Denkkategorien. In seinen Arbeiten ging es ihm darum, Gegenmittel gegen den gezielt herbeigeführten kollektiven Gedächtnisverlust bereitzustellen, indem er geschichtliche Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Entwicklungslinien politischer Ideen aufzeigt und die große ursprüngliche Leitidee von Demokratie in Erinnerung bringt: »Radikale müssen die Erinnerung an die Vergangenheit pflegen, denn in der kapitalistischen Zivilisation […] ist die Erinnerung eine subversive Waffe.« (Wolin, 1981a, S. 4)

    Wolins Arbeiten sind dicht und facettenreich, sein Denken in stetem Fluss, erprobend und tastend auf Schattierungen und Ambiguitäten, auf Verbindungen und Differenzen gerichtet, abstrakt und zugleich an die konkrete Erfahrungswelt angebunden, seine Haltung radikal, also im Wortsinne an die Wurzeln der Probleme gehend. Seine Einsichten und Schlussfolgerungen stehen oft mit vertrauten und liebgewonnenen Vorurteilen in schroffem Widerspuch. Wolins Stil entspricht weniger dem systematischen Stil eines politischen Theoretikers als dem durch einen Sinn für Metaphern, Ambiguitäten und stilistische Subtilitäten gekennzeichneten Stil eines Literaturkritikers. Eine Lektüre von Wolins Arbeiten kommt nicht ohne gedankliche Anstrengung aus, doch fällt der Ertrag dafür umso reicher aus.

    Umgekehrter Totalitarismus, sein letztes Buch, hat Wolin in der Mitte seines neunten Lebensjahrzehntes verfasst. Seine Trauer über die zivilisatorischen Rückschritte der vergangenen Jahrzehnte und über die schwindenden Chancen von Demokratie angesichts der monströsen Verflechtungen von ökonomischen und politischen Strukturen im globalisierten Kapitalismus tritt darin besonders hervor. In seinen Positionen stellt es eine Art Quintessenz seines Schaffens dar. Themen, die Wolins gesamtes Werk durchziehen, werden in ihm noch einmal verdichtet. Seine Beschreibung und Analyse gegenwärtiger Machtverhältnisse werden im Ton schärfer und in der Sache detaillierter und konkreter. Mit seinem an der langen und reichen Tradition der politischen Philosophie geschulten Blick liefert er eine schonungslose Vivisektion unseres gegenwärtigen Gesellschaftssystems. Er seziert die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und legt die Kluft zwischen der politischen Rhetorik der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft und der Realität ihres politischen Handels offen. Da Wolin sich dabei überwiegend auf Vorgänge und Entwicklungen in den USA bezieht, könnten für eine deutsche Leserschaft Wolins Kernaussagen, die für liberale kapitalistische Demokratien allgemein gelten, in der Fülle des von ihm dargebotenen Materials verschüttgehen.

    Um solchen potenziellen Lesehindernissen entgegenzuwirken, möchte ich im Folgenden versuchen, eine knappe erläuternde Einführung in die Kernthemen des vorliegenden Buches zu geben. Dies versuche ich weitgehend in Wolins eigenen Worten, also in Form von Zitaten – die meisten davon, jeweils mit Seitenverweis, aus diesem Buch. In seinen Formulierungen kommt die Radikalität seines Denkens sehr viel deutlicher zum Ausdruck als durch resümierende Beschreibungen. Am Ende dieser Einführung werde ich zudem auf mögliche Einwände eingehen, dass Wolins Analysen heute nicht mehr aktuell seien oder für deutsche Verhältnisse keine Gültigkeit beanspruchen könnten, und aufzeigen, worum es heute mehr denn je lohnend ist, dieses Buch zu lesen und sich mit seinen Themen auseinanderzusetzen.

    Ausgangspunkt: Demokratie – Rhetorik und Realität

    Wolin benannte bereits 1981 als »die bedeutendste politische Tatsache des gegenwärtigen amerikanischen Lebens: die stetige Umwandlung Amerikas in eine antidemokratische Gesellschaft«. Im dem Eröffnungsleitartikel der von ihm gegründeten Zeitschrift Democracy: A Journal of Political Renewal and Radical Change schrieb er, dass alle wichtigen Institutionen Amerikas mittlerweile antidemokratisch seien: »Jede einzelne der wichtigsten Institutionen des Landes – Konzerne, Regierungsbürokratie, Gewerkschaften, Forschungs- und Bildungsinstitutionen, Massenpropaganda und Unterhaltungsmedien sowie das Gesundheits- und Wohlfahrtssystem – ist antidemokratisch in Geist, Design und Funktion. Jede ist hierarchisch strukturiert, autoritätsorientiert, prinzipiell gegen gleichberechtigte Teilhabe, der Bürgerschaft gegenüber nicht rechenschaftspflichtig, elitär und führungsorientiert und darauf ausgerichtet, immer mehr Macht in den Händen weniger zu konzentrieren und das politische Leben auf Verwaltung zu reduzieren.« (Wolin, 1981, S. 3)

    Ähnliche Entwicklungen wurden auch in Deutschland schon früh festgestellt und beklagt. So bemerkte Sebastian Haffner in seiner konkret-Rezension des Klassikers von Johannes Agnoli Die Transformation der Demokratie (1967): »Nominell leben wir in einer Demokratie. Das heißt: Das Volk regiert sich selbst. Tatsächlich hat, wie jeder weiß, das Volk nicht den geringsten Einfluss auf die Regierung, weder in der großen Politik noch auch nur in solchen administrativen Alltagsfragen wie Mehrwertsteuer und Fahrpreiserhöhungen. […] Das entmachtete Volk hat seine Entmachtung nicht nur hingenommen – es hat sie geradezu liebgewonnen.«

    Vor dem Hintergrund, dass sich die USA selbst als älteste Demokratie und als weltweiter Beförderer von Demokratie sehen, stellt Wolin die Frage, ob der Begriff »Demokratie« tatsächlich noch zur Beschreibung »unserer Politik und unseres politischen Systems« angemessen ist oder ob es sich bei der Verwendung dieses Begriffs lediglich »um eine zynische Geste« handele, »mit der eine zutiefst manipulative Politik getarnt werden soll« (S. 355). In seinem Buch Politics and Vision von 2004 findet sich bereits Wolins Antwort: »Die Tatsache, dass Demokratie auch weiterhin in der US-amerikanischen politischen Rhetorik und in den Massenmedien beschworen wird, ist sicherlich weniger ihrer politischen Leuchtkraft geschuldet, sondern vielmehr ihrer Nützlichkeit, einen Mythos aufrechtzuerhalten, der gerade diejenigen Machtformationen legitimiert, die die Demokratie unterminiert haben.« (Wolin, 2004, S. 601)

    Mit Zorn registriert Wolin die heuchlerische Mentalität der politischen und ökonomischen Eliten, die sich schamlos einer Demokratierhetorik bedienen, während ihre Mentalität tatsächlich von grenzenloser Demokratieverachtung und von tiefer Verantwortungslosigkeit geprägt sei. Ihre Mentalität sei »expansionistisch, opportunistisch und vor allem ausbeuterisch«, eine Mentalität, die alle nur erdenklichen Ressourcen, natürliche, menschliche, öffentliche, für ihre Interessen auszubeuten sucht: »Es ist nicht nur die Erdatmosphäre, die zerstört wird, oder der Mensch, der mit fünfzig ›ausgebrannt‹ ist. Auch öffentliche Einrichtungen werden verwüstet.« (S. 414 f.)

    Damit stellt sich für Wolin die Frage, welche Faktoren historisch dazu führen konnten, dass sich »eine Demokratie in ein nicht-demokratisches oder antidemokratisches System verwandelt« (S. 59) und dass von der großen zivilisatorischen Leitidee und der mit ihr verbundenen Hoffnung auf Sicherung des inneren Friedens und des Friedens zwischen den Völkern nur noch eine leere rhetorische Hülse geblieben ist: »Demokratie als Markenname für ein Produkt, das zu Hause kontrollierbar und im Ausland vermarktbar ist«. (S. 138)

    Bevor er sich einer Antwort nähert, beschreibt und analysiert Wolin zunächst die durch antidemokratische Transformationen entstandene gegenwärtige Form des Systems.

    Abstrakte totalisierende Macht I: »Supermacht« USA

    Wolin zufolge ist die Politik der USA vor allem durch zwei Dynamiken der Organisation von Macht gekennzeichnet, eine nach außen gerichtet, eine andere nach innen. Beide weisen in Zielen und Methoden charakteristische Merkmale auf. Sie streben auf eine Entgrenzung von Macht, innenpolitisch wie außenpolitisch. Wolin sieht sie daher als totalisierend an. Damit meint er, wie er im Vorwort schreibt, »dass sie besessen sind von Kontrolle, Expansion, Überlegenheit und Vorherrschaft«.

    Die nach außen gerichtete Entwicklungsdynamik des amerikanischen Imperialismus reicht, so Wolin, bis ins 19. Jahrhundert zurück. Doch erst durch den Kampf gegen den transnationalen Feind des »Kommunismus« während des Kalten Krieges haben die USA die Form einer »Supermacht« angenommen. Mit seiner Bezeichnung »Supermacht« sucht Wolin die imperialistischen Aktivitäten der USA zu fassen, mit denen die USA die Macht ihrer politischen und ökonomischen Eliten in einer Weise auszuweiten und zu stabilisieren suchen, die vor keiner imperialen Unterwerfung und vor keiner Ausplünderung wehrloser Staaten zurückschreckt. Im 21. Jahrhundert wird dann der US-amerikanische Expansionismus von einer neuen transnationalen Bedrohung angeheizt, dem »Terrorismus«. Mit dem globalen »Krieg gegen den Terrorismus« gehen zunehmend aggressivere hegemoniale Ansprüche einher. Diese hegemonialen Ansprüche finden, so Wolin, ihren Kulminationspunkt in der Bush-Doktrin, der zufolge die USA das Recht haben, nach eigenem Gutdünken Präventivkriege zu führen, das Völkerrecht zu brechen und Gewalt gegen Staaten anzuwenden, die sich ihrer Vorherrschaft zu widersetzen suchen. Der »Krieg gegen den Terror« wurde zum bevorzugten Herrschaftsinstrument der US-Regierungen für die Ausweitung ihrer Macht im Inland und im Ausland.

    Für Zwecke einer totalisierenden Entgrenzung von Macht eignen sich besonders solche imaginierten oder realen Feinde, die das »Charaktermerkmal der Gesichtslosigkeit« aufweisen und die jederzeit, wenn die Gesellschaft nicht wachsam genug sei, »Tod und Verderben – vor allem bei Anlässen, zu denen sich die Bürger versammeln«, bringen könnten (S. 150). Mit der Ausrufung eines Feindes, der überall und nirgends sein könne, gelingt es sehr wirksam, eine dauerhafte »Atmosphäre der Ungewissheit« zu erzeugen und »eine gewisse Urangst vor der Fragilität jedes alltäglich gelebten Augenblicks zu erwecken, sodass selbst noch die selbstverständlichsten Routinen in ein Gefühl der Unsicherheit getaucht werden« (S. 150 f.). Je diffuser und amorpher der Feind ist, den die Bevölkerung zu fürchten habe und gegen den der Staat wirksame Maßnahmen ergreifen müsse, umso leichter lassen sich durch die Furcht vor einem gefährlichen Feind die errungenen zivilisatorischen Mechanismen zu einer Einhegung von Macht untergraben oder gänzlich außer Kraft setzen, oft mit stillschweigender Zustimmung der Bevölkerung. »Macht wird nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich grenzenlos.« (S. 151) Im »Krieg gegen den Terror« haben, so Wolin, die USA gezeigt, dass selbst dann, wenn alle zentralen Elemente einer Demokratie formal vorhanden sind, eine auf grenzenlose Erweiterung ihrer Macht bedachte Exekutive eine gesellschaftliche Situation schaffen kann, die totalitäre Aspekte aufweist.

    Abstrakte totalisierende Macht II: Technokratische Herrschaft und »gelenkte Demokratie«

    Eine Entgrenzung von Macht nach außen verbindet sich zumeist mit einer Entgrenzung von Macht nach innen. Die zweite totalisierende Entwicklungsdynamik der Organisation der Macht richtet sich, so Wolin, nach innen. Sie zeigt sich in einer zunehmenden Verflechtung von Staatsmacht und transnationaler Unternehmensmacht und in einer extremen Konzentration von Macht in den Händen einer kleinen Elite. In diesem Prozess haben sich die politischen Entscheidungsstrukturen und die Staatsapparate weitgehend von der gesellschaftlichen Basis abgekoppelt und sich gegen demokratische Kontrolle und Rechenschaftspflicht abgeschottet. Exekutivapparate, Parteien, Parlamentsfraktionen, Medien und ökonomische Interessengruppen haben sich zu einer Organisationsform von Macht verschmolzen, die demokratischen Ideen zutiefst feindlich gegenübersteht. Die mächtigsten ökonomischen Akteure sind dabei über Verbände, Lobbygruppen, externe Beraterfirmen oder Denkfabriken (Think-Tanks) direkt in den staatlichen Apparat integriert.

    Durch diese totalisierenden Entwicklungen sind die Bürger zunehmend antidemokratischen Kräften ausgesetzt, die sich ihrer Kontrolle oder ihrem Verständnis entziehen. Dadurch sei die Wählerschaft »durch die Menge und Größe sozialer Probleme überwältigt und habe sich in politische Apathie und in die Massenunterhaltung zurückgezogen« (Wolin, 2004, S. 513). Dies wiederum ermöglicht politischen Eliten, auf technokratischem Wege in der Bevölkerung einen hohen Grad an Konformität und reglementiertem Verhalten zu erreichen. Durch die Instrumente, über die die Eliten des globalen Kapitalismus heute zur Erzeugung einer ideologischen Homogenisierung und einer sozialen Konformität verfügen, sind sie nach Wolins Auffassung übermächtig geworden. Die Macht der großen Medien in Verbindung mit Kulturindustrie, Universitäten und dem gesamten Ausbildungssektor ist so immens, dass sie in höchst wirksamer Weise individuelle Meinungen, politische Weltbildung und ganze Lebensstile formen und kontrollieren können.

    Mittlerweile seien »Konzerne und Staat untrennbar miteinander verbunden« und damit sei »›Privatisierung‹ zur Normalität und staatliches Handeln gegen die Wünsche der Konzerne zur Anomalie« geworden (S. 227). Das politische System sei angetrieben von »abstrakten totalisierenden Mächten« (S. 118). Im globalisierten Neoliberalismus hat die zunehmende Verflechtung von Staatsmacht und wirtschaftlicher Macht und die Entgrenzung von Macht ihre höchste und abstrakteste Stufe erreicht.

    Eine totalisierende Entgrenzung von Macht ist ihrem Wesen nach dem demokratischen Gedanken diametral entgegengesetzt. Folglich werde mittlerweile Demokratie nur noch als »gelenkte Demokratie« verstanden. Unter »gelenkter Demokratie« versteht Wolin eine politische Organisationsform, bei der Regierungen durch Wahlen legitimiert werden, die sie zu kontrollieren gelernt haben. In einer »gelenkten Demokratie«, für die die USA das »Paradebeispiel« (S. 122) darstellten, seien Wahlen zwar formal frei, das Volk habe aber tatsächlich nicht die Möglichkeit, die Politik und die Ziele des Staates zu ändern. Wahlen seien zu einer »komplexen Inszenierung umgestaltet« (S. 232) und durch Managementmethoden kontrolliert und weitgehend berechenbar gemacht worden. In einer »gelenkten Demokratie« kann die Bevölkerung in ihrem politischen Willen perfekt kontrolliert werden, ohne dass es den Anschein hat, sie würde unterdrückt. Wahlen seien in den USA bereits prozedural wesentlich durch Kapitalmacht bestimmt: »Unternehmensgeld kauft Kandidaten, finanziert Kampagnen, heuert Lobbyisten an und hält ein Heer von Experten, vor allem akademische, an langem Zaumzeug und an kurzen Leinen.« (Wolin, 2016, S. 375) Zudem würde bereits die Herstellung von Meinungen durch die Medien mithilfe ausgefeilter Techniken der »Kunst der Meinungsmache und der Manipulation« (S. 138) kontrolliert, sodass die Wähler so berechenbar gemacht worden seien wie Konsumenten (S. 123). »Dieses fortgeschrittene Stadium der Kunst der Meinungsmache und der Manipulation ist bezeichnend für die Kräfte, die das politische System prägen. Es kombiniert fortschrittliche Technologie, akademische Sozialwissenschaften, Regierungsaufträge und Unternehmenssubventionen.« (S. 138) Infolgedessen sind Wahlen in kapitalistischen Demokratien zwar formal, nicht jedoch psychologisch frei, weil Kapitalmacht bereits den Prozess der Meinungserzeugung höchst wirkungsvoll steuert. Ohnehin sind bei einer Wahl des Parlaments die de facto zur Verfügung stehenden Regierungsalternativen inhaltlich wie personell immer die Alternativen der herrschenden Eliten.

    Bei den nach innen gerichteten totalisierenden Entwicklungen gehe es stets darum, dass »dem Demos in einer Demokratie der Gebrauch von staatlicher Macht verwehrt werden soll« (S. 298). Die Politik habe sich weitestgehend von der gesellschaftlichen Basis gelöst und versuche, »die Bildung eines aktiven, partizipatorischen Demos zu verhindern – sie misstraut den Kundgebungen des Volkes und ist zutiefst antiegalitär« (S. 288). Wolin ist überzeugt, dass diese Entwicklungen, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen, sich mittlerweile strukturell verselbstständigt und zu einer überwältigenden Asymmetrie der Macht zwischen den ökonomischen Eliten und dem Rest der Bevölkerung geführt haben. Dies habe zur Folge, dass sie sich nicht mehr über demokratische Mechanismen rückgängig machen ließen. Demokratische Mechanismen seien bereits dadurch unwirksam gemacht, dass der öffentliche Meinungsraum durch monopolartige Konzernmedien dominiert und im Interesse einer Systemstabilisierung ideologisch extrem begrenzt wird. Für Wolin sind die Verschmelzung ökonomischer und politischer Eliten, die Korrumpierung politischer Entscheidungsprozesse durch die Lobbyindustrie, die Entgrenzung der Exekutivmacht und die Zersetzung des politischen Dialogs durch die Medien gerade »die Grundlagen des Systems, keine Auswüchse des Systems« (S. 410). Medienbesitz und der Niedergang der Demokratie stehen für ihn in enger Beziehung (S. 193).

    In diesem Buch beschreibt Wolin Erscheinungsformen totalisierender Dynamiken in den USA. Freilich sind solche Zustandsbeschreibungen und kritische Analysen imperialer und antidemokratischer Entwicklungen der US-Politik nicht neu. Sie begleiten, oft in großer Detailliertheit und Durchdringungstiefe, seit jeher die amerikanische Politik. Ein prominentes Beispiel dafür sind die Arbeiten von Noam Chomsky. Wolin hält diese totalisierenden Tendenzen für so umfangreich, dramatisch und augenfällig, dass er es für überflüssig erachtet, die Fülle der von ihm aufgeführten Beobachtungen durch Hinweise auf quantitative empirische Studien aus den relevanten Fachdisziplinen zu ergänzen. Sein eigentliches Anliegen zielt tiefer, nämlich auf eine differenzierte und zielgenaue Analyse der historischen Ursprünge und Ursachen totalisierender Tendenzen. Für ein solches Vorhaben genügt ihm als empirische Phänomenbasis die Feststellung dessen, was für jeden unvoreingenommenen politisch interessierten Beobachter offen erkennbar ist.

    Abstrakte totalisierende Macht III: Grundzüge eines Totalitarismus

    Wolin beginnt sein Buch mit einer Vorbemerkung, in der zwei ideologisch sinnbildhafte Episoden gegenüberstellt werden, eine aus der Zeit des Nationalsozialismus, eine andere aus der Zeit der Bush-Regierung – beide jeweils als Inszenierung für einen spezifisch modernen Modus der Mythenerzeugung. Damit ist das Thema gesetzt: Zwei sehr unterschiedliche Systeme gleichen sich darin, dass sie entschlossen sind, ihre Macht rücksichtslos einzusetzen, »um die Wirklichkeit umzugestalten« und sich als »Imperium« ihre eigene Wirklichkeit zu schaffen. Es geht also um abstrakte Erscheinungsformen des Totalitarismus.

    Wolin nutzt bestimmte Kerneigenschaften totalitärer Systeme, insbesondere die Erzeugung einer ideologischen Homogenisierung und eines sozialen Konformitätszwangs, als diagnostische Sonden für totalisierende Entwicklungen in liberalen kapitalistischen Demokratien. Seine Bezüge auf den Nationalsozialismus dienen ihm dazu, einen abstrakten Vergleichsmaßstab für eine Entgrenzung und Totalisierung von Macht in kapitalistischen Demokratien zu gewinnen. Dabei macht er unmissverständlich deutlich, dass er mit einem auf totalisierende Tendenzen zielenden abstrakten Vergleich in keiner Weise grundlegende inhaltliche Gemeinsamkeiten des Nationalsozialismus mit dem US-System oder gar eine historische oder ideengeschichtliche Beziehung behauptet. Sein Anliegen ist ein abstrakteres und grundlegenderes. Im Vorwort stellt er klar: »Verweise auf Hitler-Deutschland dienen allein dazu, den Leser an die Grundzüge eines Machtsystems zu erinnern, das im Ausland invasiv vorging, das einen Präventivkrieg als offizielle Doktrin rechtfertigte und das jegliche Opposition im Inland unterdrückte. Ein System, das im Prinzip und in der Praxis grausam und rassistisch, zutiefst ideologisch und offen auf die Weltherrschaft ausgerichtet war. Diese Grundzüge werden vorgestellt, um Tendenzen in unserem eigenen Machtsystem zu beleuchten, die den Grundprinzipien einer konstitutionellen Demokratie entgegenstehen.«

    Aus dem Selbstverständnis liberaler kapitalistischer Demokratien muss es als extrem provokant, wenn nicht gar ungeheuerlich erscheinen, relevante Aspekte des Nationalsozialismus mit Aspekten liberaler kapitalistischer Demokratien in Beziehung zu setzen. Denn wodurch sollten liberale kapitalistische Demokraten überhaupt totalisierende Dynamiken aufweisen können, zumal sie ihren diametralen Gegensatz zum Totalitarismus geradezu als identitätsstiftend betrachten? Ein totalitäres System, wie auch immer man das Konzept des Totalitarismus im Kontext fachwissenschaftlicher Erörterungen begrifflich präzisieren mag, zielt im Wortsinne gerade darauf, eine totale Kontrolle auszuüben, indem eine totalitäre Macht in alle gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse hineinzuwirken sucht, bis hinein in den Menschen selbst, den es in seinem Verhalten und in seiner Psyche nach der jeweiligen Ideologie des Systems neu zu formen sucht. Das gesamte gesellschaftliche und persönliche Leben wird von der kennzeichnenden und praktisch nicht hinterfragbaren Ideologie des jeweiligen totalitären Systems durchdrungen. Schon begrifflich stellt also ein totalitäres System den absoluten und extremen Gegenpol zu einem demokratischen System dar. Denn die zivilisatorische Leitidee von Demokratie beruht auf einer egalitären Prämisse und zielt auf eine radikale Einhegung von Macht durch ihre demokratische Vergesellschaftung.

    Genau diesen begrifflichen Gegensatz macht Wolin sich zunutze. Er zieht die rhetorische Selbstbezeichnung kapitalistischer Herrschaftssysteme als »Demokratien« heran, um daraus einen Beurteilungsmaßstab dafür zu gewinnen, wie nahe sie dem Kern der zivilisatorischen Leitidee von Demokratie tatsächlich kommen. Systemdynamiken einer Entgrenzung und Totalisierung von Macht auf alle Bereiches des Lebens und der Gesellschaft lassen sich also als diagnostische Sonde und als Bewertungsmaßstab nutzen, um Diskrepanzen von Realität und Rhetorik liberaler kapitalistischer Demokratien deutlich zu machen. Für Wolin ist der Totalitarismus ein diagnostischer Kontrastpunkt für eine solche vergleichende Analyse gegenwärtiger kapitalistischer Demokratien.

    Wolins Anliegen, diese totalisierenden Entwicklungen verstehen und erklären zu wollen, speist sich aus zwei unterschiedlichen Motivationsquellen. Als politischer Philosoph möchte er diese Phänomene in der geistigen Landkarte der Entwicklungsgeschichte politischer Ideen verorten und ihre Entwicklungsdynamiken erklären. Als engagierter Bürger gilt seine unbeirrbare Leidenschaft, die alle seine Werke prägt, dem politischen Kampf für eine aktiv-partizipatorische Demokratie, also für eine Demokratie, die darin besteht, »dass man gemeinsam jene Kräfte kontrolliert, die das Leben und die Lebensbedingungen Anderer und der eigenen Person unmittelbar und maßgeblich beeinflussen« (S. 377).

    »Flüchtige Demokratie«: Wolins Vorstellung von einer egalitären aktiv-partizipatorischen Demokratie

    Wolin hält, trotz seiner bedrückenden Diagnose einer gigantischen Asymmetrie gegenwärtiger faktischer Machtverhältnisse, unbeirrt an der demokratischen Leitidee fest – und damit an der Gültigkeit der Gründe, die historisch zu ihr Anlass gegeben haben. Realisierbar sei sie jedoch nur noch episodisch als »flüchtige Demokratie« (S. 93, 370) in eng begrenzten lokalen Räumen und als jederzeit notwendiges Gegenmoment gegen totalisierende Entwicklungen und gegen die »Kapitulation des Demos« (S. 298).

    In solchen flüchtigen Momenten werde sich der Demos durch schiere Anzahl und physische Kraft »seiner potenziellen Macht bewusst«: »Demotische Politik bedeutet einen Wechsel vom Objekt der Macht zum Akteur. Da der Demos innerhalb des Systems keinen ihm zugewiesenen Platz vorfindet, ist er gezwungen, die ausschließende Politik der Wenigen infrage zu stellen und den Eintritt in die politische Sphäre und die Teilnahme an den politischen Beratungen als eine Frage des Rechts einzufordern.« (S. 365) Bei Demokratie gehe es wesentlich »um die Inanspruchnahme und den Missbrauch der eigenen Macht durch andere«. Für den Demos gehe es konkret »um die Rückeroberung der eigenen Macht, nicht lediglich um ein erneutes Beschwören seiner Legitimität« (Wolin, 2016, S. 97).

    Demokratie bedeutet für Wolin eine durch die kraftvolle physische Präsenz des Demos getragene permanente Opposition gegen alle Formen nicht demokratisch legitimierter Macht. Worum es bei Demokratie wirklich geht, »ist nicht die banale Frage von Dissens, sondern der Status der Demokratie als Opposition in Permanenz und die Bedeutung, die eine ständige Erneuerung der politischen Erfahrung für sie hat. Eine permanente Opposition ist notwendig wegen der wesenhaft antidemokratischen Struktur und der Normen, die charakteristisch für die dominanten Institutionen der sogenannten fortgeschrittenen Gesellschaften sind, nämlich Konzerne und die US-Supermacht.« (Wolin, 2004, S. 604) In diesem unablässigen und radikalen Einfordern der Macht des Demos liege der eigentliche Ursprung der Demokratie: »Die Demokratie wurde in grenzüberschreitenden Handlungen geboren, denn der Demos konnte nicht an der Macht teilhaben, ohne die Klassen-, Status- und Wertesysteme zu erschüttern, durch die er ausgeschlossen war.« (Wolin, 2016, S. 106)

    Ein solcher Ausschluss könne auch durch eine demokratische Verfassung selbst erfolgen, da diese dazu neige, durch die Mächtigen ausgehöhlt zu werden, durch bürokratische Überformung zu verkrusten und auf diese Weise das Volk wieder von der Macht auszuschließen. Wolin misstraut daher Formen einer konstitutionellen Demokratie und hält die vorherrschenden Konzeptionen von Demokratie für unangemessen: »Demokratie in der spätmodernen Welt kann kein vollständiges politisches System sein. Angesichts der gewaltigen Potenziale moderner Machtformen und dem, was sie der sozialen und natürlichen Welt abverlangen, sollte ein solches System nicht erhofft oder angestrebt werden.« Eine wirkliche, aktiv-partizipatorische Demokratie sei grundsätzlich unvereinbar »mit der modernen Wahl des Staates als festem Zentrum des politischen Lebens« (Wolin, 2016, S. 111). Nur in kleinen Räumen könne sich das Politische entfalten: »Der moderne Staat bedeutete die Verdrängung der lokalen Politik durch bürokratische Politik.« (Wolin, 2001, S. 199)

    Demokratie lasse sich nicht auf der Basis von Strukturen erreichen, die »den Interessen des politischen Kapitalismus« dienen. Vielmehr müsse »unsere gesamte Denkweise auf den Kopf gestellt werden. Statt wie die meisten anderen politischen Theorien den Staat als primäre Struktur zu übernehmen und die Tätigkeit des Bürgers an den Staat anzupassen, sollte sich das demokratische Denken vom Staatsparadigma verabschieden und damit auch von den Verformungen durch eine liberale Verrechtlichung des Bürgers.« Bei den Bestrebungen, den politischen Raum zurückzugewinnen, dürfe sich das Politischsein nicht »in einer oder zwei Arten von Aktivitäten – Wählen oder Protestieren« erschöpfen, sondern müsse viele und auch neu zu schaffende Formen der Wiederaneignung von Macht umfassen. (Wolin, 2016, S. 377) Demokratie müsse auf Formen zurückgreifen, die nicht von kapitalistischen Machtstrukturen korrumpiert und kooptiert werden können. Genau dies sei jedoch bekanntermaßen bei Wahlen, Parteien und traditionellen Formen politischer Aktivität der Fall, denn sie können von Unternehmensgeldern übernommen und von den Massenmedien manipuliert werden. »Die Demokratie braucht eine nicht kooptierbare Politik, das heißt eine Politik, die die vom modernen Staat und den Unternehmen entwickelten Formen der Macht unbrauchbar macht.« Daher sei bereits die »Idee eines demokratischen Staates ein Widerspruch in sich« (Wolin, 1989, S. 149 f.).

    Moderne Organisationsformen allgemein führten zwangsläufig zu einer Zerstörung des Raumes des Politischen: »Das Politische hat sich spezialisiert, reguliert und verwaltungstechnisch organisiert. Die In­stitutionalisierung bedeutet eine Abschwächung der Demokratie; Führungspersönlichkeiten treten auf, Hierarchien entwickeln sich, Experten der einen oder anderen Art gruppieren sich um die Zentren der Entscheidung; Ordnung, Verfahren und Präzedenzfälle verdrängen eine spontanere Politik.« (Wolin, 2016, S. 108) In seinem tiefen Misstrauen gegen den Staat und gegen die moderne Überakzentuierung von Organisationsformen weisen Wolins Vorstellungen von Demokratie eine deutliche anarchistische Färbung auf: »Regieren bedeutet, bürokratische Institutionen zu besetzen und sich ihnen anzupassen, die gerade als solche hierarchisch strukturiert und elitär sind, dauerhaft und nicht flüchtig – kurzum: antidemokratisch.« (Wolin, 2004, S. 603)

    Wolin schlägt vor, genau auf diejenigen Elemente von Demokratie zurückzugreifen, die auf kleinen Räumen ursprünglich mit ihr verbunden waren und die man ihr in der langen Geschichte entschiedener Demokratiefeindschaft immer wieder zum Vorwurf gemacht hat: »Anstelle einer Konzeption der Demokratie, die von ihrer Verfassung nicht zu unterscheiden ist, schlage ich vor, die bekannten Vorwürfe zu akzeptieren, dass die Demokratie von Natur aus instabil ist, zur Anarchie neigt und mit der Revolution identifiziert wird, und diese Eigenschaften als Grundlage für eine andere, a-konstitutionelle Konzeption der Demokratie zu verwenden.« (Wolin, 2016, S. 83)

    Dennoch könne diese Form einer »flüchtigen Demokratie« eine stabile politische Wirkung in größeren komplexen Gesellschaften entfalten, da sie von einer nicht zerstörbaren Kraft angetrieben werde, nämlich von der Idee politischer Gleichheit. Die demokratische Idee weise daher eine natürliche Attraktivität für die meisten Menschen auf, durch die sie sich letztlich in allen gesellschaftlichen Bereichen entfalte: »Demokratie regiert durch Durchdringung (permeation). Sie dringt in alle wichtigen Lebensformen der Gesellschaft ein – in die soziale, kulturelle, religiöse, moralische und auch in die politische.« (Wolin, 2001, S. 160)

    Die Zerstörung des Politischen I: Kritik am Liberalismus und an der repräsentativen Demokratie

    Wolins Suche nach den Faktoren, die dafür verantwortlich sind, dass sich »eine Demokratie in ein nicht-demokratisches oder antidemokratisches System verwandelt«, führt ihn ideengeschichtlich zu den Anfängen der modernen Formen von Demokratie. Wolin zeigt zunächst auf, dass die eigentlichen Ursachen gegenwärtiger totalisierender Dynamiken bis an den Beginn der amerikanischen Version von Demokratie zurückreichen, nämlich zu der von den Gründervätern entwickelten »repräsentativen Demokratie«. Die Schöpfer der amerikanischen Verfassung waren, so Wolin, zugleich die Urväter der modernen gelenkten Demokratie (S. 250). Denn dort, wo Repräsentation vorliege, gebe es keine echte Demokratie und könne es auch nie geben. Wirkliche partizipative Demokratie erfordere, dass die Bürger in der Lage seien, »kollektiv, als Demos« zu handeln (S. 413) und alle öffentlichen Angelegenheiten im Kollektiv zu diskutieren und dann zu entscheiden. Eine repräsentative Regierung sei im Gegensatz dazu strukturell eine Herrschaft einiger Weniger, wenn auch nicht immer der gleichen Wenigen, de facto also eine Wahl-Oligarchie. In Wolins Auffassung ist die moderne Demokratie, also die repräsentative Demokratie, keine substanziell demokratische Regierungsform. Schon 1981 beklagte er, dass bereits in den Anfängen der amerikanischen Demokratie die demokratische Tradition eines Jefferson gegen die auf Hamilton zurückgehende Tradition wirtschaftsfreundlicher, zentralisierender und letztlich antipartizipatorischer Kräfte verloren habe: »Die gegenwärtige Verfassung der Macht und der Gesellschaftsvertrag, der sie legitimiert, haben die gegenwärtige, sich vertiefende Krise produziert. Die Krise besteht aus zwei zusammenhängenden Teilen: dem beispiellosen Ausmaß der Macht, die dem amerikanischen Staat zur Verfügung steht, und die eigentümlich abstrakte Qualität dieser Macht.« (Wolin, 1981, S. 24)

    Die gegenwärtige Verfasstheit der Macht bezeichnet Wolin als »Postdemokratie«, eine Bezeichnung, die er erstmals 2001 in seinem Buch über Alexis de Tocqueville (1905–1859) verwandte, das Ausdruck und Ertrag seiner langen und ihn prägenden Auseinandersetzung mit Tocqueville ist. Dabei erweist sich sein Verständnis von »Postdemokratie« als radikaler als das späterer europäischer Autoren. Unter »Postdemokratie« versteht Wolin das durch die Wirkmacht der amerikanischen Formen des Kapitalismus entstandene »faktische Verschwinden der Kultur der Teilhabe und ihre Ersetzung durch eine Kultur des Privatismus, der Isolation und, was Tocqueville nicht vorhersehen konnte, des Konsumismus« (Wolin, 2001, S. 570).

    Tocqueville beschrieb in seinen Klassiker Über die Demokratie in Amerika – erschienen in zwei Bänden 1835 und 1840 – die von ihm in den USA erkannte Tendenz, dass der Liberalismus eine sozial atomisierte und damit radikal entpolitisierte Gesellschaft erzeugt. In der Konzeption des Liberalismus bilden nämlich die egoistisch ihre Privatinteressen verfolgenden Einzelnen das Fundament von Gesellschaft. Soziale Beziehungen bleiben als ein rationales Aushandeln von Nutzenerwägungen den Individuen äußerlich und sind über ihren Nutzencharakter hinaus von moralischer Gleichgültigkeit geprägt: »Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber.« (Tocqueville 1840/1987, S. 463) Dieser atomisierende Individualismus, der die politische Bedeutung von Ideen der Gemeinschaft und Kollektivität leugnet und das allgemeine Interesse auf das freie Spiel von konkurrierenden Privatinteressen reduziert, drohe letztlich den Menschen »in die Einsamkeit seines eigenen Herzens einzuschließen« (Tocqueville, 1840/1987, S. 127). Er münde in eine politische Apathie, eine Erstarrung des politischen Lebens und eine Entleerung des politischen Raumes. Da, so Wolin, im Liberalismus »der Bürger, als der entscheidende Akteur in der Theorie der Demokratie, mit dem Homo oeconomicus verschmelze« (Wolin 2004, S. 589), komme es zu dem bereits von Tocqueville vorausgesagten Verfall demokratischer Ideale und partizipativer politischer Kultur. In der liberalen besitzindividualistischen Konzeption von Freiheit wird Freiheit als das Recht auf Konsum verstanden und der Bürger als Konsument auf einem Markt. Folglich ist die liberale kapitalistische Demokratie eine Zuschauer-Demokratie und zugleich eine Konsumenten-Demokratie. Sie sucht geradezu zu verhindern, dass Bürger einen politischen Partizipationsanspruch erheben. Ihr Idealtyp des Bürgers sei, so Wolin, der politische »Zuschauer-Konsument« (S. 300). Als »Zuschauer-Konsumenten« werden die Bürger in einer doppelten Ohnmacht gehalten. In beiden Rollen können sie zwischen Optionen ›wählen‹, die ihnen von außen vorgegeben wurden: »Auf diese Weise wurde ein Wunder der Transsubstantiation vollbracht. Die Volkssouveränität ging in wirtschaftlicher Ohnmacht auf und die Konsumentensouveränität in politischer Ohnmacht.« (Wolin, 2004, S. 576)

    Die im Liberalismus wesenhaft angelegte Entpolitisierung der Bürger und die Bereitstellung von Konsum als Ersatz zur Befriedigung von Freiheitsbedürfnissen eröffne den Weg zur Erzeugung einer freiwilligen Unterwerfung. Damit werden ganz neuartige Formen von Herrschaftsformen ermöglicht, die viel stärker ohne physischen und sichtbaren Zwang auskommen können als traditionelle Herrschaftsformen. Diese im Liberalismus angelegte Tendenz zu einer totalisierenden Erzeugung einer freiwilligen Unterwerfung hatte bereits Tocque­ville erkannt. Sie nutzt eine natürliche Neigung des Menschen aus, nämlich die Neigung, dass er im sozialen Verband geführt werden möchte, zugleich jedoch nach Freiheit verlangt. Beide widerstreitenden Bedürfnisse lassen sich gleichzeitig befriedigen, wenn es gelingt, den Bürgern die Illusion von Demokratie zu verschaffen. »Sie nehmen die Bevormundung hin, indem sie sich sagen, dass sie ihre Vormünder selber ausgewählt haben. Jeder duldet, dass man ihn fessle, weil er sieht, dass weder ein Mann noch eine Klasse, sondern das Volk selbst das Ende der Kette in Händen hält.« (Tocqueville, 1840/1987, S. 208 f.). Liberale kapitalistische Demokratien sind perfekt darauf zugeschnitten, ein solches Ziel einer freiwilligen Unterwerfung zu erreichen. In ihnen wird eine Beherrschung auf physisch mildere und weniger leicht erkennbare Weise ausgeübt als in traditionellen totalitären Regimen. Dennoch gleichen sie diesen strukturell darin, dass sie danach streben, sich in totalitärer Weise auf alle Bereiche des Lebens und der Gesellschaft zu erstrecken.

    Wolins Suche nach den ideengeschichtlichen Ursprüngen totalisierender Entwicklungen führt ihn auf zwei wesentliche Quellen: Liberalismus sowie Kapitalismus, insbesondere deren wechselseitige Anbindung und Verschmelzung. Er verortet die Wurzeln dieser Entwicklungen in Dynamiken, die bereits im Liberalismus angelegt sind, nämlich eine Verschiebung des Problems ungleicher Macht auf das Problem ungleicher Rechte, eine soziale Atomisierung und Entpolitisierung der Bürgerschaft und eine ideologische und faktische Entleerung des politischen Raumes. »Ungleiche Behandlung ist weniger eine Konsequenz ungleicher Rechte als von ungleicher Macht. Ungleiche Macht ist oft, wenn auch nicht immer, mit der Unfähigkeit verbunden, effektiv oder überhaupt handeln zu können. Damit stellt sich die Frage, was für eine Art von Demokratie das ist, in der gleiche Rechte formal garantiert sind, in der jedoch Reichtum und Macht nicht weniger konzentriert sind als Armut und Machtlosigkeit?« (Wolin, 2016, S. 55)

    Wolin zeigt akribisch auf, dass totalisierende Entwicklungsdynamiken keine Fehlentwicklung oder Entartungen des Liberalismus sind, sondern wesenhaft gerade aus dessen Kern entspringen, genauer aus dem Wesenskern eines mit dem Kapitalismus verbundenen Liberalismus.

    Die Zerstörung des Politischen II: Kritik am Kapitalismus

    Die Einsicht, dass liberale kapitalistische Demokratien mit der zivilisatorischen Leitidee von Demokratie nicht in Einklang zu bringen sind, begleitet die liberale kapitalistische Demokratie bereits seit ihren Anfängen.

    Demokratie und Kapitalismus als Gesellschaftsform sind fundamental miteinander unverträglich, weil sie auf geradezu entgegengesetzten Funktionsprinzipien beruhen. Die Demokratie beruht auf dem Gleichheitsprinzip bei der Vergesellschaftung von Macht. Der Kapitalismus hingegen beruht in seinen Funktionsprinzipien gerade auf der Ungleichheit des Eigentums an Produktionsmitteln. Die kapitalistische Eigentumsordnung verpflichtet alle, die über kein eigenes Kapital verfügen, für fremdes Eigentum zu arbeiten, und überführt damit Arbeit in Lohnarbeit. Der Kapitalismus verlangt also eine Unterwerfung unter die Machtverhältnisse, in denen eine Minderheit von Besitzenden Macht über eine Mehrheit von Nichtbesitzenden ausübt. Insofern ist die Bezeichnung »kapitalistische Demokratie« bereits ein Widerspruch in sich. Diesem Einwand hat man in der politischen Ideengeschichte des vergangenen Jahrhunderts dadurch Rechnung zu tragen versucht, dass man schleichend die Bedeutung des Begriffs der Demokratie verschoben hat und de facto unter »kapitalistischer Demokratie« eine durch Wahlen legitimierte Form der Elitenherrschaft meint. Kapitalistische Demokratien werden daher auch als »Elitendemokratien« bezeichnet – auch dies ist schon begrifflich ein Widerspruch in sich.

    Diese Einsichten sind wohlbekannt, auch wenn sie im öffentlichen Meinungsraum und in den Medien kaum präsent sind. So sprach Johannes Agnoli (1967) von einer »Involution«, also einer Rückbildung und Verkümmerung demokratischer Strukturen zu einem autoritären Staat, in der die demokratischen Einrichtungen in autoritäre Formen transformiert werden, in ihrer konstitutionellen Form aber mehr oder weniger intakt bleiben. Aus anderer theoretischer Perspektive erkannte Nico Poulantzas (Poulantzas 1978/2002, S. 97) in modernen kapitalistischen Demokratien ein »völlig neues Phänomen moderner Totalitarismus« und zeigte auf, dass es »zum ersten Mal in der Geschichte keine rechtliche und prinzipielle Schranke für die Aktivität und die Übergriffe des Staates in die Sphäre des Individuell-Privaten geben kann«. Auf diese Weise sei »eine niemals zuvor erreichte Omnipräsenz des Staates« in dieser Sphäre entstanden und die Demokratie zu einem »autoritären Etatismus« verfallen.

    Der renommierte Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde, der im Übrigen ein ausgesprochen konservativer Staatsrechtler war und Staat und Demokratie in Anlehnung an Carl Schmitt an eine inhaltliche Homogenitätsannahme band, mahnte 2009 gegen die »Krankheit« des Kapitalismus einen an die Wurzeln gehenden Systemwechsel an: »Woran krankt also der Kapitalismus? Er krankt nicht allein an seinen Auswüchsen, nicht an der Gier und dem Egoismus von Menschen, die in ihm agieren. Er krankt an seinem Ausgangspunkt, seiner zweckrationalen Leitidee und deren systembildender Kraft. Deshalb kann die Krankheit auch nicht durch Heilmittel am Rand beseitigt werden, sondern nur durch die Umkehrung des Ausgangspunktes.« (Süddeutsche Zeitung, 24.4.2009)

    Mit dem politischen Wirksamwerden und dem globalen Siegeszug des Neoliberalismus, vor allem seit den 1990er Jahren, haben sich autoritäre und totalisierende Dynamiken noch einmal deutlich beschleunigt. Der totalitäre Charakter des Neoliberalismus mit seiner fundamentalistischen Markttheologie wurde in der Fachliteratur vielfach aufgezeigt. Auch aus der Perspektive politischer Entscheidungsträger wurde auf solche Tendenzen hingewiesen. So stellte beispielsweise der CDU-Politiker Norbert Blüm fest: »Wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, die sich anschickt, totalitär zu werden, weil sie alles unter den Befehl einer ökonomischen Ratio zu zwingen sucht. Aus Marktwirtschaft, also ein Segment, soll Marktgesellschaft werden. Das ist der neue Imperialismus. Er erobert nicht mehr neue Gebiete, sondern macht sich auf, Hirn und Herz der Menschen einzunehmen. Sein Besatzungsregime verzichtet auf körperliche Gewalt und besetzt Zentralen der inneren Steuerung des Menschen.« (Blüm, 2006, S. 61)

    Auch für Wolin steht die Unverträglichkeit von Demokratie und Kapitalismus außer Frage, und er steht dem Kapitalismus kompromisslos kritisch gegenüber. Zwar beschränkt sich seine Kritik am Kapitalismus auf dessen Auswirkungen auf die Sphäre des Politischen, während in seiner Zugangsweise ökonomische Aspekte und die mit ihnen verbundenen Funktionslogiken des Kapitalismus unterbelichtet bleiben. Dennoch ist seine Kapitalismuskritik kraftvoll und unmissverständlich genug, um die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Demokratie noch einmal aufzuzeigen. Alle Strukturen einer Gesellschaft, die vom Kapitalismus geprägt sind, seien »für die Demokratie undurchdringlich und mit ihr unvereinbar« (Wolin 2004, S. 518). Auch seine Kritik der Sozialdemokratie als reformistisches Veränderungsbemühen innerhalb des Kapitalismus ist kompromisslos. Alle Versuche, dem Kapitalismus durch sozialdemokratischen Reformismus ein menschlicheres Antlitz zu verleihen, machten ihn letztlich nur stabiler und verankerten ihn immer tiefer in Gesellschaft und Psyche. Für Wolin kann die Sozialdemokratie in der Form, die sie in den westlichen Gesellschaften angenommen hat, die Probleme sozialer Ungleichheiten, Ungerechtigkeit und Konflikte nicht lösen, weil sie bereits die strukturelle Form und die Kernmechanismen des Kapitalismus selbst inkorporiert hat. Da die Sozialdemokratie von der Aufrechterhaltung und nicht von der Abschaffung der kapitalistischen Eigentumsordnung ausgeht, haben Sozialdemokraten »geradewegs für eine Politik argumentiert, die hilft, das kapitalistische Kalb zu mästen, anstatt es zu schlachten« (Wolin, 1987, S. 493 f.). Die Sozialdemokratie ziele letztlich weder auf wirkliche Demokratie, also auf eine Demokratie, die die Wirtschaft miteinschließt, noch auf soziale Gerechtigkeit, sondern lediglich auf die Linderung oder Behebung der vom Kapitalismus produzierten Widersprüche.

    Die Auffassung, dass es nicht nur autoritäre, sondern auch totalisierende Tendenzen in kapitalistischen Demokratien gibt, ist also keineswegs neu. Sie wird bereits durch deren Entstehungsgeschichte nahegelegt. Es gibt somit gute Gründe, den Totalitarismus als extremen Referenzpunkt für die Beurteilung totalisierender Tendenzen in kapitalistischen Demokratien heranzuziehen. Das Gesicht des Totalitarismus habe jedoch, Wolin zufolge, in gegenwärtigen kapitalistischen Demokratien ganz neue Züge angenommen, nämlich durch die völlig neuartige Form einer abstrakten Organisation von Herrschaft und durch eine hochgradige Verfeinerung von Herrschaftstechniken.

    Wolins Konzept des »umgekehrten Totalitarismus«

    Dieser neuartige Totalitarismus, der die höchste Steigerungsform des Antidemokratischen darstelle, sei nicht durch historisch zufällige Bedingungsfaktoren gegenwärtiger westlicher Gesellschaften entstanden, sondern in dem kapitalistischen Liberalismus selbst angelegt und folge dessen immanenter Funktionslogik. Um diese totalisierenden Entwicklungsdynamiken in Abgrenzung zu klassischen Formen des Totalitarismus angemessen erfassen und verstehen zu können, führt Wolin behelfsweise den – intuitiv nicht leicht zugänglichen – Begriff des »umgekehrten Totalitarismus« ein. Es handle sich dabei, so schreibt er im Vorwort um »mein wichtigstes Konzept«. Es stellt den Kern seiner kritischen Diagnose liberaler kapitalistischer Demokratien dar.

    Wolins Wahl dieser Bezeichnung wirft zwangsläufig Probleme auf, da bereits der Begriff des Totalitarismus, der sich nicht einfach durch Auflistung einer Reihe definierender Merkmale fassen lässt, in der Fachliteratur als analytisches Instrument ausgesprochen umstritten ist (siehe z. B. Rensmann, 2004).

    Als überwiegend ideologisch motivierter Begriff wurde »Totalitarismus« schon früh als weitgehend ungeeignet für eine theoretische Analyse angesehen. Seine Blütezeit erlebte das Totalitarismuskonzept in der Zeit des Kalten Krieges als negativ wertendes Schlagwort der ideologischen Auseinandersetzung. Seine Funktion bestand – und besteht teilweise immer noch – vor allem darin, die Herrschaftsform einer kapitalistischen Demokratie durch einen Kontrast zu ihrem negativ bestimmten Gegenentwurf zu legitimieren. Der Totalitarismusbegriff sollte jüngere Formen politischer Herrschaft charakterisieren, die sich mit dem Selbstbild liberaler kapitalistischer Demokratien in einen grundlegenden Gegensatz setzen lassen: nämlich Herrschaftsformen, die auf eine vollständige Unterwerfung aller Lebensbereiche unter den Willen einer kleinen Minderheit zielen, mit einem absoluten Geltungsanspruch auftreten und eine unbeschränkte gesellschaftliche Macht anstreben. Das solcherart ideologische klassische Totalitarismuskonzept wurde also in der Regel so gefasst, dass per Definition aus der Mitte kapitalistischer Demokratie keine extremistischen demokratiefeindlichen Tendenzen entspringen können. Folglich ist es begrifflich blind für totalisierende Entwicklungen innerhalb der liberalen kapitalistischen Demokratie. Es immunisiert derartige Entwicklungen dagegen, überhaupt begrifflich erfasst werden zu können.

    Wolin befreit sich aus dieser begrifflichen Sackgasse, indem er sich von der ideologischen Engfassung des traditionellen Totalitarismusbegriffs löst und ein allgemeineres und abstrakteres Verständnis von Totalitarismus zugrunde legt. Zugleich spezifiziert er die Formen von Totalitarismus, die auf neuartigen Wegen ähnliche Ziele zu erreichen suchen wie der traditionelle Totalitarismus, durch das Adjektiv »umgekehrt«. Dadurch markiert Wolin zugleich grundlegende Unterschiede in Inhalt und Form zwischen klassischem Totalitarismus, insbesondere dem Faschismus, und dem von ihm identifizierten neuen Totalitarismus. Im »umgekehrten Totalitarismus« finalisiert sich gleichsam der kapitalistische Liberalismus, in ihm enthüllt die liberale kapitalistische Demokratie ihren eigentlichen Wesenskern.

    In seinem Vorwort betont Wolin, dass sein Begriff des »umgekehrten Totalitarismus« keineswegs ein klar definiertes analytisches Konzept sei, sondern ein »versuchsweises und hypothetisches«. Es dient ihm lediglich dazu, die Aufmerksamkeit auf eine lose bestimmte Klasse von Phänomenen totalisierender Entwicklungen zu lenken, deren Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie wesenhaft gerade aus der Mitte einer liberalen kapitalistischen Demokratie entspringen und in einem grundlegenden Widerspruch zur Leitidee von Demokratie stehen. Hierzu gehören all die Tendenzen in unserer Gesellschaft, die »in eine Richtung weg von der Selbstverwaltung, der Rechtsstaatlichkeit, dem Egalitarismus und der reflektierten öffentlichen Diskussion« weisen. Um diesen Widerspruch zu einer tatsächlichen Demokratie zu verdecken, bedürfe es einer »gelenkten Demokratie«. Diese sei freilich nichts anderes als »das Smiley-Gesicht des umgekehrten Totalitarismus«. Gelenkte Demokratie und »umgekehrter Totalitarismus« sind für Wolin zwei Seiten derselben Medaille.

    Die von Wolin aufgezeigten Strukturähnlichkeiten zwischen kapitalistischen Demokratien und beispielsweise dem Faschismus bestehen darin, dass in kapitalistischen Demokratien totalitäre Ziele und totalisierende Entwicklungen auf Wegen verfolgt werden, die sich gleichsam als Umkehrung der Methoden und Wege des traditionellen Totalitarismus verstehen lassen und auf modernen Methoden des Demokratiemanagements beruhen. Faschismus, als prototypisches Beispiel des klassischen Totalitarismus, und der tendenziell »umgekehrte Totalitarismus« gegenwärtiger kapitalistischer Demokratien verfolgen strukturell ähnliche Ziele, nämlich eine entgrenzte und totalisierende Macht. Dazu sind sie auf eine ideologische Homogenisierung der Bevölkerung angewiesen und damit auf ein Verschwinden des Politischen. Sie zielen also darauf, »dass der Raum des Handelns, und dies allein ist die Wirklichkeit der Freiheit, verschwindet« (Arendt, 1951/2008, S. 958). Dies kann auf ganz unterschiedlichen Wegen erreicht werden: im Fall von Systemen des klassischen Totalitarismus durch, so Hannah Arendt, den rohen Terror, der »den Lebensraum zwischen Menschen, der der Raum der Freiheit ist, radikal vernichtet«; im Fall der modernen Formen des »umgekehrten Totalitarismus« durch eine ideologische Homogenisierung und eine Entleerung des politischen Raumes durch kaum noch wahrnehmbare Manipulations- und Unterdrückungstechniken. Diese auch als »Soft Power« bezeichneten Herrschaftstechniken, die seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts unter wesentlicher Beteiligung der Sozialwissenschaften und der Psychologie entwickelt wurden, sind darauf angelegt, dass sie unser psychisches Immunsystem gegen Manipulation unterlaufen, indem sie natürliche psychische Mechanismen ausnutzen, durch die Menschen zu einer freiwilligen Unterwerfung und zu stillschweigender Zustimmung gebracht werden können. Der »umgekehrte Totalitarismus« zielt also in seinen Totalisierungsstrategien eher auf die Psyche als auf den Körper, wobei jedoch bei Bedarf jederzeit zu Repressionsmaßnahmen gegriffen werden kann. Bei strukturell ähnlichen Zielen besteht hier die »Umkehrung« in der weitgehenden Ersetzung traditioneller roher Gewaltformen durch Formen kaum noch bemerkbarer Gewalt.

    Allgemeiner liegt, Wolin zufolge, eine »Umkehrung« vor, wenn ein System, wie die liberale kapitalistische Demokratie, in zentralen Aspekten Wirkungen hervorbringt, die normalerweise mit nicht-demokratischen, autoritären Systemen verbunden sind (S. 122). Unter »umgekehrten Totalitarismus« versteht Wolin ein System, »das vorgibt, das Gegenteil von dem zu sein, was es in Wirklichkeit ist«. Liberale kapitalistische Demokratien seien also das diametrale Gegenteil von dem, worauf die Leitidee von Demokratie zielt. Dieser grundlegende innere Widerspruch zwischen »kapitalistischer Demokratie« und Demokratie wird durch die Entwicklung einer »gelenkten Demokratie« verdeckt und unsichtbar gemacht.

    Wolins Konzept lässt sich besser verstehen, wenn man zunächst die von ihm

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