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Hab keine Angst, erzähl alles!: Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden
Hab keine Angst, erzähl alles!: Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden
Hab keine Angst, erzähl alles!: Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden
eBook344 Seiten4 Stunden

Hab keine Angst, erzähl alles!: Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden

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Über dieses E-Book

Zahlreiche Überlebende und Angehörige der Opfer der Mordanschläge von Halle am 9. Oktober 2019 wollen sich mit diesem Buch Gehör verschaffen. Während des Prozesses haben sich viele Betroffene und ihre Anwälte zu Wort gemeldet und in bewegenden, außergewöhnlichen Texten und Reden ihrem Schmerz und ihrem Zorn Ausdruck verliehen; und sie fragen nach Solidarität und Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft.

Eine Auswahl dieser und weiterer Texte hat Esther Dischereit in Zusammenarbeit mit den Autorinnen und Autoren zusammengestellt. Daraus entsteht eine beeindruckende Dokumentation des Anschlags mit besonderem Augenmerk auf die juristische und öffentliche Verarbeitung sowie das Erleben der Betroffenen.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Herder
Erscheinungsdatum28. Sept. 2021
ISBN9783451825736
Hab keine Angst, erzähl alles!: Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden

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    Buchvorschau

    Hab keine Angst, erzähl alles! - Verlag Herder

    Stimmen der Überlebenden

    25.5.2020

    Max Privorozki im Gespräch mit Caro Keller und Heike Kleffner

    Eine Welle von Solidarität und unsere Trauer um die beiden Ermordeten Jana und Kevin – wir werden sie immer vermissen

    „Das war für mich persönlich die wichtigste Schlussfolgerung nach dem Anschlag, obwohl das möglicherweise irritierend klingt. Aber meine allgemeine Einstellung zur Situation in unserem Land ist nach dem Anschlag optimistischer geworden als vorher. ... gerade diese unglaubliche Welle von Solidarität, von Anteilnahme von einfachen Menschen, ... ich meine jetzt nicht, dass Herr Steinmeier, Herr Seehofer am nächsten Tag oder Herr Dr. Haselhoff am gleichen Tag am Abend um 23:30 Uhr nach Halle gekommen sind ... darum geht es nicht, es geht um einfache Menschen, nicht nur aus Halle, nach den Adressen von überall … Menschen, die sich an uns gewandt haben, die E-Mails geschickt haben, Briefe, WhatsApp, Facebook, alle möglichen Medien, Nachrichten – da kann man die Geografie der Bundesrepublik danach lernen oder von Europa. Es gab Mails aus Australien, aus Singapur, aus den Vereinigten Staaten, selbstverständlich aus Israel, aus allen europäischen Ländern und aus Deutschland fast von überall. Es ist wirklich erstaunlich, wie viele Menschen das waren und welche Worte sie gefunden haben. Wir haben geplant, diese E-Mails und auch meine Antworten, … damit so etwas wie eine Ausstellung zu machen, die Briefe, die Geschenke, die wir bekommen haben. Ein Beispiel: Gleich nach Jom Kippur beginnt das Sukkotfest, das Laubhüttenfest, und aus Mannheim, aus der jüdischen Gemeinde – die haben verstanden, dass wir jetzt keine Zeit haben für unsere Kinder, um das Sukkotfest vorzubereiten. Sie haben uns sofort nach Jom Kippur ein Paket mit Geschenken zu Sukkot geschickt, damit wir unseren Kindern diese Geschenke geben können. Das kann man mit Worten nicht beschreiben. Noch ein Beispiel: Bei diesem Anschlag wurde das Einfahrtstor kaputt gemacht, die Antriebsanlage. Die Produzentin dieser Anlage, diese Firma sitzt irgendwo in Baden-Württemberg, hat im Fernsehen gesehen, dass sie kaputt ist, und sie hat uns einfach eine neue Anlage gespendet. Diese Anlage wurde schon eingebaut. Ich kann zwei, drei Stunden darüber weitererzählen, das ist unglaublich, wie viel Solidarität [es gab] ... Shabbat am 11. Oktober – das ist etwas, was ich nie in meinem Leben erwartet hätte und nie in meinem Leben gesehen habe. Circa 2000 Menschen, Hallenser – und Halle ist nicht New York ... – 2000 Menschen sind zur halleschen Synagoge gekommen, um die Synagoge von außen zu schützen und Solidarität zu zeigen. Die Straße war absolut voll mit Menschen, das ist wirklich unglaublich – ich verstand, dass die normalen Menschen hier in diesem Land in der absoluten Mehrheit sind, und das macht mir wirklich Hoffnung. In diese Hoffnung mischt sich unsere Trauer um die Mordopfer, um Jana und Kevin – wir werden sie immer vermissen."

    Max Privorozki ist Geschäftsführer und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Halle.

    Podcast Folge #7: Vor Ort – gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt. Die Podcastserie von NSU Watch und VBRG. Ausschnitt aus einem Gespräch, das Heike Kleffner und Caro Keller führten. Das Interview wurde leicht bearbeitet.

    https://verband-brg.de/folge-7-vor-ort-gegen-rassismus-antisemitismus-und-rechte-gewalt-die-podcastserie-von-nsu-watch-und-vbrg/

    20.7.2020

    Gemeinsame Erklärung von Nebenklägerinnen und -klägern im Prozess gegen den Attentäter von Halle

    Am 21. Juli 2020 beginnt vor dem Oberlandesgericht Naumburg im Landgericht Magdeburg der Prozess gegen einen Rassisten und Anhänger der „White Supremacy"-Ideologie. Diesem Mann werden Doppelmord, mehrfacher versuchter Mord, Volksverhetzung und andere Delikte vorgeworfen.

    Am 9. Oktober 2019 versuchte der Angeklagte mit der Absicht, am heiligsten Tag des jüdischen Kalenders, dem Jom Kippur, alle Mitglieder der dortigen jüdischen Gemeinde sowie deren Besucherinnen und Besucher – insgesamt 52 Personen – zu töten, die Synagoge in Halle zu betreten. Er war mit selbst gebauten Waffen und Sprengkörpern bewaffnet. Bei dem Versuch, in die Synagoge einzudringen, tötete er Jana L. auf der Straße, weil sie sich ihm näherte. Der Angeklagte fuhr daraufhin zu einem nahe gelegenen Döner-Restaurant und versuchte, die Angestellten und Gäste drinnen sowie die Flüchtenden zu ermorden. Dort tötete er einen jungen Mann, Kevin S. Im Verlauf des Angriffs bedrohte er mit Schüssen und seinem Fahrverhalten das Leben vieler weiterer Personen und verletzte mehrere bei seiner Flucht schwer.

    Wir möchten den Hinterbliebenen von Jana L. und Kevin S. und allen, die von rechter Gewalt in Deutschland betroffen sind – sei es in Halle, Kassel, Hanau oder durch den NSU – unser tiefes Mitgefühl aussprechen.

    Der Täter wählte seine Ziele auf der Grundlage einer weißen, rassistischen Ideologie, die Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Rassismus, Homophobie, Sexismus und Fremdenfeindlichkeit mit Verschwörungstheorien verschmilzt, aus. Seine Radikalisierung fand in Online-Communitys statt, die diese Überzeugungen stärkten und förderten. Dort wurde er durch andere Gewalttaten angestachelt, vor allem durch das Massaker von Christchurch im März 2019. Inspiriert von diesem Anschlag sowie von ähnlichen Hassverbrechen in El Paso, Poway und Oslo übertrug der Angeklagte seinen Angriff live im Internet. Er wollte ein öffentliches Spektakel veranstalten und anderen mit ähnlichen Ideologien beweisen, dass Taten wie die seine durchführbar sind, sie eigene Waffen mit geringem Aufwand herstellen und damit ähnliche Gewalttaten begehen können.

    Wir haben uns der Anklage des Generalbundesanwalts als Nebenklägerinnen und -kläger angeschlossen, um sicherzustellen, dass die rassistische Ideologie des Angeklagten und seine Integration in militante rechte Strukturen nicht nur im Gerichtssaal, sondern auch von den Strafverfolgungsbehörden und der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Die diesen Ideologien innewohnende Menschenverachtung ist jetzt und über diesen Prozess hinaus Anlass zum Nachdenken. Täter wie der Angeklagte brauchen keine physischen Gemeinschaften mehr, um von Gleichgesinnten Ermutigung und Unterstützung zu erhalten. Es ist wichtig, dass dieser Prozess Politikern, Strafverfolgungsbehörden und der breiten Öffentlichkeit als Erinnerung an unser ständiges Bedürfnis dient, Rassismus, Sexismus, Islamophobie und Antisemitismus, die unsere Gesellschaft durchdringen, aktiv entgegenzutreten und alle rechten Ideologien zu bekämpfen. Wir fordern, dass dieser Prozess dazu dient, den Mythos des „isolierten Einzeltäters" aufzudecken und eine verantwortungsvolle Politik zur Bekämpfung der zunehmenden Online-Radikalisierung zu entwickeln.

    Wir stehen in Solidarität mit allen, die von rechter Gewalt betroffen sind. Allein in den letzten Jahren haben die Taten, die wir in Kassel, Halle und Hanau erlebt haben, gezeigt, dass rechte Ideologien tödlich sind und uns alle betreffen. Als Gesellschaft tragen wir die Verantwortung, alle Menschen zu schützen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, ihrem Geschlecht oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Dazu müssen wir den Ideologien, die zu der Barbarei führen, die wir in Halle erlebt haben, und all denen, die solche Gewalt in Deutschland und im Ausland verherrlichen, furchtlos entgegentreten.

    *Wir bitten die Medien, sich uns bei der Weigerung anzuschließen, den Namen des Angeklagten zu nennen. Dies verstärkt lediglich seinen Bekanntheitsgrad, stellt ihn fälschlicherweise als Einzeltäter heraus und trägt dazu bei, ein Narrativ, dem wir uns nicht anschließen, zu verbreiten.

    13 Personen aus der Synagoge in Halle, unter ihnen Besucherinnen und Besucher und Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Halle, zwei Personen, die der Angeklagte auf der Flucht versuchte zu töten, zwei Gäste des Kiez-Döner und dessen Betreiber, die Brüder İsmet Tekin und Rıfat Tekin, der Vater des ermordeten Kevin S.

    Quelle: Blog der Nebenklage; www.halle-prozess-report.de/2020/07/20/20-07-2020-gemeinsame-erklaerung-der-nebenklaegerinnen-im-prozessgegen-den-attentaeter-von-halle/

    20.7.2020

    Sabrina Slipchenko im Gespräch mit Leftvision

    Ein strukturelles Problem von Rassismus und Antisemitismus

    Die Frage ist nicht, wie konnte Halle passieren? Oder: Wie konnten wir Halle geschehen lassen? Oder: Wie konnte die Polizei Halle geschehen lassen?

    Es geht eher darum, was in der Gesellschaft hat ihn veranlasst zu denken, dass er für die Taten, die er begangen hat, anerkannt werden würde. Warum hat er geglaubt, dass er mit offenen Armen begrüßt werden würde.

    Ich bin Sabrina. Ich lebe schon seit einigen Jahren in Berlin. Ich komme aus Philadelphia. Und ich arbeite für die jüdische Gemeinschaft in Berlin. Ich bin hier, weil ich bei dem Anschlag dabei war. Jom Kippur ist ein sehr wichtiger Tag im jüdischen Kalender. Es ist ein Tag der Buße. Ein Tag, an dem gefastet wird. Es sollte einer der heiligsten Tage im Jahr sein. Wir gingen nach Halle, um die dortige Gemeinde zu unterstützen. Wir aus Berlin waren etwa zehn oder fünfzehn Leute. Die Synagoge kann manchmal in bestimmter Hinsicht auch ein schwieriger Raum sein.

    Wir haben versucht, diesen Raum für uns wiederzubesetzen. Meine Freundinnen, Freunde und ich wollten uns in die Gebete versenken, um das Schöne, das darin enthalten ist, zu entdecken. Und so singen wir sie, während wir getrennt nach Geschlechtern sitzen. Und dann, am Vormittag, gerade an jener Stelle des Gottesdienstes, während von einer Ziege als Opfergabe die Rede ist, hörten wir einen lauten Knall.

    Bumm, bumm, bumm, bumm, bumm. Ich erinnere mich daran, dass ich nach rechts schaute, wo meine amerikanischen Freundinnen und Freunde saßen. Sie wussten sofort, was los war, weil wir in den USA derart viele Massenschießereien haben. Die anderen Leute wirkten ein wenig verwirrt. Sehr viele Informationen wurden weitergegeben: Es sind drei Täter, die schießen. Es ist einer, der schießt. Es sind nur Kinder, die mit Feuerwerkskörpern spielen und ihren Spaß haben. Es gab einen Moment, ab dem wir darauf warteten, dass jemand kommen würde, um uns zu retten. Wir dachten: okay? Dann haben wir gemerkt, dass niemand kommen würde, um uns zu retten. Da haben wir versucht, uns selbst zu organisieren, um uns irgendwie in Sicherheit zu bringen. Das hat bedeutet, dass die meisten Gemeindemitglieder in einem separaten Raum untergebracht werden mussten, die Türen mussten verbarrikadiert werden und dass wir nach oben gehen. Wir nahmen Decken und versuchten, daraus Stricke herzustellen, sodass wir im Notfall in der Lage wären, aus dem Fenster zu springen. Diese Art von Desinformation und Verwirrung hat lange angehalten oder zumindest fühlte es sich so an, als sei es eine lange Zeit gewesen. Tatsächlich waren es ungefähr zwanzig Minuten, bis die Polizei ankam. Die Medien haben die Sache so dargestellt, als wären wir Opfer geworden und hätten uns passiv verhalten. Ich erinnere mich daran, dass ich einen Artikel las – vom Lesen allein bekam ich schon ein Trauma – weil mir da dieser Opferstatus zugewiesen wurde. „Oh diese Juden! Ein weiterer antisemitischer Anschlag richtete sich gegen die Juden!" Abgesehen von dieser Passivität oder dieser unmittelbaren Viktimisierung, die ja sofort stattfand, gab es auch eine Art und Weise, sich auf die jüdischen Menschen zu konzentrieren, die außer Acht lässt, dass der Anschlag in Halle nicht nur antisemitisch war, sondern auch antifeministisch und rassistisch. Die erste Person, die in die Schusslinie des Täters geriet, war eine Frau.

    Er spricht über diese Frau in einer Art wie dieser: „Ich bedauere nicht, sie getötet zu haben. Denn wie kann sie es wagen, mir Widerworte zu geben. Das steht ihr nicht zu. Genauso im Döner-Bistro: Er sagte das, nicht wahr? „Sobald es klar war, dass ich nicht in die Synagoge konnte, habe ich begonnen, unter dem Gesichtspunkt der Hautfarbe zu schießen. Wenn man sich darauf fokussiert, dass der Anschlag von Halle ein antisemitischer Anschlag war, dann ist es einfach zu sagen: Gut, wir stellen mehr Polizeiautos gegenüber der Synagoge hin, wir machen eine Polizeipräsenz von 24 Stunden am Tag für die Synagoge. Die Jüdinnen und Juden sind sicher. Das Problem ist gelöst. Wir hätten von Anfang an da Polizei haben sollen. Denn natürlich ist zu erwarten, dass gegen die Juden ein Anschlag verübt werden würde.

    Nimm ein Polizeiauto, das jedes jüdische Kind von der Kita bis nach Hause begleitet.

    Das Problem wird auch dann nicht gelöst sein. Denn das Problem ist die rassistische Mentalität, die in der Gesellschaft tief verwurzelt ist. Der Prozess beginnt am 21. Juli 2020.

    Er ist für einige Monate angesetzt. Ich bin in dem Prozess Nebenklägerin zusammen mit zehn bis fünfzehn anderen Leuten, inzwischen mehr. Wir konzentrieren uns in dem Prozess darauf, dass dies als ein größeres Problem angesehen wird, dass mit der Auffassung gebrochen wird, es handele sich um eine Einzeltäterideologie. Wir möchten aufzeigen, dass es sich um ein strukturelles Problem von Rassismus und Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft handelt.

    Es gibt ein Narrativ über Stephan und Leute wie ihn, das besagt, dass diese Leute im Internet radikalisiert wurden und dass sie allein in ihren Zimmern sitzen und den ganzen Tag mit diesen Internetlöchern zubringen. Diese Rede vom „einsamen Wolf oder „Einzeltäter macht es für die Gesellschaft erträglicher: „Okay – das Problem, das wir haben, hat nichts mit strukturellem Rassismus zu tun, sondern das ist einfach einer, der verrückt ist; der zu Hause Waffen herstellt."

    Er ist von anderen inspiriert, die zuvor bereits Massenschießereien veranstaltet haben wie in Christchurch, Pittsburgh oder Orlando. Auch der Mord an Walter Lübcke zum Beispiel hat ihn inspiriert. Auch die früheren Taten von Nazis haben ihn inspiriert. Und er ist auch durch Alltagsrassismus inspiriert. Er ist auch inspiriert durch die Flut von Rassismus in der Politik, was in Deutschland wie in der ganzen Welt normal geworden ist. In vielerlei Hinsicht fühlt sich der Prozess von Halle für mich wie ein Schauprozess an. Von Anfang an wissen wir, was geschehen wird. Er wird ins Gefängnis gehen, wahrscheinlich für lange Zeit, und trotzdem löst das nicht das Problem. Trotzdem wird es sich nicht so anfühlen, als würde es Gerechtigkeit gegeben haben. Denn der Mord an Oury Jalloh ist noch immer nicht aufgeklärt. Oder die Fragen rund um NSU 2.0 sind auch noch offen. Die Probleme mit Nazis und Rassisten in Militär und Polizei und innerhalb des Justizsystems sind ungelöst. Die Probleme, durch die Eingewanderte, Linke, Feministinnen, Jüdinnen und Juden in Gefahr sind, sind immer noch da, auch wenn dieser Mann ins Gefängnis geht.

    Leicht bearbeitetes Interview, gehalten vor Prozessbeginn am 20. Juli 2020 in englischer Sprache. Dank für die Wiedergabegenehmigung durch Leftvision. [Übers. durch d. Hg.]

    https://www.youtube.com/watch?v=AdqIecPj-LQ

    21.7.2020

    Rabbinerin Rebecca Blady und Rabbiner Jeremy Borovitz

    Gegen „sündhaftes Verhalten" protestieren, wo immer es möglich ist

    Wer das Vermögen hat, wirksam das sündige Verhalten seiner Hausangehörigen zu wehren, und dies unterlässt, wird für die Sünden seiner Hausangehörigen festgesetzt und bestraft. Wenn er in der Lage ist, das sündige Verhalten der Menschen seiner Stadt zu wehren, und dies unterlässt, wird er für die Sünden der Menschen seiner Stadt festgesetzt. Wenn er in der Lage ist, das sündige Verhalten der ganzen Welt zu wehren, und dies unterlässt, wird er für die Sünden der ganzen Welt festgesetzt.

    (Übersetzung nach der englischen Talmud-Übersetzung)

    Babylonischer Talmud, Sabbat 54b

    Der 21. Juli 2020 ist der Tag, an dem sich ein neuer Pfad zur Gerechtigkeit in Deutschland eröffnen sollte. Dieses Land stellt einen Verfechter der weißen Vorherrschaft vor Gericht, einen Mann, der eindeutig Antisemitismus, Rassismus und Misogynie offenbart hat, einen Mann, der versucht hat, Jüdinnen und Juden zu töten an ihrem heiligsten Tag, an Jom Kippur, der versucht hat, mich und meine Familie zu töten, der versucht hat, Mitglieder meiner Gemeinde und anderer Minderheiten zu töten. Es handelt sich um einen Mann, der aus reinem Hass gegen Minderheiten gezielt die Menschen in einer Synagoge und in einem Döner-Restaurant angegriffen hat – und der mit seiner Botschaftstat scheiterte, aber sein Ziel des Mordens erreichte und zwei Menschen, Jana L. und Kevin S., tötete. Dieses Geschehen ist eine Schande für das Land Sachsen-Anhalt, wo es sich zutrug, und es ist eine Schande für dieses Land.

    Heute rufen wir unsere Freundinnen und Freunde, Nachbarinnen und Nachbarn, Mitbürgerinnen und Mitbürger in der deutschen Gesellschaft auf, eure Stimmen zu erheben. Der Talmud, unser rechtlicher und philosophischer jüdischer Grundlagentext, ruft jeden von uns auf, gegen „sündhaftes Verhalten" zu protestieren, wo immer es uns möglich ist. Wenn wir die Möglichkeit haben, Einfluss zu nehmen, und diese Möglichkeit verspielen, sind auch wir für die Fortführung sündigen Verhaltens verantwortlich.

    Es steht außer Frage, dass Antisemitismus, Rassismus und ähnliche Formen von Hass und Vorurteilen solch ein sündhaftes Verhalten darstellen; es steht außer Frage, dass der angeklagte Täter sich diese hasserfüllten Ideologien zu eigen gemacht hat und danach handelte. Wir als kollektive Gesellschaft haben noch so ungeheuer viel Arbeit zu leisten, um uns von diesen Ideologien zu befreien, um sie vollständig aus unserer Mitte zu verbannen, wo auch immer sie zu finden sind: in unseren Haushalten, in unseren Städten, in der Welt.

    Mit dem Beginn des Prozesses gegen diesen Täter sind wir mit einem Moment konfrontiert, in dem sich uns eine gewaltige Gelegenheit bietet, vereint zusammenzustehen, auf der Grundlage der Prinzipien der Gerechtigkeit. Wir müssen diesem Täter gemeinsam entgegenstehen und die Geschichten seiner Opfer in den Vordergrund rücken. Wir müssen Zeugnis ablegen, wie tödlich hasserfüllte Ideologie ist. Und wir sollten unsere Politikerinnen und Politiker, Ministerinnen und Minister, Polizistinnen und Polizisten und alle, die dem Aufbau einer gerechten und gleichberechtigten Gesellschaft in Deutschland verpflichtet sind, inständig bitten, das Verfahren nicht als letzten Schritt in dieser Entwicklung zu betrachten.

    Dieser Moment sollte uns daran erinnern, dass noch viel Arbeit vor uns liegt – und dass der Charakter dieser Arbeit über die symbolische Unterstützung für die jüdische Community und die Communitys von Minderheiten hinausgehen muss. Wir sollten uns für einen echten Wandel innerhalb unserer Verwaltungsstrukturen einsetzen. Wir sollten die Schaffung von Bildungsplattformen und Interessenvertretungen fördern, die sich gezielt an Menschen in Machtpositionen richten, damit diese ihrerseits eine gerechtere Gesellschaft schaffen können. Wir sollten uns bewusst sein, dass ein solcher Moment eine Gelegenheit für einen wirklichen systemischen Wandel ist; mit anderen Worten, eine Gelegenheit für wirksamen Protest. Lasst uns diese Chance nicht verspielen.

    Gemeinsame Erklärung, gehalten vor dem Gerichtsgebäude in Magdeburg, siehe auch Blog der Nebenklage https://www.halle-prozess-report.de/2020/07/22/21-07-2020-erklaerung-der-nebenklaegerin-rebecca-blady-und-des-nebenklaegers-jeremy-borovitz-am/

    28.7.2020

    İsmet Tekin

    Wieso stört euch unser Glaube? Wieso hasst ihr uns so sehr?

    Liebe Mitmenschen, liebe Unterstützer,

    mein Name ist İsmet Tekin. Neben mir steht mein Bruder Rıfat.

    Wir sind Überlebende des Anschlags vom 9. Oktober 2019 in Halle. Jana L. und Kevin S. haben diesen Tag nicht überlebt. Ich würde euch daher darum bitten, eine kurze Schweigeminute für die Opfer einzulegen.

    Vielen Dank!

    Heute vor euch zu sprechen, fällt mir nicht leicht, auch wenn ich mittlerweile geübter darin bin, Interviews zu geben. Es kostet mich viel Kraft, gemeinsam mit meinem Bruder hier zu stehen.

    Wir stehen hier, atmen und unsere Herzen schlagen wie immer. Unsere Körper sind unversehrt, aber unsere Seelen sind es nicht. Seit dem Anschlag kämpfen wir mit den mentalen Folgen. Mein Bruder Rıfat war früher immer fröhlich und hat uns zum Lachen gebracht. Das ist nun anders. Seither haben wir keinen unbeschwerten Tag und keine ruhige Nacht mehr erleben können. Die Todesangst, die Sorge umeinander, die bangen Stunden der Ungewissheit und die große Trauer um den Verlust zweier unschuldiger Menschen begleiten uns jede Sekunde. Es gab ein Leben vor dem Anschlag und es gibt nun ein anderes Leben.

    Auch unsere Arbeit im Kiez-Döner ist nicht dieselbe, die sie mal war. In unserem Laden wurde ein junges Leben ausgelöscht. Kevins Tod hat uns schwer erschüttert. Der Kiez-Döner ist damit auch eine Art Gedenkstätte geworden. Eine Gedenkstätte für die Opfer des feigen, rechtsextremistischen Anschlags vom 9. Oktober 2019. Mein Bruder und ich möchten diesen Laden erhalten, auch um Kevins Andenken zu bewahren. Wir möchten, dass dieser Laden im Herzen Halles bestehen bleibt und nicht dem Willen des Attentäters entsprechend verschwindet und „ausgelöscht" wird. Wir möchten uns nicht vertreiben lassen.

    Für den Bestand des Ladens werden wir mit all unserer Kraft kämpfen. Das verspreche ich. Ich weiß, dass viele Menschen in Halle das genauso sehen. Auch sie wollen nicht, dass der Kiez-Döner verschwindet. Und doch kommen nur noch wenige Gäste in unseren Laden. Die Politik hat uns Hilfe versprochen. Doch bekommen haben wir sie nicht. Wir haben auch bei der Stadt und dem Oberbürgermeister um Hilfe gebeten. Auch sie waren nicht solidarisch. Wir wurden einfach mit unseren Problemen alleingelassen.

    Ich wollte mich diesem Verfahren als Nebenkläger anschließen, denn die Schüsse des Attentäters haben mich nur knapp verfehlt. Doch die Bundesanwaltschaft war dagegen. Das Gericht hat mich abgewiesen. Sie sagten, der Attentäter wollte mich nicht töten. Ich wünschte, es wäre so gewesen. Dann hätte ich vielleicht diese Albträume nicht mehr. Erst am Freitag wurde ich zugelassen. Warum macht man es mir noch schwerer, als es ohnehin schon

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