Erhebe deine Stimme und werde Licht
Von Jobst Bittner
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Über dieses E-Book
Es ist nicht genug "Nie wieder" zum Holocaust zu sagen, wenn wir verhindern wollen, dass Judenhass in Gewalt übergeht und antisemitische Diffamierungen sich weiter ausbreiten. Wir können in der heutigen Zeit wieder Mitläufer sein und wie unsere Vorfahren durch unser Schweigen schuldig werden.
Wer sein Schweigen bricht, erhebt seine Stimme und wird Licht! Dieses Buch berührt, inspiriert und hilft dabei, mit praktischen Schritten den Unterschied zu machen.
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Buchvorschau
Erhebe deine Stimme und werde Licht - Jobst Bittner
lassen!
I. TÜBINGEN BITTET UM VERGEBUNG
Tübingen ist eine ehemalige Nazistadt. Heute geht von dort die Marsch des Lebens Bewegung aus, die inzwischen in 370 Städten und 20 Nationen zehntausende Menschen mobilisiert hat, gegen Antisemitismus und für Israel ihre Stimmen zu erheben. Sie wurde in der Knesset für ihren Einsatz für Holocaustüberlebende mit zwei Awards ausgezeichnet. Von der jüdischen Gemeinde in Halle wurde ihr der Emil-L.-Fackenheim-Preis für Toleranz und Verständigung zuerkannt.
Der erste Marsch des Lebens fand im Jahr 2007 statt. Es war ungewöhnlich. Die Nachkommen der Tätergeneration in Deutschland wollten nicht länger zu Antisemitismus und Judenhass schweigen. Sie begannen, die Geschichten ihrer Familien zu erzählen und baten für die Schuldverstrickungen ihrer Vorfahren um Vergebung. Sie begegneten auf diesem Marsch zum ersten Mal Holocaustüberlebenden und ihren Nachfahren und entdeckten, dass sie auch über 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch unter dem Schatten und mit dem Schmerz des Holocaust leben mussten. Die Kinder und Enkel der Täternachkommen wollten das Schweigen ihrer Eltern und Großeltern brechen. „Tubingen begs for forgiveness" stand damals auf der Titelseite der Jerusalem Post. Hier erfahren Sie den Hintergrund dieser Geschichte.¹
Die kleine Universitätsstadt Tübingen liegt in Süddeutschland ungefähr 30 Autominuten von Stuttgart entfernt. Sie ist eine typische deutsche Stadt mit Fachwerkhäusern und einem Fluss, der mitten hindurch fließt. An warmen Sommertagen sitzen Studenten am Rand des Neckars und beobachten die langen Kähne, die wie Gondeln in Venedig mit langen Stäben vorangetrieben werden. Eigentlich ist Tübingen das Bild eines deutschen Idylls. Kein Tourist ahnt, dass diese hübsche Stadt eine finstere Geschichte des Antisemitismus hat und im Nationalsozialismus zu den geistigen Vorreitern der damaligen Zeit gehörte.
Das möchte ich mit ein paar Fakten erhärten, damit Sie es sich besser vorstellen können. In der über 1.400-jährigen Geschichte Tübingens lebten bis zu ihrer Deportation 1942 nur 120 Jahre lang überhaupt Juden in der Stadt. Ihr Leidensweg ist eine einzige Geschichte von Verfolgung, Pogromen und immer wieder neuer Vertreibung. Im Jahr 1477 wurde die Tübinger Universität von Graf Eberhard im Bart gegründet, einem erklärten Antisemiten, der mit der Gründung der Universität Juden für 400 Jahre aus Tübingen und der ganzen Region vertrieb. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts kehrten Juden allmählich wieder zurück und bauten im Zentrum der Stadt eine schöne Synagoge auf, die in der Reichspogromnacht 1938 zuerst demoliert und dann niedergebrannt wurde. Die meisten Mitglieder der jüdischen Gemeinde wurden deportiert. Die Tübinger Universität wurde in der Zeit des Nationalsozialismus zu einem Wegbereiter der „Endlösung der Judenfrage" und stellte die meisten fanatischen Vordenker und effizientesten Massenmörder, die an vorderster Front der SS-Einsatzgruppen und des Sicherheitsdienstes an der sogenannten Endlösung teilnahmen.
Der Tübinger Orientalist und Indologe Jakob Wilhelm Hauer (1881 – 1962) wurde ab 1935 Leiter des von der Universität neu eröffneten „Arischen Instituts". Sein Privatsekretär Paul Zapp organisierte Massenexekutionen in Rumänien, in der Ukraine und in Russland. Der Tübinger Theodor Dannecker war verantwortlich für die Deportationen französischer und ungarischer Juden nach Auschwitz. Insgesamt geht man davon aus, dass durch die Hand Tübinger SS-Massenmörder mehr als 700.000 Juden auf grausamste Weise ihr Leben lassen mussten.
Die Mitschuld Tübingens am Holocaust warf einen dunklen Schatten auf unsere Stadt. Es gibt jedoch keine Finsternis, die durch das Licht Gottes nicht überwunden werden kann. Meine Stadt ist dafür ein lebendiges Zeugnis.
Wie viele der Nachkriegsgeneration schämte ich mich für meine Nation. Deutschland als Land zu lieben, war für mich nationalistisch, rückwärtsgewandt, also einfach undenkbar. Gleichzeitig hatte ich seit meiner Jugend eine innere Verbindung zu Israel. In meiner ersten christlichen Unterweisung wurde ich auf die Erwählung des Volkes Israel hingewiesen, was seitdem für mich zu einem kostbaren Schatz geworden ist. Ich weiß nicht, warum ich mit niemandem darüber sprach und versuchte, meine innere Verbindung zu Israel verborgen zu halten. In mir steckte eine Indifferenz und innere Gleichgültigkeit, die ich in der Geschichte unserer Stadt später wiederfand. Dieselbe Indifferenz und innere Gleichgültigkeit waren das Kennzeichen einer schweigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung, die zur Zeit des Nationalsozialismus zugeschaut hatte, wie ihre jüdischen Nachbarn beraubt, erniedrigt und abtransportiert wurden. Ohne eine schweigende Mehrheit hätte die Schoah in Nazideutschland und damit auch die schreckliche Geschichte unserer Stadt niemals stattfinden können. Die Geschichte der Veränderung in unserer Stadt und der Anfänge vom Marsch des Lebens ist schnell erzählt. In einer Zeit der Krise wurde uns als Gemeinde im Gebet folgender Satz zu einem geistlichen Schlüssel: „Das Schweigen eurer Väter ist in euch!" Gemeint war: Es gibt in euch ein Schweigen, das euch ebenso zu passiven und gleichgültigen Mitläufern macht wie die Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus. Konnte es sein, dass wir 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer noch unter dem Schatten des Holocaust lebten?
Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir. (Jes 60,2)
Sicher hatte das auch mit der mühsamen Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit unserer Stadt zu tun, die Anfang der 80er Jahre erst begonnen hatte. Das Nachkriegsdeutschland ließ sich allzu gerne in Täter und Mitläufer einstufen, wobei selbst verurteilte Kriegsverbrecher von allerobersten politischen Stellen so viel Hilfe bekamen, dass sie sehr oft vorzeitig aus dem Gefängnis wieder entlassen, resozialisiert und in das gesellschaftliche Leben integriert worden sind. Klare Schuldgeständnisse gab es kaum. Wer als Mitläufer eingestuft werden konnte, wurde rehabilitiert. Über die Schuld der Vergangenheit legte sich ein schwerer dunkler Vorhang.
Die Aufarbeitung und Entnazifizierung der Universität geriet zu einem völligen Debakel. 85 Prozent der entlassenen oder längerfristig suspendierten Professoren erreichten innerhalb von zehn Jahren ihre Rehabilitierung und kehrten zum größten Teil an die Universität zurück. Beinahe 30 Jahre lang wurde geschwiegen und sogar gelogen. So blieb der dunkle Teil unserer Geschichte für lange Zeit ausgespart. Die Generation, die schuldig geworden war, hatte es weitgehend geschafft, alle beschämenden oder verbrecherischen Vorgänge unter der Decke zu halten. Nach 1945 prägten den Umgang mit der NS-Zeit Verdrängen, Schweigen und ein beschämendes Feilschen um den von den Finanzämtern beschlagnahmten jüdischen Besitz.² Man kann sich vorstellen, dass die Wahl eines ehemaligen SA-Standartenführers und Nazidiplomaten, der in der Slowakei an der Deportation von 59.000 Juden beteiligt war, zum langjährigen Tübinger Oberbürgermeister und später auch zum Ehrenbürger für die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit der Stadt nicht gerade förderlich war. Er wurde 1954 von beinahe 55 Prozent der Bürger trotz seiner Vergangenheit gewählt. Anscheinend bedeutete seine braune Vergangenheit für einen großen Teil seiner Wähler eher eine Empfehlung, als dass sie damit ein Problem gehabt hätten. Hans Gmelin blieb 25 Jahre im Amt und prägte in Amt und Würden die Tübinger Vergangenheitspolitik entscheidend mit. Er wurde in Tübingen zu einer Schlüsselfigur des Verdrängens und des politischen