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Rikscha Blues: Roman
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eBook326 Seiten4 Stunden

Rikscha Blues: Roman

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Über dieses E-Book

Ein moderner Trottel- oder Schelmenroman kombiniert mit Kerouacs „On the road“-Spirit: „Ich hab den Rikscha Blues“, erzählt der unglückliche und narzistische Romanheld, ein erfolgloser, aber gut beobachtender Rikschafahrer in Berlin, der ständig in neue Geschichten verstrickt wird. Rikscha Blues ist sein autobiografischer Roadtrip durch Leben, Liebe, Fremdenverkehr und die Literatur. Jeder Tag bringt neue Fahrgäste, Bekanntschaften, Abenteuer und seltsame Geschichten, die Episode um Episode, Straße um Straße auf den Höhepunkt zusteuern.
Man liest mit einem Lachen im Gesicht: Das Buch wird uns berauschen, die tragischste Liebesgeschichte liefern, Berlin als Kulisse neue Ehre machen, den Spirit der Stadt einfangen, so, wie es ihn bald nicht mehr geben wird. Am Ende ist es aber auch eine lakonische, nackte Abrechnung mit der Stadt, falscher Liebe und den Wirrungen des Zwischenmenschlichen. Ein Roman als Rikschafahrt. Skurril. Schnell. Immer unterwegs. Auch ihr werdet den Rikscha Blues bald haben!

„Ein Roadtrip durch Berlin? Um den zu erleben muss man es wie Falko Hennig machen, sich auf eine Rikscha setzen und durch Wahnsinn und Schönheit dieser Stadt treiben lassen.“
Jakob Hein

„Selbst, wenn es tragisch wird, haut dieser immer leicht journalistische Ductus gut hin.“
Uli Hannemann

„Die Rikscha ist in Fahrt!“
Michael von Orsouw
SpracheDeutsch
HerausgeberOmnino Verlag
Erscheinungsdatum17. Okt. 2018
ISBN9783958940994
Rikscha Blues: Roman
Autor

Falko Hennig

Falko Hennig wurde 1969 in Berlin Friedrichshain geboren und lebt am Alexanderplatz. Er war Schriftsetzer, Taxifahrer und Bauarbeiter, heute arbeitet er als Touristenführer, Vortragskünstler und Schriftsteller. Seit 1995 liest und singt er jeden Sonntag in der Reformbühne Heim & Welt.

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    Buchvorschau

    Rikscha Blues - Falko Hennig

    1. Teil

    Brief an Rikscha-Taxi

    Was verwechseln, das kann jedermann.

    Was verwechseln, das kann jedermann.

    Aber gar nichts wissen, dann ist man dran.

    Ich hab den Rikscha Blues.

    Beschwerde über Ihren Angestellten Falko Hennig

    Karlsruhe, 10. November

    Sehr geehrte Damen & Herren von Rikscha-Taxi,

    angezogen hat meine Frau und mich Ihre Werbung „Mit Rikscha-Taxi fahren Sie richtig! und so buchten wir für unseren Urlaub eine Rikschatour zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten. Es heißt in Ihrer Reklame, dass sowohl Neuankömmlinge als auch „alte Hasen in Berlin mit einer solchen Fahrt die richtige Wahl träfen. Dafür sorge der perfekte Mix aus obligatorischen Klassikern wie dem Hackeschen Markt, dem Potsdamer Platz und dem Regierungsviertel sowie „hidden places, also Wohnsitzen von Promis und Szeneeinblicken. Ergänzt werde die Fahrt durch umfassendes Hintergrundwissen von qualifizierten Fahrern, ich zitiere: „erfahrene Stadtführer, die Maßstäbe setzen.

    Maßstäbe hat der Guide Falko Hennig, mit dem wir am 22. Oktober fuhren, wirklich gesetzt mit einer Fahrt, auf die meine Frau und ich sehr gern verzichtet hätten. Vielleicht hätten wir schon durch die merkwürdige Kleidung unseres Fahrers stutzig werden müssen, die selbst für Berliner Verhältnisse auffällig schäbig und geschmacklos war. Dazu stank er penetrant, womöglich wegen seiner schweren Hautkrankheit, die wohl niemand sonst einem Publikum zugemutet hätte.

    Gegen einen Joint nach Feierabend haben wir wirklich nichts, aber dieser Fahrer hat stinkenden Skunk derartig Kette geraucht, dass meine Frau und ich die ganze Zeit hustend in seiner Rauchfahne sitzen mussten.

    Elfmal gelang es diesem Individuum, mit der Rikscha gegen Wände, Mauern oder Bäume zu fahren. Von den roten Ampeln, die er überfuhr, den Einbahnstraßen in der falschen Richtung und Bürgersteigen, über die er mit irrsinnigen Tempo raste, wohlgemerkt mit uns als seinen Geiseln in der Rikscha, will ich gar nicht erst anfangen, da dies den Rahmen dieses Briefes sprengen würde.

    Dass dieser Mensch schon vor Beginn der Fahrt und dazwischen nicht weniger als sieben mal auf seine Bücher hinwies, die er zu verkaufen habe, war besonders nervend. Er hörte damit auch nicht auf, als wir für unsere Verhältnisse extrem deutlich gemacht hatten, dass wir keinerlei Interesse daran hätten. Schon die oberflächlichste Recherche zeigte uns nach diesem Horrortrip, dass er sich nicht als Schriftsteller, sondern ausschließlich als Plagiator einen Namen gemacht hat. Sein aufdringliches Geschäftsgebaren erinnerte uns an das aus afrikanischen und arabischen Ländern, aber es war nicht verbunden mit dem Charme beispielsweise ägyptischer Händler.

    Anfangs fanden wir seine undurchdringliche Sonnenbrille gruselig und wir wünschten, dass er sie mal absetzte. Vom Augenblick an allerdings, als er das getan hatte, sich zu uns umdrehte und wir seine blutunterlaufenen, glasigen Augen sehen mussten, hätten wir es begrüßt, wenn er sie wieder aufgesetzt hätte.

    Dass unser Fahrer meistens keine Ahnung hatte, wo er sich befand, konnten wir nicht übersehen. Wo wir zum Beispiel genau waren, als er uns das angebliche Geburtshaus von Hitler zeigte, wusste er offensichtlich nicht. Aber dass es unmöglich ein Plattenhochhaus von ungefähr 1985 sein konnte, war auch uns als historische Laien klar. Auch hinterließen seine ständigen Erwähnungen des Führerhauptquartiers, aus dem er komme und in das er wieder zurück müsse, bei uns einen bitteren Geschmack.

    Seine Frage, ob wir „auch so nen Brand" hätten, verneinten wir ausdrücklich. Gern hätten wir die Fahrt abgebrochen, aber weder wir noch unser Fahrer wussten ja, wo in Berlin wir überhaupt waren. Dass wir mit ihm auf der Avus auf dem Randstreifen der Autobahn bis zur Ausfahrt Spanische Allee fahren mussten und uns am Arsch der Welt wiederfanden, das verdanken wir Ihrem grandiosen Angestellten.

    Sein immer wieder vorgebrachter Vorschlag, doch in diese oder jene Kneipe einzukehren, um „die Kehle anzufeuchten, „einen zu zwitschern, „ein Sturzbier da vorn zu nehmen, weil doch hier sehr „trockene Luft sei, lehnten wir ausdrücklich ab. Gerade von trockener Luft konnte bei dem feuchtkalten Wetter in keiner Weise die Rede sein.

    Einige seiner Fehlleistungen habe ich in Erinnerung. Der angebliche Biber-Damm war eindeutig die Mühlendamm-Schleuse. Der angebliche Darkroom von Wowereit im Roten Rathaus war ein Wasserloch unter einem Bauwagen in Treptow. Dass Barack Obama und Helmut Kohl ausgerechnet an der Currybude Mehringdamm zusammen gegessen haben, ist doch auszuschließen. Auffällig war der Geldschein, mit dem sich unser Fahrer beim Mann von der Frittenbude auszahlen ließ.

    Nun wollte er mit uns „jetzt mal ordentlich einen löten und „einen schnasseln, weil es so heiß sei und das jeweilige Lokal besonders bemerkenswert. Dies beruhte ausschließlich auf seinem Wunsch. In Wirklichkeit war es ziemlich kalt. Weder meine Frau noch ich wollten am Morgen schon Alkohol trinken.

    Dass dieser Touristenführer behauptete, ein prominenter Autor zu sein und viele Bücher zur Geschichte der Stadt geschrieben zu haben, ist ein Hohn. Wir haben ja schon erlebt, dass jemand die vielen Friedrichs und Wilhelms in der Berliner Geschichte durcheinanderbringt. Aber noch nie einen, der Erich Honecker mit Nelson Mandela verwechselt, von denen, ganz nebenbei, ebenfalls keiner in Berlin geboren oder gestorben ist. Erst recht wurden sie nicht auf dem Marktplatz mit glühenden Zangen gezwickt, gevierteilt und die Teile an den vier Stadttoren auf Spießen ausgestellt.

    Seine Unfähigkeit zeigte uns der Fahrer am Brandenburger Tor, das er als höchstes Gebäude der Stadt bezeichnete, obwohl alle angrenzenden Häuser deutlich sichtbar höher waren. Dass es 1980 zur 1000-Jahrfeier Berlins eingeweiht worden sei und man unterm Dach in einem Drehrestaurant speisen könne, waren dann noch die i-Tüpfelchen auf seinem Quark der Inkompetenz. Dieser Mann ist entweder schwer dement, wahnsinnig oder steht unter Einfluss einer Überdosis sehr gefährlicher Drogen.

    Zu dem verheerenden Gesamteindruck seiner Arbeit kam hinzu, dass er beim Fahren offensichtlich versuchte, sämtliche Hunde auf den Gehwegen und in den Nebenstraßen zu fotografieren. Als es regnete, schützte sich dieser Irre mit einem Regenschirm, in der Rikscha fahrend und weiterhin fotografierend, ein abscheulicher Anblick für uns hilflos hinten sitzend und ganz unmöglich war es ihm, dabei auf den Verkehr oder uns zu achten.

    Lediglich der Auffälligkeit seiner in schreienden Farben lackierten Rikscha ist es zu verdanken, dass schlimmere Unfälle verhindert wurden.

    Wir legten keinen Wert auf seine unvermittelten Erzählungen aus dem Drogenmilieu, wo in Saloniki und Harrar in Abessinien man guten Stoff kaufen könne oder wie er in Jijiga völlig high mit dem Gouverneur auf Löwen geschossen und wie viel Nasen er mit Gerhard Schröder gezogen habe, wo welche Drogen hergestellt würden und wo er schon überall verhaftet worden sei, offensichtlich nicht nur wegen Drogendelikten, sondern auch wegen diverser Überfälle, Einbrüche und schwerer Körperverletzung.

    Weder meine Frau noch ich wollte wissen, wo und mit wem dieser hässliche Mensch überall schon Sex gehabt hatte. Erst recht waren wir nicht daran interessiert, wo seinem Vater der Fuß amputiert worden sei. Bei einem Zahnarzt wohlgemerkt, wenn man seinen Worten glauben würde, was wir nicht tun. Seine wiederholten Erwähnungen der Massenmörder an der Charité lassen auf eine akute Persönlichkeitsspaltung schließen.

    Wer will denn wissen, wo diesem Individuum ein Furunkel am Hoden entfernt worden sei? Wir nicht!

    Von den vielen Leuten, die er unterwegs grüßte, kannte ihn niemand. Die Namen, die er ihnen zurief, unter anderem Orje, Kalle und Hotte, stimmten kein einziges mal.

    Auf den Fotos, die er zur Illustrierung seiner Ausführungen zeigte, waren ausschließlich dicke Kinder abgebildet.

    Des Weiteren fiel sein Zittern und Schwitzen unangenehm auf, dazu stotterte er häufig und sprach dann minutenlang in einer Phantasie-Sprache. Darauf angesprochen, erwiderte er zu seiner Verteidigung, in Abchasien würde man diese Sprache sprechen. Das ist völlig unglaubhaft!

    Noch nie haben wir in irgendeinem Land einen so übelriechenden Menschen getroffen. Als er Blauer Mond von Berlin sang, ist uns schlecht geworden. Die absurdesten Verwechslungen unterliefen dem Fahrer am Reichstag, den er uns ernsthaft als Plötzensee vorstellte.

    Wir hoffen inständig, dass dieser Mann nicht typisch für Ihre Rikscha-Fahrer ist. Bitte feuern Sie ihn und sorgen Sie dafür, dass er niemals wieder in Berlin arglose Reisende in die Irre und ins Verderben fährt!

    Mit freundlichen Grüßen

    Dr. jur. Rolf Gottwald (Karlsruhe)

    Richter im Ruhestand

    Abgekürzte Anfänge

    Mit BS und PA gings bergab.

    In der DDR mochte mans knapp.

    Die DDR kürzte sich selber ab.

    Ich hab den Rikscha Blues.

    Ehrlich gesagt, konnte ich mich an die Fahrt nicht erinnern. Aber dass sie so war, wie von Herrn Gottwald beschrieben, würde ich ausschließen. Allerdings wäre es wohl ganz gut, wenn ich es wissen und nicht nur vermuten würde. Aber so sehr ich auch mein Hirn zermarterte, mir fiel weder sein Gesicht noch das seiner Frau noch die Tour ein, von der er schrieb.

    Aber ich sollte mich erinnern, wenn es stimmte und erst recht wenn es nicht stimmte. Hatte ich wirklich während der Fahrt gekifft? Mit einem Richter in der Rikscha? Wie war diese Fahrt in Wirklichkeit abgelaufen?

    Ich muss mich verdammt nochmal erinnern! Das mit dem Trinken konnte einfach nicht stimmen, ich war seit fast zehn Jahren trocken! Dass ich gewohnheitsmäßig kiffte, traf zu, aber doch nicht während der Fahrt mit Passagieren! Oder doch? Was war da passiert?

    Gelernt hatte ich noch in der DDR den Beruf des Schriftsetzers, Spezialisierungsrichtung Zeitungsumbruch. Meine Druckerei gibt es schon lange nicht mehr, es war die Druckerei des MfNV. In der DDR hatten sie dieses Faible für Abkürzungen, von denen niemand wissen konnte, was sie bedeuteten. Das fing schon in der Schule an, wie alle anderen war ich aufgewachsen mit ZV, PM, UTP, ESP, PA, PAG, ASV, AWG, EOS, AK, BGL, FDGB, SED, VP, DSF und tausend anderen Abkürzungen.

    Meine Lieblingsabkürzungen aus der DDR waren D.G.S für Deutsches Großsilberkaninchen, E.g.H. für eine Kuh namens Einfarbig gelbes Höhenvieh, D.w.E. für Deutsches weißes Edelschwein und MuFuTi für Multifunktionstisch. Auch BZF fand ich einen Hit, die Abkürzung für das Bremszylinderfett Boluskol. Ich nehme an, dass sie es in großen Mengen in den W50 gegossen haben.

    Meine Heimatstadt Ludwigsfelde stand im Zeichen von IFA, das war der Industrieverband Fahrzeugbau, dort wurde der W50 gebaut, ein Lastwagen von fünf Tonnen, der in Werdau entwickelt worden war, was diese Abkürzung erklärt.

    Wenn ich mich bei meinen Stadtführungen vorstellte, ließ ich Ludwigsfelde lieber weg, das war zu kompliziert und darüber konnte ich mich mit Berlinern unterhalten, ob die Industriestadt zu Berlin gehörte oder nicht. Vor dem W50 war dort der Motorroller Berlin gebaut worden. Ich sagte den Touristen einfach, dass ich in Berlin geboren worden war und basta. Wen es noch detaillierter interessiert: Im Oktober 1969, als der Fernsehturm eröffnet wurde, 1,67 Kilometer entfernt.

    Ich hatte in Mitte an der BBS des ND gelernt, der Betriebsberufsschule des Neuen Deutschland, mein Stammbetrieb war die Druckerei des MfNV in Schöneweide, also des Ministeriums für Nationale Verteidigung.

    Dass ich mich in dieser Druckerei ausbilden lassen hatte, offenbarte meinen Opportunismus, ich hatte pazifistische Ideale und lehnte Militär und besonders die NVA der DDR ab, ach so, NVA, das war die Nationale Volksarmee. Ich hatte den Wehrunterricht gehasst und das Wehrlager und die Wachablösung und den Stechschritt und die Preußenverehrung und die Militarisierung des ganzen Alltags in dieser Scheiß-DDR. Wahrscheinlich hätte ich den Dienst an der Waffe verweigert. Aber diese friedlichen Ideale hatten mich nicht daran gehindert, bei der militaristischsten Druckerei des östlichen Deutschlands zu lernen und wäre die DDR nicht untergegangen, hätte ich bestimmt meinen Lebensweg mit immer weiter zunehmender Anpassung absolviert.

    Andererseits hatte ich auch immer wieder Konflikte mit der Polizei und das war seit Ende der DDR nicht viel besser geworden. Die DDR gabs nicht mehr, genauso wenig wie meine Druckerei oder auch nur den Beruf des Schriftsetzers. Ich hatte mich autodidaktisch zum Stadtführer fortgebildet und, wie ich immer betonte, wenn ich mich den Touristen vorstellte, auch zum Schriftsteller, Stadtbilderklärer und Vortragsreisenden.

    Fast jeden Tag hatte ich irgendwann Fahrradtouren geführt und war insgesamt gut angekommen. Ich hatte durchaus, besonders am Anfang, Unsicherheiten gespürt, obwohl ich schon seit vielen Jahren Stadtführungen machte. Was war ein Markgraf genau, was unterschied ihn von einem Kurfürsten, warum war es von Bedeutung, ob jemand König in oder von Preußen war?

    Allerdings war das eigentlich völlig egal, hatte ich von Alberto, meinem Chef, gelernt. Man musste möglichst viele der völlig unterschiedlichen Menschen erreichen. Es konnten in einer Gruppe alle Lebensalter von zehn bis 80 Jahren vertreten sein. Deshalb musste man, um möglichst viele zu interessieren, an jedem Ort zu vielen verschiedenen Aspekten erzählen, so dass möglichst für jeden Geschmack was dabei war. Letztlich war genau aber das auch unmöglich, weil es zu viele Idioten gab. Aber sie waren Kunden, und der Kunde ist König.

    Aber dann warf Alberto mich raus.

    Geiles Triebgefühl

    Was macht man, wenn man keinen Ausweg hat?

    Was macht man, wenn man keinen Ausweg hat?

    Entweder Schluss, oder man steigt aufs Rad.

    Ich hab den Rikscha Blues.

    Ich hatte es unbedingt wissen wollen, was die Gründe für meinen Rauswurf waren, ich fuhr ja auch so oft bei Rot über die Ampeln und kiffte und dann haute ich auch immer sofort ab zum Fußballspielen. Ich hatte meinem Chef Alberto, jetzt ja früherem Chef geschrieben, dass mich seine Begründung nicht überzeugte und ich nicht dumm sterben wolle. Alberto und ich trafen uns im Nola’s im Weinbergspark, er war schwer von der Grippe gezeichnet und um so netter fand ich es, dass er mit demjenigen sprach, den er grad gefeuert hatte. Der Brief von dem Richter war es jedenfalls nicht, der kam viel, viel später.

    Was er mir zur Begründung sagte, das leuchtete mir nicht ein, aber er sagte es so, dass ich ihm nicht böse sein konnte. Er möge mich, aber ich polarisiere das Publikum, also manche von denen mochten mich nicht und er brauche Führer, die allen gefallen. Das gefiel mir, ein Führer, der allen gefiel, so jemand wie Hitler, das war ich nicht. Ich war eher so wie Gandhi und viele hatten Gandhi gehasst, er war ja sogar erschossen worden.

    Zustimmen konnte ich ihm nicht, er lag einfach falsch. Ich merkte doch, bei welchen Geschichten die Leute lachten und zuhörten und bei welchen sie abschalteten. Ich konnte ihre Fragen beantworten, bezog sie mit Gegenfragen ein und am Ende gaben sie mir jede Menge Trinkgeld und klatschten. Kurz: Ich war ein sehr guter Fahrrad-Guide.

    Aber damit war es vorbei und meine Überzeugung konnte ich mir in die Haare schmieren. Ich fühlte mich nicht vor dem Abgrund oder dem Nichts, aber meinen Jahresplan konnte ich in die Tonne treten.

    Beim Jobcenter hatte ich zuletzt so eine sadistische SS-Ziege, die war auch wie Hitler, nur nicht so beliebt, jedenfalls bei mir. Dort wieder Hilfe zum Lebensunterhalt zu beantragen hätte mit Sicherheit zu einem depressiven Schub geführt und da meldete ich mich bei der Rikscha-Bude an. Diana hatte mir immer nahe gelegt, es doch zu probieren: Kurt fahre da auch und verdiene in einigen Monaten genug, um jeden Winter in Brasilien verbringen zu können. Wieso ich es jetzt machte, nachdem wir auseinander waren, und nicht vorher getan hatte, als wir noch zusammen waren und es vielleicht günstig für unsere Liebe gewesen wäre? Ich konnte es nicht beantworten.

    Auch Ulrike, meine Ex, mit der ich zwei Töchter hatte, war mal Rikscha-Fahrerin gewesen und empfahl es mir. Die Rikscha-Bude war in einigen S-Bahn-Bögen am Hauptbahnhof auf der anderen Seite des Humboldt-Hafens untergebracht, nicht weit von der Charité. Ich brauchte dorthin mit dem Fahrrad von meiner Wohnung gerade mal 10 Minuten, perfekt.

    Es fing nicht übermäßig vielversprechend an. Wolfgang, der Chef von Rikscha-Taxi, machte mit mir und mit Manfred, einem anderen Bewerber, einen sehr leichten Ortskundetest, wirklich sehr leicht:

    „Nennen Sie drei Sehenswürdigkeiten in der Straße Unter den Linden!" Nach dem schriftlichen Test fuhr er uns in einer Rikscha zum Hauptbahnhof. Er war so ein junggebliebener Mitfünfziger, sportlich und braungebrannt durchs Rikschafahren, er trug Shorts und Sandalen. Wir drehten einige Runden mit der Rikscha, ich kam ohne Berührung durch die Poller aus großen Granitwürfeln, Wolfgang sagte:

    „Ein Poller steht am Straßenrand,

    sein Zweck ist gänzlich unbekannt.

    Der Phallus im Verkehrsgewühl

    erweckt ein geiles Triebgefühl."

    Er fuhr uns wieder zurück, auf der Brücke hörte ich schönen Gesang von einer Frau und sah sie stehen, wo wir eben noch testgefahren waren. Dann war sie außer Sicht und außer Hörweite und im Depot war Wolfgang zufrieden, dass wir nicht blind waren und kräftig genug, den Motor einer elektrischen Rikscha einzuschalten.

    Ich war Rikscha-Fahrer. Ich hatte es geschafft. Und das war, als mein Ärger begann.

    Hunger

    Was das Rikschafahren mir bringen mag?

    Was das Rikschafahren mir bringen mag?

    Ich erfahre es am allerersten Tag.

    Ich hab den Rikscha Blues.

    Nüchtern erscheinen! Wegen des Sonografie-Termins am Abend durfte ich nach dem Frühstück nichts mehr essen. Und das an meinem ersten Rikscha-Tag! Gleichzeitig war es der dritte Tag meiner Ibuprofen-Kur, ein Arzt aus einer meiner Fußballmannschaften hatte mir dazu geraten. Ich nahm 1200 Milligramm pro Tag, aber ich merkte keine Besserung.

    Mysteriöse Schmerzen in der Leiste quälten mich seit fast einem halben Jahr. Es war keine normale Alterserscheinung, sondern etwas Geheimnisvolles, denn es wurde einfach nicht besser. Im normalen Alltag tat gar nichts weh, wenn ich zügig ging, spürte ich etwas wie einen Muskelkater, wenn ich lief, merkte ich es stärker, wenn ich schneller lief, dann stach es wie mit Messern in meinem Unterbauch.

    Da ich exzessiv Fußball spielte, hatte ich alle Mediziner, die ich mit meinen Beschwerden aufgesucht hatte, gefragt:

    „Ich habe Schmerzen in der Leiste und spiele exzessiv Fußball, könnte es sich um die Fußballerleiste handeln?" Die Antwort war immer eindeutig gewesen:

    „Nein!" Warum es ausgeschlossen war, hatten mir weder der Chirurg noch die Physiotherapeutin, nicht der Orthopäde, nicht der Allgemeinarzt verraten und auf das heutige Urteil des Sonografen war ich einigermaßen gespannt. Ich nahm an, dass es für die Mediziner schon eine Zumutung war, dass ein Patient überhaupt einen Verdacht auf eine Diagnose äußerte. Ich hatte keinen Befund, aber Physiotherapie bekommen, hatte mehrere Monate überhaupt keinen Fußball gespielt, die Beschwerden blieben.

    Nach 10 Uhr war ich im Depot und bekam den E-Cruiser 31, das Wetter war perfekt für meinen ersten regulären Rikscha-Tag. ZwölfEuro hatte ich Miete zu zahlen und die müssten mindestens wieder hereinkommen, dann wäre ich bei Null.

    Manche Namen konnte ich mir gut merken. Oft brauchte ich Eselsbrücken, von denen niemand etwas wissen musste. Wenn Leute Ronald heißen, merkte ich mir das mit Ronald Reagan. Jonas konnte ich mir leicht im Kopf behalten wegen der Bibel. Denn der Jonas aus der Bibel bekam den Namen Jonas, weil er aus dem Wal kam und die Leute sagten:

    „Der ist jo nass!" Von dem Rikscha-Fahrer Jonas stammte, inspiriert vom Kommunistischen Manifest, unser Wahlspruch:

    „Die Rikschisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Straßenverkehrsordnung. Mögen die Autofahrer vor einer rikschistischen Revolution zittern. Die Rikscha-Fahrer haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Stadt zu gewinnen. Rikscha-Fahrer aller Länder, vereinigt euch!"

    Mir schien das Motto so passend wie nur eins: Die Zukunft sollte mit weniger Autos und mehr Rikschas stattfinden, von mir aus auch mit mehr Fahrrädern, Skateboards, Rollern, nur halt nicht mit diesen Unmengen von Verbrennungsmotoren in teilweise grotesken Fahrzeugen. Mit Grausen erinnerte ich mich an meine Fahrt in dieser Stretch-Limousine von Hummer, so stellte ich es mir in einem Panzer vor. Ich war mir darin vorgekommen wie Arnold Schwarzenegger beim Endkampf um Mossul.

    Von halb 11 an stand ich am Hackeschen Markt, Massen von Menschen liefen an mir vorbei, die mich mit Missachtung straften. Nach einer Viertelstunde radelte ich zur Spree am Monbijou, dort war aber noch totere Hose. Mein Ziel war doch nicht zu hoch gesteckt, zwölf Euro einzunehmen an meinem ersten Tag, dazu mit wunderbaren Wetter? War das zu viel erhofft?

    Unterwegs sah ich eine Gruppe von Berlin Bike Tours vorbei radeln. Das löste bei mir negative Gefühle aus. Ich war eine narzisstische Leberwurst und etwas eingeschnappt wegen des Rauswurfes. Immerhin fragte mich ein erstes Paar, dem aber zehn Euro zur Französischen- und Mauerstraße zu teuer war. Ich radelte auf die Friedrichsbrücke und harrte froh der kommenden Dinge. Bald gesellte sich Manfred zu mir, der gemeinsam mit mir angefangen hatte. Das schweißte irgendwie zusammen. Er stand unten, ich stand oben auf der steilen Fußgängerbrücke zwischen Museumsinsel und Burgstraße.

    Dann bekam ich meine erste Fuhre. Es waren zwei Russen, die recht gut Deutsch konnten, aber sehr betrunken waren. An den Ku’damm wollten sie:

    „Wo die Schlampen stehen." Als sich herausstellte, dass sie die Oranienburger Straße meinten, waren wir schon durchs Brandenburger Tor und ich fuhr sie am Reichstag vorbei zurück.

    Ich stand neben dem Seifenblasen-Künstler am Hackeschen Markt und nahm mir vor, hier bis 13 Uhr, also insgesamt anderthalb Stunden abzuwarten, um evidente Erfahrungen zu machen und las dazu in einem Buch über die Rolling Stones. Mit meiner Ex war ich auf einem Konzert gewesen und seitdem zu 90% ein Fan. Zwischendurch schrieb ich auch an einer Geschichte über Blutwurst aus Nacktschnecken, die würde bestimmt ein großer Erfolg werden.

    Ich war drauf

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