FRIEDER
Von Kathrin Keller
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Buchvorschau
FRIEDER - Kathrin Keller
Zartheit
Ich versichere euch:
Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder,
werdet ihr nie ins Himmelreich kommen.
(Jesus von Nazareth)
Es ist Anfang März. Ein verregneter Tag in München, doch immer wieder huschen Sonnenstrahlen durch das Grau des Himmels. Vom Frühling selbst ist noch nicht viel zu spüren, aber irgendwo da draußen ist er. Es scheint, als ob er auf der Lauer liegt.
Nur wer den Frühling kennt und ihn ansieht wie einen lieben Verwandten, bemerkt ihn schon in all den schlummernden Blüten und Blättern, die nur darauf warten, endlich von der Sonne zum Leben erweckt zu werden, ebenso wie jemand, der gerade in diesem Moment auf die Welt kommt.
Die Rede ist von mir, es ist ganz bald so weit – das spüre ich. Und ich freue mich, denn es ist eine schöne Welt. Eine Welt, in welcher selbst der Regen den Duft von Krokussen in sich trägt.
*
Mein Frieder hatte schöne schmale, lange Finger. 4200 Gramm pures Glück.
Die Zeit schien stillzustehen, als ich den kleinen Frieder in meinen Armen halten durfte. Seligkeit und Liebe flossen durch meine Adern. Auf einmal war für mich nichts anderes so sehr von Bedeutung wie dieser kleine Mensch.
Wieder und wieder zählte ich seine Finger, seine Zehen, staunte stumm über dieses Wunder, mein Kind, mein Sohn. Endlich war er da. Friedvolles Glücksgefühl.
Die ganze Schwangerschaft über hatte ich mich gefragt, wie er oder sie wohl aussehen wird. Als ich dann in sein kleines, friedliches Gesicht blicken konnte, da war mir klar, dass ein Teil von mir immer schon wusste, dass er genau so und nicht anders aussehen würde, dass ich sein Gesicht schon kannte, bevor ich es zum ersten Mal sah. Ich hatte mich für genau dich – Frieder – entschieden.
Frieder öffnete die Augen und schmatzte selig vor sich hin. Ich sah in seine Augen, sah mich mit meinen darin und wusste: Alles ist gut.
Frieder hatte sich für seine Ankunft Zeit gelassen. Wie auch später, während unseres gemeinsamen Lebens, war er es, der den Zeitpunkt bestimmte und sich nicht hetzen ließ.
Liebe strömte zwischen seinem kleinen Körper und meinem großen hin und her, und ich flüsterte leise, während ich seine kleinen Hände küsste: »Ich werde dich immer beschützen, immer für dich da sein, ich lasse dich nie allein. Ich liebe dich. So wie du bist.«
Damals konnte ich noch nicht wissen, was dieses Versprechen bedeuten würde.
Hingabe
Wer sich Gott anheimgibt, hört auf,
sich vor den Menschen zu fürchten.
(Mahatma Gandhi)
Wie schön es hier ist. Friedlich, still. Zeit, Raum, das alles spielt keine Rolle. Ich bin frei, und ich bin zu Hause.
Dann, auf einmal, ist da eine liebevolle Stimme. Ich kenne sie. Sie fragt mich, ob ich auf die Erde gehen möchte, um ein Mensch zu werden. Ich ahnte es ja. Aber warum? Warum ich?
Das weiß ich nicht genau. Die Stimme erzählt mir etwas über dieses Leben, das mich erwartet. Es wird ein recht kurzes, dafür aber umso intensiveres Leben sein. – Es wird Kummer und Krankheit beinhalten, aber auch Freude und Liebe, grenzenlose Liebe, Verständnis und Hingabe.
»Du bist bereit für dieses Leben«, erzählt die Stimme mir. Ich sehe Bilder aus jenem zukünftigen Leben, ich fühle es. Niemand lebt allein. Wir alle berühren in unserem Lebenslauf viele Tausende von Menschen. Einige sind uns sehr nah, andere weniger. Oft berühren wir sie nur zaghaft und dennoch haben sie einen Einfluss, der größer nicht sein könnte. Wo das Band der Liebe existiert, wird über dieses Leben und den Tod hinaus die Verbindung für immer bestehen bleiben. Die Liebe hält zusammen, was zusammengehört.
Ein solches Leben, wie das, was vor mir liegt, wird viele berühren. Welcher Ort könnte der richtige sein, um es zu leben? Welchen Eltern kann ich diese besondere Aufgabe geben? Welche Eltern erkennen das wahre Leben und die Liebe früh genug, um es dann – auch ohne mich – weiterleben zu können? Welche Eltern sind stark genug, mich zu tragen?
Ich sehe hinunter zu den funkelnden Lichtern der Erde. Alles, was die Menschen umgibt, ist so unendlich weit weg. Die Menschen wissen nichts von dem, was vor und hinter einem Leben liegt, und das ist auch gut so. Sonst würden sie ihren Weg vielleicht oft nicht zu Ende gehen wollen. Ich fühle den Wunsch, ihnen allen zu sagen, dass es einen Sinn gibt hinter all dem Leid und der Verwirrung, die diese Welt für sie bereithält. Auch das gehört zum Menschsein.
Ich bin bereit, den Menschen die Liebe zu bringen und ihnen diese vorzuleben, so gut ich kann. Zu oft verlieren sie das Wesentliche aus ihren Augen. In ihrer unsagbaren Selbstsucht, dem ständigen Gegeneinander, dem Hass, dem Drang nach Macht, der Rache und der Gier nach Wohlstand vergessen sie ihren Nächsten. Das Wichtigste, was es überhaupt gibt, die Lösung, der Schlüssel zu allem, was Tore öffnet und alle Herzen: der Weg der Liebe!
»Ja, ich bin bereit für diese Reise.«
Was ich brauche, sind Helfer. Eltern, die besten, und somit natürlich vor allem eine Mama. Eine Mama, die mich liebt, mehr als sich selbst, was, wenn ich so nachdenke, ihr nicht schwerfallen wird. Schließlich bin ich ein Engel. Und, auch wenn es vielleicht hochnäsig klingen mag, ein wirklich wunderschöner.
Ich zweifle nicht. Mag dies etwa der Grund sein, dass ich es bin, den man fragt?
Gott hat den Menschen die Wahl gelassen, weil er an ihren freien Willen, an ihre Sehnsucht nach Wahrheit und Liebe glaubt und ihnen vertraut, egal, wie oft sich noch die Erde um die Sonne drehen wird. Bis alle Menschen dies verstanden haben.
Ich bin ein Teil dieser Liebe, so wie wir alle.
Was ich brauche, sind also zwei Seelen, stark und mit einem Wissen um die Liebe.
Diese Prüfung wird hart für sie sein. Sie werden sie nicht erwarten, aber ich lasse ihnen die nötige Zeit, um hineinzuwachsen.
Für die Menschen bedeutet die Ankunft eines Kindes in den meisten Fällen unermessliche Freude. Wie sollen sie damit leben, dass in meinem Fall die Freude einen bitteren Beigeschmack hat?
Aber die Stimme »nickt« und es wird still. Mein Auftrag ist klar. Ich habe keine Zweifel, keine Angst vor der Welt der Menschen, der Gefühle. Weiter komme ich nicht in meinen Gedanken, denn das Licht, das unsagbar helle und glitzernde Licht, schließt mich ein. Es beginnt, mich zu durchfluten, strahlt durch mich hindurch, umschließt mich, ergreift Besitz von mir, diese namenlose, hell scheinende Woge aus Licht und Energie. Ich lächele in mich hinein. Es ist das Leben, es ist auf dem Weg zu mir.
Ich horche und lausche, höre der anderen Seele zu, die da unten als Mensch schon lebt. Ich kenne sie noch nicht, aber auf einmal weiß ich, dass sie meine Mama ist, dass sie mich auf meinem Weg begleiten, tragen und lieben wird. Das ist meine Aufgabe, das ist mein Ziel. Und sie erwartet mich.
Und ich höre weitere Stimmen, die mich begleiten werden, und auf einmal bin ich voller Vorfreude auf dieses Leben. Es wird erfüllt und durchdrungen sein, von dem, was man auf Erden so oft vermisst, die Kraft der Liebe in ihrer hellsten und gottgegebenen Form.
Ich werde es leben, dieses Leben. Ja! Ich nehme es an, ich werde lieben und lernen, und andere werden durch mich lernen. Sie werden Gefühle in sich entdecken, von denen sie vorher noch nicht einmal wussten, dass es diese überhaupt gibt, dass sie in der Lage sein können, etwas zu empfinden, was sich für sie nur mit dem einen Begriff erklären lässt.
Dieser warme und wohlige Körper zieht mich an. Meine Mama! Dann werde ich Mensch. Ich trete diese Reise an.
Ich werde in die Welt geboren, um den Menschen ein Stück vom Himmel zu schenken.
Fast gleicht meine Reise einem Abenteuer, aber ich liebe Abenteuer, denn, oh ja, ich bin ein Kind, und so nehme ich alles, was da kommt, auch an wie ein Kind.
Dann sehe ich nichts mehr, es ist dunkel, aber immer noch warm, und ich fühle mich unsagbar geborgen. Ich staune, denn etwas umschließt mich, es ist – ich kann es kaum begreifen – das, was meine Mama bereits für mich empfindet.
Fast beginne ich, den Augenblick dieser so seltsamen Ruhe, des nicht zu beschreibenden Friedens, der grenzenlosen Geborgenheit, in welchem eine nicht in Worte zu fassende Liebe liegt, zu genießen, als es von außen her unruhig wird.
Ich verstehe, denn da ist es, dieses einzigartige Licht, von dem so viel ausgeht. Es begrüßt mich, als wäre es ein sprechendes Licht: »Willkommen auf der Erde, mein lieber Frieder!«
Zauber
Gib jedem Tag die Chance,
der schönste deines Lebens zu werden.
(Mark Twain)
Frieder kam als gesundes Kind auf die Welt. Kein Test zeigte irgendeine Auffälligkeit. Überhaupt strahlte Frieder eine große Ruhe aus. Er war selten unruhig und schrie kaum, sein kleiner Körper war die meiste Zeit voller Frieden und Glückseligkeit. Die gleiche Glückseligkeit, die auch ich empfand, wenn ich ihn ansah und ihn in meinen Armen oder im Tragetuch, eng an meinem Körper, herumtrug.
Mir hätte vielleicht auffallen können, dass seine Augen in dem kleinen Kindergesicht viel zu weise blickten. »Ich geh mit dir, wohin du willst, auch bis ans Ende dieser Welt. Am Meer, am Strand, wo Sonne scheint, will ich mit dir alleine sein.« – Wann immer ich für Frieder sang und die Musik aufdrehte, um mit Nena den Leuchtturmsong zu trällern, glänzten mich seine blauen Augen aufmerksam an, als verstünde Frieder mich. – »Komm, geh mit mir den Leuchtturm rauf. Wir können die Welt von oben sehn. Ein U-Boot holt uns dann hier raus. Und du bist der Kapitän.« Nahm er mich hier bereits beim Wort?
Jedenfalls begannen wir unsere geliebten Ausflüge.
Stolz über dieses kleine Wunder mit dem engelsgleichen Gesicht schob ich Frieder in seinem Kinderwagen herum. Er betrachtete die Welt mit seinen klugen, sanften Augen und sah hinauf in die Bäume, in die Wolken, in den Himmel oder schlief. Mir kam es vor, als würde ich mit Frieder die Welt noch einmal für mich entdecken. Ich lernte, so empfand ich es, alles mit neuen Augen zu betrachten.
Wenn ich heute auf diese erste Zeit zurückblicke, dann sehe ich uns in dieser Blase aus purem Glück, aus Geborgenheit. Es war der Anfang einer großen Liebe.
Niemand konnte ahnen, was die Zukunft uns bringen würde, sie warf ihre Schatten noch nicht voraus. Deshalb war es wundervoll, einfach im Augenblick zu leben und diese Zeit mit jedem Atemzug zu genießen, sie nicht mit sinnlosen Sorgen oder Ärger zu verschwenden.
*
Ich sehe die Sonnenstrahlen durch die Bäume funkeln.
Meine Welt ist das Gesicht meiner Mama. Sie trägt mich, beschützt mich. Ich fühle mich schon sehr geliebt. Ich fühle mich