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Zwischen Zeit und Ewigkeit: Eine Entdeckungsreise durch die drei Ebenen des menschlichen Bewusstseins
Zwischen Zeit und Ewigkeit: Eine Entdeckungsreise durch die drei Ebenen des menschlichen Bewusstseins
Zwischen Zeit und Ewigkeit: Eine Entdeckungsreise durch die drei Ebenen des menschlichen Bewusstseins
eBook534 Seiten6 Stunden

Zwischen Zeit und Ewigkeit: Eine Entdeckungsreise durch die drei Ebenen des menschlichen Bewusstseins

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Über dieses E-Book

Wie können wir uns im Dschungel der vielschichtigen inneren und äußeren Erfahrungen als Mensch zurechtfinden?
Einerseits müssen wir im Alltag in unterschiedlichen Rollen bestehen, andererseits sind wir innerlich mit einer sich ständig verändernden Gefühlswelt konfrontiert, die oft so gar nicht zu unserer äußeren Identität passen will. Schließlich gibt es noch tiefe kontemplative Augenblicke von innerer Freiheit, in denen sich die persönliche Identität vollkommen aufzulösen scheint. Wer sind wir also?

Diese Vielschichtigkeit lässt sich erst begreifen, wenn wir ­anerkennen, dass sich das menschliche Leben nicht nur in einer Welt abspielt, sondern auf drei parallelen Bewusstseinsebenen: in der ­Alltagsrealität mit ihren äußeren Notwendigkeiten, der inneren Welt einer Seelischen Realität und der allem zugrunde liegenden Absoluten ­Realität des SEINs.

In diesem Buch unternimmt Richard Stiegler eine Entdeckungsreise in die Welt unseres Bewusstseins. Präzise und anschaulich beschreibt er die Gesetzmäßigkeiten der drei Realitätsebenen und zeigt, wie sie wirken. Eine solch differenzierte Landkarte hilft dabei, Missverständnisse zu vermeiden, und inspiriert gleichzeitig dazu, die Weiten und Potenziale dieser inneren Welten zu erkunden und mit dem eigenen Leben in Einklang zu bringen.
SpracheDeutsch
HerausgeberArbor Verlag
Erscheinungsdatum27. Sept. 2021
ISBN9783867813709
Zwischen Zeit und Ewigkeit: Eine Entdeckungsreise durch die drei Ebenen des menschlichen Bewusstseins

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    Buchvorschau

    Zwischen Zeit und Ewigkeit - Richard Stiegler

    Kapitel 1

    Wie wirklich ist

    die Wirklichkeit?

    Wie kann es da draußen ein mechanisches Universum geben, wenn sich das Universum jedes Mal verändert, wenn wir unsere Betrachtungsweise ändern?

    Fred Alan Wolf, Quantenphysiker

    Seit vielen Jahren begleite ich Menschen in unterschiedlichsten Lebenssituationen. Manche von ihnen befinden sich in einer Lebenskrise, in der sie ein Strudel von heftigen Emotionen umtreibt. Oft stellen sie sich selbst und ihr bisheriges Leben infrage. Doch auch in diesen Phasen spüren sie die grundlegende Verunsicherung und die Gefühle, die damit einhergehen, meistens nicht rund um die Uhr. Wenn sie zur Arbeit gehen und in die gewohnten Tätigkeiten des Alltags eintauchen, sind sie plötzlich gelassen und kompetent. Wie weggeblasen sind alle Fragen und Unsicherheiten, die sie noch morgens vor der Arbeit bewegt haben. Doch abends, bei einem Gespräch mit einer guten Freundin, drängen die Fragen und die Gefühle wieder mit Macht an die Oberfläche. Ist das nicht erstaunlich, wie schnell selbst heftige Gefühle verschwinden und wieder auftauchen können?

    Wie oft habe ich selbst bereits erfahren, dass sich im Laufe eines ganz gewöhnlichen Tages meine Befindlichkeit ändert? Wenn ich unter der Lupe der Achtsamkeit mein Leben betrachte, bin ich geradezu überrascht, wie oft und wie schnell sich innere Zustände abwechseln. Manchmal wache ich morgens mit einem verstörenden Traum auf, der mich benebelt und etwas ängstlich beim Frühstück sitzen lässt. Innerlich habe ich das Gefühl, noch nicht wirklich wach zu sein. Traumfetzen ziehen wie kurze Filmsequenzen durch mich hindurch und färben meine Stimmung ein. Doch bereits wenige Augenblicke später, wenn ich an den Schreibtisch gehe und mich auf die Arbeit konzentriere, treten diese Gefühle weit zurück und ich fühle mich klar, wach und handlungsbereit. Besonders wenn ich Menschen begleite oder Gruppen leite, erlebe ich immer wieder, dass fast augenblicklich alles verschwindet, was mich innerlich als Person in diesem Augenblick beschäftigt hat. In den Vordergrund rückt eine Präsenz, die eine große Klarheit und ein tiefes Einfühlungsvermögen ermöglicht, und in der ich viele innere Ressourcen ganz leicht abrufen kann. Alles, was mich persönlich ausmacht, hat hier keine Relevanz. Bin ich hier ein anderer Mensch?

    Und dann gibt es da noch die Momente der Stille. Wenn ich mich nach innen fallen lasse, entsteht wieder eine ganz andere Art von Wachheit – eine innere Präsenz –, in der alles, was mich an der Oberfläche meines Menschseins bewegt, sich auflösen kann. Alltägliche Gedanken und Gefühle, aber auch alle Strukturen wie Zeit und Raum und selbst das Erleben einer klaren Ich-Identität mit einem Körper verflüchtigen sich, und für einen Augenblick lang gibt es nur ein zeitloses, offenes SEIN – Dasein pur. Vielleicht dauern diese SEINSmomente nur ein paar Augenblicke, vielleicht auch mehrere Minuten. Was spielt das für eine Rolle in einem Raum jenseits der Zeit?

    Doch fast unmerklich tauchen wieder Gedanken und Gefühle auf und färben den inneren weiten Horizont ein, als ob sich ein Schleier darüberlegt. Und ehe ich mich versehe, beschäftigt mich eine bevorstehende Aufgabe. Plötzlich finde ich mich in Gedanken wieder, wie ich die Situation regeln kann, und mit diesen Gedanken geht eine gewisse Anspannung einher. Vorbei ist der Zustand einer friedlichen Stille jenseits aller Aufgaben und Verpflichtungen und auch jenseits allen Tuns. Oder doch nicht? Manchmal kann ich ihn trotz der Aktivität auf der Oberfläche noch weiterhin unterschwellig spüren.

    Das kann sich aber sehr schnell ändern, wenn im weiteren Tagesverlauf etwas auftaucht, das meine ganze Aufmerksamkeit braucht, wie zum Beispiel ein Konflikt. Vielleicht flattert eine unangenehme E-Mail auf meinen Schreibtisch oder die Kinder verhalten sich ganz anders, als ich mir das vorstelle. Wie schnell kann sich hier ein Ärger oder eine Hilflosigkeit einstellen? Wo ist jetzt dieser friedliche konfliktfreie Raum hingekommen, der mich noch vor Kurzem so erfüllt hat?

    Bewusstseinszustände und ihre Wirkung

    Im Laufe eines ganz gewöhnlichen Tages durchlaufen wir unzählige Male verschiedene Bewusstseinszustände, ohne uns dessen in der Regel bewusst zu sein. Wir wundern uns vielleicht darüber, dass uns eine Zeit lang ängstliche Gefühle und eine körperliche Anspannung beschäftigen, die dann plötzlich, nachdem wir unsere professionelle Rolle übergestreift haben, wie weggeblasen sind. Jetzt spüren wir eine innere Sicherheit und fragen uns: Wo kamen diese Gefühle der Unsicherheit her? Und wo gingen sie hin?

    Oder wir genießen immer wieder Momente von unbedingter Präsenz, in denen alles Tun und alles Wollen verstummt und sich eine innere Freiheit ausbreitet. Vielleicht sehnen wir uns danach, diese Momente auszudehnen und unser ganzes Leben in dieser Freiheit führen zu können. Doch schwups – kaum haben wir diese Freiheit geschmeckt –, schon ist sie wieder im Strudel von Gedanken und Alltagshandlungen untergegangen. Im Kontext von Familie und Beruf haben wir meist nicht das Gefühl, dass wir uns in einem Raum jenseits von Zeit und Tun bewegen, sondern empfinden deutlich Zeit- und Handlungsdruck. Wo ist diese Freiheit hin? Ist sie auch da, wenn wir sie nicht spüren? Was hilft es uns, zu wissen, dass sie da ist, wenn wir dazu keinen Zugang haben?

    Manchmal reicht unsere Bewusstheit so weit, dass wir diese Vorgänge beobachten können. Verschiedenste Zustände in unserem Geist wechseln sich ab, und wir haben kaum eine Möglichkeit, diese zu beeinflussen, geschweige denn zu kontrollieren. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sogar zugeben, dass wir diese Vorgänge in unserem Geist nicht mal verstehen. Wieso gibt es morgens ein Gefühl der Ängstlichkeit in mir? Wie kann ich gleichzeitig in meinem Job ein kompetenter Profi sein, der sich seiner selbst sicher ist? Wieso kann ich nicht immer in der absoluten Freiheit des SEINS verweilen?

    Vielleicht schleichen sich mit diesen Fragen auch Selbstzweifel ein: Ist meine Meditationspraxis tief genug? Ist mein Gefühl der Sicherheit im Job nur aufgesetzt? Sind die Gefühle der Ängstlichkeit nicht meine wahrhaftigen Gefühle und soll ich ihnen mehr Raum geben? Oder sind sie nur ein altes Gefühlsmuster, dem ich besser keine Aufmerksamkeit mehr schenke? Ist nicht das Freiheitsgefühl in der Meditation mein wahrhaftiges Sein? Oder verdränge ich hier nur meine Gefühle?

    Selbstzweifel helfen uns beim Vorgang der Selbsterkenntnis meist nicht weiter, sondern verunsichern uns nur. Daher ist es hilfreicher, den Fragen und unserer Unwissenheit standzuhalten und unsere Bewusstheit dazu zu nutzen, tiefer und tiefer die Vorgänge in unserem Geist an einem ganz normalen Tag zu studieren. Dabei werden wir feststellen, wie häufig und fast unmerklich sich die Zustände ändern und regelrecht ineinandergreifen.

    Jedes Mal, wenn ein bestimmter Zustand im Vordergrund unseres Erlebens unsere Aufmerksamkeit fesselt, verschwindet das, was uns kurz zuvor noch beschäftigt hat, aus dem Bewusstsein. Dabei ist dies kein rein gedanklicher Vorgang, auch wenn daran oft Gedanken beteiligt sind. Nein, der jeweilige Bewusstseinszustand, in den wir eintauchen, ist ein körperlich-seelisches Gesamterleben, das wie eine Wolkenstimmung am Himmel die gesamte Atmosphäre einer Szenerie einfärbt. Genauso verändert der aktuelle Zustand unser augenblickliches Dasein in einer Weise, dass er unser Lebensgefühl bestimmt.

    An dieser Stelle ist es höchste Zeit, auf den Begriff »Bewusstseinszustand« näher einzugehen. Bewusstseinszustände sind der Schlüssel zum Verständnis der Vorgänge in unserem Geist. Nur wenn wir begreifen, was Bewusstseinszustände sind und welche Wirkung sie entfalten, werden sich manche paradoxe Verhaltensweisen von Menschen und manche Fragen, die sich daraus ergeben, von selbst beantworten.

    Um uns dem Begriff »Bewusstseinszustand« anzunähern, ist es hilfreich, sich zunächst ungewöhnliche Geisteszustände vor Augen zu führen und diese mit »normalem Alltagserleben« zu vergleichen. Betrachten wir zum Beispiel einen Menschen, der sich durch einen Autounfall im Schock befindet, dann sehen wir, dass sich diese Person höchst ungewöhnlich fühlt und verhält.

    Obwohl sie starke Verletzungen hat, spürt sie keine Schmerzen. Doch nicht nur Schmerzen fühlt sie nicht, sie hat überhaupt keine Empfindungen im Körper und keine Gefühle. Der ganze körperlich-seelische Bereich befindet sich in einer außergewöhnlichen Taubheit. Entsprechend verhält sich eine solche Person trotz starker Verletzungen so, als wäre sie unversehrt. Nicht selten kommt es vor, dass sie zu den Sanitätern sagt: »Mir geht es gut. Ich gehe jetzt nach Hause«, obwohl sie blutüberströmt daliegt und vollkommen desorientiert ist.

    Offensichtlich fühlt und verhält sich eine Person im Schock vollkommen anders als normalerweise. Wichtige Parameter, um eine Situation korrekt einzuschätzen, wie Körperempfindungen, Gefühle, Erinnerungen und geistige Zuordnungen, fehlen ihr in diesem Zustand. Das natürliche geistige Potenzial von Spüren, Denken, Erinnern, Vergleichen und Abschätzen, das ihr selbstverständlich im Alltag zur Verfügung steht, ist hier nicht oder nur stark eingeschränkt zugänglich. Gleichzeitig gibt ihr dieses geistige »Notprogramm« die Möglichkeit, trotz starker Verletzungen nicht von den Schmerzen und der Situation überwältigt zu werden und entsprechend eine gewisse Zeit empfindungslos agieren zu können. Es ist ein Überlebensmechanismus, der bei starken Verletzungen hilft, diese Extremsituation zu überstehen. Doch unabhängig vom ­biologischen Sinn eines Schockzustandes für das Überleben eines Menschen können wir feststellen, dass sich eine Person im Schock komplett verändert und sich verhält, als wäre sie ein vollkommen anderer Mensch. Sie befindet sich urplötzlich in einer anderen inneren Welt, in der es keine Empfindungen gibt.

    Besonders tragisch wird dieses Phänomen, wenn eine Person aufgrund eines körperlichen oder seelischen Traumas in einen Schockzustand von emotionaler Taubheit fällt und dieser Bewusstseinszustand chronisch wird. Die Gefühllosigkeit wird zum Dauerzustand und die Unerreichbarkeit – ein Gefühl von »weit weg sein« oder von »abgeschnitten sein«  – führt dazu, dass die Person keine Nähe mehr zu nahen Menschen, zu sich selbst oder zum Leben überhaupt empfinden kann.

    Diese innere Unerreichbarkeit ist für Angehörige oft unverständlich und kann bei ihnen eine große Irritation hervorrufen. Manchmal spüren sie sogar einen Verlust, als ob sie den geliebten Menschen verloren hätten. Sie fühlen deutlich, dass die Person nicht mehr die »gleiche« ist und versuchen meist verzweifelt, dem »alten«, vertrauten Menschen wieder nahezukommen. Doch solange sich die traumatisierte Person im Bewusstseinszustand einer seelischen Taubheit befindet, haben die Angehörigen keine Chance. Erst wenn sie, vielleicht durch eine Psychotherapie unterstützt, wieder einen natürlichen Zugang zu ihren Gefühlen bekommt, kann sie wieder in einen Bewusstseinszustand zurückfinden, der ihr die seelische Nähe mit ihren Angehörigen ermöglicht.

    Bewusstseinszustände bestimmen und verändern uns völlig. Das geht so weit, dass wir uns in unterschiedlichen Bewusstseinszuständen verhalten, als wären wir eine andere Person. In gewissem Sinne agieren wir nicht nur wie eine andere Person, wir sind es. Die Art, wie wir wahrnehmen, was wir denken, ob und welchen Zugang wir zu unseren Gefühlen haben, kann sich radikal verändern, wenn wir den Bewusstseinszustand wechseln.

    Ein alltägliches Beispiel dafür ist der Alkoholkonsum. Wie stark verändern wir uns, wenn wir Alkohol zu uns genommen haben? Die anfängliche Gelöstheit und Entspannung weichen bei zunehmendem ­Alkoholspiegel einer Enthemmung, bei der wir impulsiv und ungefiltert unseren Gefühlen und Meinungen freien Lauf lassen. Mit der Kontrolle schwinden jedoch auch unsere geistige Klarheit und die Sensibilität für unsere Umwelt. Wir werden regelrecht zu Egomanen. Unsere Stimme wird lauter, vielleicht schreien und grölen wir sogar herum. Dabei haben wir selbst das Gefühl, dass es ein Ausdruck von Lebensfreude ist. Wir sind uns dabei aber nicht bewusst, dass wir Nachbarn damit stören könnten, und im Grunde ist uns das in diesem Zustand auch egal. Auf unser Umfeld wirkt unser enthemmtes Verhalten keinesfalls freudvoll, sondern erzeugt eine bedrohliche Wirkung. Und das zu Recht. Schließlich kann die Enthemmung jederzeit dazu führen, dass das Gefühl der Lebensfreude in Aggression umkippt.

    Am Beispiel Alkohol sehen wir, dass aus einem Menschen, der normalerweise vielleicht ein großes Verantwortungsbewusstsein für sein Verhalten und sein Umfeld an den Tag legt, plötzlich ein Egomane werden kann. Er wird offensichtlich im Rausch zu einem anderen Menschen. Aus der Suchtforschung wissen wir, dass eine Person, die regelmäßig Alkohol zu sich nimmt, nicht nur im akuten Zustand des Rausches ihre Persönlichkeit verändert, sondern mit der Zeit eine sogenannte »Suchtpersönlichkeit« entwickelt. Das bedeutet, dass sich die innere Veränderung, die mit dem Alkoholkonsum einhergeht, nicht nur im betrunkenen Zustand zeigt, sondern zu einem dauerhaften Charakterzug wird.

    Viele Rollen und die Frage nach der Identität

    Was wir bei ungewöhnlichen Bewusstseinszuständen wie dem Schock oder dem Rauschzustand beobachten können, nämlich dass die Person sich vollkommen verändert und mal kürzer, mal länger zu einer anderen Person mutiert, lässt sich genauso in weniger »extremen« Lebensumständen beobachten. Da verhält sich eine selbstsicher auftretende Geschäftsfrau in ihrer Partnerschaft unsicher und abhängig. Da wird öffentlich bekannt, dass ein angesehener Stadtrat, der sich jahrelang für die Belange von anderen Menschen in der Gemeinde eingesetzt hat, gleichzeitig, gierig nur auf den eigenen Vorteil bedacht, den Staat um große Summen Steuern betrogen hat. Wenn diese Menschen äußerlich nicht in den verschiedenen Situationen den gleichen Körper hätten, würde niemand auf die Idee kommen, dass es sich um die gleiche Person handeln könnte.

    Kennen wir nicht alle Beispiele von Menschen, die plötzlich eine Verhaltensweise an den Tag legen, die wir ihnen nie zugetraut hätten? Und wie oft hat uns bereits schockiert, wenn menschliche Abgründe bei scheinbar »normalen« und gut integrierten Menschen nach außen hin sichtbar wurden? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass es diese Widersprüche auch in unserem eigenen Leben gibt. Verhalten wir uns nicht immer wieder in verschiedenen Umgebungen sehr unterschiedlich? Und müssen wir nicht manchmal verschämt zugeben, dass wir nicht wissen, was uns gerade »geritten« hat?

    Meistens nehmen wir diese Widersprüche zwar wahr und sind davon irritiert oder empören uns sogar darüber, wenn es andere Menschen betrifft, aber wir betrachten sie nicht genauer. Dann würden wir nämlich sehen, dass es nicht die Ausnahme ist, dass Menschen sich wie unterschiedliche Personen verhalten, sondern die Regel. Natürlich sind die Widersprüche oft nicht so krass wie bei extremen Bewusstseinszuständen durch Schock oder Alkohol. Aber im Kleinen sind sie im Alltag deutlich wahrnehmbar.

    Die Wirkung auf uns ist in jedem Fall die gleiche: Der jeweilige Bewusstseinszustand – ob extrem oder nicht – färbt unsere Sinne, unsere Selbstwahrnehmung, unsere Gedanken, unsere Gefühle und unser Verhalten ein. Bewusstseinszustände wirken damit wie hypnotische Trancen, die unsere Aufmerksamkeit auf eine bestimmte innere Erlebenswelt fixieren und gleichzeitig Potenziale, die uns in anderen Zuständen zugänglich sind, ausklammern.

    Das Irritierende dabei ist, dass wir vordergründig nicht die Bewusstseinszustände sehen, in denen sich eine Person befindet, sondern weiterhin ihre äußere gewohnte Erscheinung. Nach außen scheint es immer die gleiche Person zu sein, die sich so unterschiedlich verhält. Doch das, was sie von innen her ausmacht – der jeweilige Bewusstseinszustand –, wirkt unsichtbar im Hintergrund. Könnten wir den Bewusstseinszustand sehen, der eine Person gerade bestimmt, und könnten wir sehen, wie Menschen Bewusstseinszustände wechseln, dann würde es uns nicht überraschen, dass sie sich nach außen plötzlich anders verhalten.

    An dieser Stelle kann man sich natürlich fragen, was nun eine Person definiert: Ist es die äußere Erscheinung des Körpers, durch den das Lebendige einer Person wirkt? Oder ist es das lebendige Wirken eines Menschen, das durch den jeweiligen Bewusstseinszustand geprägt wird? Aus der gängigen Perspektive unserer Gesellschaft definieren wir den Menschen durch seine äußere Form und sind dann verwundert, wenn er sich plötzlich stark verändert oder sich widersprüchlich verhält. Wir könnten jedoch auch einen anderen Blickwinkel einnehmen und auf das Lebendige schauen, das durch einen Menschen zum Ausdruck kommt. Nicht der Körper definiert dann die Person, sondern das lebendige Geschehen und damit die jeweilige innere Welt – der Bewusstseinszustand, der durch die Person wirkt.

    Diese zweite Betrachtungsweise findet sich auch in der Ursprungsbedeutung des Begriffes »Person« wieder. »Person« stammt vom griechischen Wort »prosopon« bzw. dem lateinischen »persona« ab, was sich auf die Maske einer Schauspielerin im antiken Theater bezieht, durch welche sie »hindurchtönt«. Es bezeichnet also die jeweilige Rolle, die die Schauspielerin gerade spielt. Diese Rolle wird durch die äußere Maske – also das Gesicht im Sinne von sicht-bar – durch das, was hindurchtönt, definiert.

    Wie wir wissen, kann eine gute Schauspielerin sogar in einem einzigen Theaterstück verschiedene Rollen einnehmen und selbst beide Geschlechter glaubhaft verkörpern. Da wir als Zuschauende uns von der jeweiligen Rolle verzaubern lassen und nicht darauf achten, dass es immer der gleiche Körper ist, der die verschiedenen Rollen spielt, entsteht auch kein Widerspruch und keine Irritation. Für uns Zuschauende ist der lebendige Prozess, der durch die Schauspielerin in der jeweiligen Rolle zum Ausdruck kommt, das Wesentliche, welcher sie definiert, und nicht ihr Körper.

    Spielen nicht alle Menschen unterschiedliche Rollen in dem einen Theaterstück ihres Lebens? Natürlich sind die alltäglichen Rollen, die wir einnehmen, meist nicht so markant und dramatisch wie im antiken Theater, sondern viel gewöhnlicher. Aber die Dynamik bleibt die gleiche. Wie eine gute Schauspielerin schlüpfen wir in verschiedene Bewusstseinszustände, die dann unser Erleben und unser Verhalten bestimmen, allerdings meist ohne uns dessen bewusst zu sein.

    Hier zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zum Schauspielberuf. Eine Schauspielerin stellt sich bewusst in den Dienst einer Rolle. Will sie überzeugend spielen, muss sie sich dabei vollkommen in die Rolle hineinversetzen und sich mit dieser Welt zeitweise identifizieren. Sprich, sie muss in der Rolle des Bösewichts zu einem Bösewicht oder in der Rolle des Opfers zu einem Opfer werden. Anders ausgedrückt, muss sie in den jeweiligen Bewusstseinszustand hineinwechseln, bis sie in eine Art Trance fällt, in der sie das authentische Erleben einer bestimmten Rolle selbst erfährt und lebendig zum Ausdruck bringt.

    Schauspielerinnen nutzen damit bewusst die hintergründige Dynamik von Bewusstseinszuständen, die menschliches Leben ausmacht, und spielen damit. Das macht der gewöhnliche Mensch im Alltag meistens nicht. Auch wir nehmen verschiedene Bewusstseinszustände ein und wechseln sie, aber wir müssen uns nicht bewusst extra in den jeweiligen Zustand hineinversetzen. Im Gegenteil. Die verschiedenen Rollen greifen meist mit Macht nach uns, sodass wir keine Wahl haben und sie uns vollkommen gefangen nehmen. Wir sind mit ihnen so stark identifiziert, dass wir uns meist nicht einmal bewusst sind, dass wir eine bestimmte Rolle spielen, und auch nicht, welche Potenziale wir dabei ausblenden. Die machtvolle Dynamik der Bewusstseinszustände und ihre Bedeutung für uns läuft hinter dem nach außen hin sichtbaren Geschehen an der Oberfläche unseres Lebens permanent im Verborgenen und damit meist unbewusst ab.

    Wenn wir betrachten, wie Menschen immer wieder Bewusstseinszustände wechseln und dabei unterschiedliche, wenn nicht sogar ­widersprüchliche »Rollen« spielen, kommt früher oder später die Frage nach unserer Identität auf: Wer sind wir, wenn wir uns in unterschiedlichen Bewusstseinszuständen vollkommen anders verhalten? Wer sind wir, wenn wir als Mensch in so unterschiedliche Erlebniswelten eintauchen können? Das reicht von Zuständen, in denen wir hocheffektiv funktionieren, aber vollkommen abgetrennt von unseren Gefühlsbereichen sind, bis hin zu Zuständen, in denen uns schöne oder schmerzhafte Gefühle so stark ausfüllen, dass sie vollkommen unser Denken und Handeln bestimmen.

    Offensichtlich sind wir nicht eine kohärente Einheit, so wie es die äußere Erscheinung unseres Körpers vielleicht vermuten lässt. Nach außen treten wir als eine Person in Erscheinung, aber die inneren Welten, in die wir eintauchen und aus denen wir leben und handeln, sind höchst unterschiedlich. Wenn wir uns auf das tatsächliche lebendige Geschehen beziehen, das sich durch unseren Körper ausdrückt, dann verschwindet das Bild einer einheitlichen Identität und wir können nur noch fragen: »Wer bin ich jetzt – in diesem Augenblick?« Oder anders ausgedrückt: »Welcher Bewusstseinszustand drückt sich jetzt durch mich aus?« Mit dieser Frage verschiebt sich die Sicht auf uns selbst, da wir uns immer weniger als eine feststehende einheitliche Person mit klar definierbaren Eigenschaften sehen.

    Wie die Dinge lebendig werden

    Doch nicht nur unser Identitätsbegriff, sondern auch unsere grundlegende Sicht auf die Welt verschiebt sich: Sogenannte Dinge wie ein Baum oder ein Stuhl fangen plötzlich an, lebendig zu werden und ihre Eigenschaften zu verändern. Hört sich das nicht verrückt oder esoterisch an? Kann ein Ding wie ein Stuhl wirklich lebendig werden? Ein Baum ist zumindest noch eine Pflanze, also ein lebendiges Wesen, obwohl wir ihn meist genauso als ein Ding behandeln. Aber ein Stuhl? Dieser ist doch wirklich ein feststehendes totes Objekt, oder?

    Natürlich hat ein Stuhl kein Eigenleben wie eine Pflanze oder ein Mensch, aber aus der Perspektive unserer lebendigen Erfahrung gibt es keinen unabhängigen Stuhl. Daher kann sich unser Erleben des Stuhles, je nachdem in welchem Bewusstseinszustand wir uns gerade befinden, sehr unterschiedlich gestalten. Er kann für uns ein Gebrauchsgegenstand sein, den wir zwar nutzen, aber kaum wahrnehmen. Er kann sich für uns jedoch auch in einem Moment der Muße zu einer tiefen sinnlichen Erfahrung des Niederlassens und Getragen-Werdens verwandeln.

    Machen wir nicht alle die Erfahrung, dass der »gleiche« Blick aus dem Küchenfenster unserer Wohnung, je nachdem in welchem Zustand wir uns befinden, eine sehr unterschiedliche Landschaft offenbaren kann? Manchmal rührt sie uns an und wir empfinden Vertrautheit, Schönheit und Dankbarkeit. Vielleicht sehen wir sogar eine vollkommen neue Landschaft. Manchmal sehen wir sie jedoch wie durch den Schleier der Gewohnheit und können nichts dabei empfinden.

    Wenn wir die lebendige Erfahrung ernst nehmen und die Wirklichkeit nicht nur durch die äußere Erscheinungsform von Menschen oder Dingen definiert wird, dann bekommt der Wirklichkeitsbegriff eine völlig neue Dimension. Er wird vielschichtig und regelrecht lebendig. Plötzlich ist ein Ding nicht mehr nur ein Ding, sondern eine lebendige, sich verändernde Erfahrung. Da ist ein Nachbar kein von uns unabhängiges Objekt, sondern wir erfahren hier ein lebendiges Beziehungsgeschehen, welches immer die Chance bietet, neue und überraschende Facetten hervorzubringen.

    Wenn wir also denken, dass die Wirklichkeit feststehend ist – oder anders ausgedrückt: dass ein Nachbar immer gleich ist und gleich bleibt –, liegt dies nur daran, dass wir uns gedanklich auf eine bestimmte Wirklichkeitsperspektive festgelegt haben und unserer lebendigen Erfahrung keinen Wert beimessen. Der Begriff »Wirklichkeit« wird hier auf eine materielle, objekthafte Beschreibung der Welt verengt. In dieser Beschreibung der Welt spiegeln sich wiederum grundlegende gesellschaftliche Übereinkünfte. In der westlichen Kultur ist die Sichtweise, Menschen und Dinge als voneinander unabhängige Objekte zu betrachten, tief verwurzelt. Die lebendige Erfahrung des Einzelnen wird grundsätzlich der objekthaften Beschreibung der Welt untergeordnet, wenn nicht sogar negiert.

    Das hat weitreichende Auswirkungen auf die innere Erfahrung des Menschen. Wenn wir in einer Gesellschaft leben, die uns ständig suggeriert, dass unsere lebendige Erfahrung unbedeutend ist oder keine Wirklichkeit besitzt, sondern nur die äußeren, materiellen Erscheinungen zählen, dann nehmen wir automatisch unsere inneren Erfahrungen nicht mehr so ernst. Sie verschwinden mehr und mehr aus dem Vordergrund unseres Bewusstseins, und das Denken, dessen Domäne die Beschreibung und Benennung von Objekten ist, gewinnt mehr und mehr an Bedeutung.

    Leben wir nicht in einer Gesellschaft, in der Gefühle als unbedeutend und subjektiv betrachtet und vernachlässigt werden? In der die Seele der Effektivität und Produktivität untergeordnet wird und entsprechend nicht selten als Störenfried erscheint? Wir geben Unsummen für die psychotherapeutische Behandlung von »seelischen Störungen« aus, aber fördern in unseren Schulen hauptsächlich kognitive Fähigkeiten. Ist es da ein Wunder, dass Menschen emotional verarmen, zu Suchtmechanismen neigen und irgendwann in der Psychotherapie als gesellschaftlich anerkanntem Zufluchtsort der Seele landen?

    Ein typisches Beispiel dafür, welche Auswirkungen verschiedene Realitätsbegriffe haben können, findet sich in der Medizin. Das vorherrschende Modell der modernen westlichen Medizin hat sich aus der Sichtweise einer materiellen Welt von unabhängigen Objekten heraus entwickelt. Hier werden menschliche Organe meist unabhängig vom übrigen Körper und auch relativ unabhängig vom energetischen System, den seelischen Einflüssen und den Lebensumständen betrachtet und behandelt. Der Medizin des Ostens, wie zum Beispiel der Akupunktur, liegt eine ganz andere Weltsicht zugrunde: Hier wird Körper und Seele als ein ganzheitliches, lebendiges Geschehen gesehen. So haben sich die Methoden der östlichen Medizin nicht aus dem Sezieren und dem Studium von Organen entwickelt, die toten Menschen entnommen wurden, sondern aus der Beobachtung des lebendigen Menschen.

    Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, eine Bewertung verschiedener medizinischer Sichtweisen und Methoden vorzunehmen. Wie wir wissen, können beide medizinische Systeme wertvolle Beiträge zur Gesundheit des Menschen beisteuern. Es geht mir im Moment lediglich darum, aufzuzeigen, wie stark sich ein bestimmter Wirklichkeitsbegriff als kollektive Hypnose auf eine Gesellschaft stülpt und welch drastische Auswirkungen dies auf die Entwicklung der Gesellschaft und auf die Erfahrung des einzelnen Menschen hat.

    Bei diesen Betrachtungen wird deutlich, dass der Wirklichkeitsbegriff sich nicht auf eine feststehende und allgemeingültige Entität bezieht, da es diese in ihrer Absolutheit und Allgemeingültigkeit gar nicht gibt. Sowohl subjektive Bewusstseinszustände als auch kollektive Beschreibungen der Wirklichkeit können völlig unterschiedliche Welten hervorbringen. Insofern muss man den Wirklichkeitsbegriff auf seine ursprüngliche Wortbedeutung zurückführen: Wirklichkeit ist das, was wirkt und damit unsere Welt bestimmt. Dieser Wortsinn weist auf eine Vielschichtigkeit von Realität hin und lässt zu, dass sich Wirklichkeiten ändern können.

    Mit den Augen einer Libelle schauen

    Bei aller Vielschichtigkeit von Bewusstseinszuständen, die unser Erleben einfärben, gibt es nicht doch eine feststehende, materielle Welt um uns herum? Ist ein Tisch nicht ein Tisch und ein Baum nicht ein Baum, unabhängig davon, aus welchem Bewusstseinszustand wir ihn gerade betrachten? Sieht nicht jeder Mensch den gleichen blauen Himmel über sich und die gleiche bunte Blumenwiese, auf der er steht?

    Ja, es gibt eine gewisse kollektive Verlässlichkeit unserer Erfahrung, wenn wir als Menschen unsere sinnliche Wahrnehmung vergleichen. Wahrscheinlich sieht eine Gruppe von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen den Himmel tatsächlich in der Farbe Blau und die Blumenwiese dagegen bunt. Natürlich gibt es hier bereits Abweichungen, da manche Menschen nur schwer Braun- und Grüntöne differenzieren können. Aber diese Abweichungen werden kollektiv als Fehlentwicklung ihrer Wahrnehmungsorgane abgetan, sodass sie die kollektive Sichtweise einer feststehenden materiellen Welt nicht infrage stellen.

    Wenn wir uns aber jetzt vergegenwärtigen, dass das menschliche Auge nur einen sehr kleinen Bereich der elektromagnetischen Wellen – wir nennen ihn »Licht« – aufnehmen und ans Gehirn weiterleiten kann, das wiederum aus den Sinnesreizen eine farbige Welt konstruiert, dann wird deutlich, dass die Art, wie wir die Welt sehend erfahren, eine menschliche Konstruktion von Auge und Gehirn ist. Infrarotstrahlungen, UV-Strahlen, Röntgenstrahlen und viele andere niedere oder hohe Wellenbereiche des Lichts werden nicht dargestellt. Wie würde die Welt wohl aussehen, wenn wir diese Strahlungsbereiche auch sehen könnten?

    Wie sieht beispielsweise eine Libelle mit ihren Facettenaugen die Welt? Ein Facettenauge einer Libelle besteht aus bis zu 30.000 Einzelaugen. Sie sieht also gar nicht eine einzige Welt, sondern unzählig viele. Wir können eine Ahnung davon bekommen, wie die Libelle die Welt sieht, wenn wir einen Blick in ein Kaleidoskop werfen. Hier fächert sich das Sehfeld durch eine Anordnung von mehreren Spiegeln auf und es entsteht eine vielschichtige, aufgelöste und faszinierende »Spektralwelt«. Allerdings besteht diese nur aus wenigen Spiegelfeldern und nicht aus 30.000.

    Oder betrachten wir die Sinnesorgane einer Fledermaus. Hört sie nicht den Ultraschallbereich, der unseren Ohren verschlossen bleibt? Auf der anderen Seite können ihre Augen nur Schwarz-Weiß sehen, aber wiederum die UV-Strahlen erkennen. Sie verfügt sogar über einen Magnetsinn, der ihr hilft, ähnlich wie bei Zugvögeln die Orientierung zu behalten.

    Man kann sich kaum vorstellen, wie eine Libelle oder eine Fledermaus die Welt konstruiert und damit erfährt, aber wir können sicher sein, dass Menschen und Tiere die Welt, in der sie leben, so unterschiedlich beschreiben würden, dass wir nicht auf die Idee kämen, dass sie den gleichen Planeten bewohnen. Das bedeutet nicht weniger, als dass es keine äußere feststehende Welt gibt, sondern nur innere Konstrukte der Welt, abhängig vom jeweiligen Lebewesen und seinen Wahrnehmungsorganen und seiner Art, die Wahrnehmungsreize zu verarbeiten.

    Doch die Unterschiedlichkeit der Welten, in denen Lebewesen leben, endet nicht mit der Wahrnehmung, also der inneren Konstruktion einer äußeren Welt. Sie geht weit über die Wahrnehmung hinaus, da das Lebewesen mit seiner Art zu leben diese Welt, in der es lebt, mitgestaltet. So ist ein lebendiges Geschöpf nicht nur »Empfänger« einer äußeren Welt, sondern erschafft diese auf zweifache Weise: zum einen durch seine individuelle Art der sinnlichen Konstruktion, zum anderen aber durch sein Handeln, also seine Art, sich aktiv auf die von ihm konstruierte Welt zu beziehen.

    Nehmen wir zum Beispiel einen Frosch, der als Amphibie perfekt an das Leben im Teich angepasst ist. Seine Sinne helfen ihm, das Leben im Teich zu meistern, Feinde durch kleinste Erschütterungen wahrzunehmen und Beute, wie zum Beispiel Fliegen, im Flug zu erkennen. Der Frosch ist aber nicht nur Wahrnehmender, sondern gleichzeitig auch »Gestalter«. Er prägt durch sein Leben das Milieu im Froschteich mit und wird so auch der Mitschöpfer der Welt, in der er lebt.

    Beim Menschen können wir besonders deutlich erkennen, wie stark er seine Welt, in der er lebt, miterschafft. Nehmen wir zum Beispiel seine Fähigkeit, ein bestimmtes Spektrum an Schallwellen zu hören. Innerhalb dieses Spektrums kann er Töne in seinem Erleben konstruieren und damit auf seine spezifisch menschliche Weise erfahren, sprich hören. Dabei bleibt es aber nicht. Er hört diese Töne nicht nur als empfangendes Wesen, er erschafft sie auch. Durch seine Fähigkeit, zu hören, konnte er die sprachliche Kommunikation entwickeln und perfektionieren. Und, was vielleicht noch erstaunlicher ist, er hat Musikinstrumente erschaffen, mit denen er in diesem Hörspektrum Töne und sogar komplexe Symphonien erzeugen kann, die es vorher auf dieser Erde nicht gab. So erschafft der Mensch durch seine Art der Wahrnehmung und seine Art zu leben eine ganz eigene Welt, von der ein Tier, das nicht hören kann, ausgeschlossen ist.

    Wie stark der Mensch seine Welt selbst erschafft, können wir daran ermessen, dass Geologen inzwischen davon ausgehen, dass wir erdgeschichtlich in ein neues Zeitalter eingetreten sind, in dem der Mensch das Antlitz der Erde, also die natürliche Beschaffenheit der Oberfläche der Erde, unwiederbringlich verändert hat. Diese Tatsache ist natürlich erschreckend, da sich der Mensch mit seiner ungeheuer mächtigen Gestaltkraft von allen anderen Lebewesen auf der Erde unterscheidet und wir nicht wissen, ob sich der Mensch nicht dadurch langfristig seiner eigenen Lebensgrundlage beraubt. Nichtsdestotrotz ist die grundsätzliche Dynamik, dass jedes Lebewesen die Welt, die es mit seinen Sinnen erfährt, schöpferisch mitgestaltet, dagegen ein natürlicher Prozess.

    Nur eine Welt?

    Jedes Lebewesen ist also Empfänger und Schöpfer in einem. Wobei man sich auch das Empfangen nicht als passives Abbilden einer äußeren Realität vorstellen darf, sondern als eine aktive Konstruktion, die Sinnesreize zu einer individuellen Erfahrung verdichtet. Dieser Vorgang findet vollkommen automatisch und unbewusst statt, sodass wir die Welt, die wir konstruieren, nicht mehr hinterfragen und wir selbstverständlich davon ausgehen, dass es nur diese eine Welt gibt, die wir erfahren. Oder anders gesagt: dass alle Lebewesen in einer Welt leben – nämlich der unseren – und sie genauso erfahren wie wir selbst. Welch ungeheure Fehleinschätzung!

    Diese Grundannahme stimmt nicht einmal, wenn wir im menschlichen Bereich bleiben. Wenn Menschen aus verschiedenen Kulturkreisen aufeinandertreffen, wird es manchmal geradezu offensichtlich, dass sie aus verschiedenen »Welten« stammen. Die Folge sind eklatante Missverständnisse, die zu Irritation, Befremdung und Ablehnung führen können.

    Wenn zum Beispiel ein deutscher Mann in Ägypten höflich die Frau des Gastgebers grüßt und sie dabei anschaut, ist dies im deutschen Verständnis ein Ausdruck von Höflichkeit und eine Selbstverständlichkeit. In der ägyptischen Kultur jedoch ist diese Handlung eine außerordentliche Respektlosigkeit. Umgekehrt, wenn eine ägyptische Frau einen deutschen guten Bekannten auf der Straße keines Blickes würdigt, ist dies im Sittenkodex der arabischen Welt ein Ausdruck von Respekt, für den Bekannten aus einem europäischen Kulturkreis kommend allerdings das Gegenteil.

    Manchmal genügt bereits eine bestimmte Art des Humors, um die Kluft zwischen den kulturellen Welten sichtbar werden zu lassen. Was für den einen ein Witz ist, kann für einen anderen Menschen aus einer anderen Gesellschaft eine Peinlichkeit oder sogar eine Beleidigung darstellen. Natürlich sind kulturelle Schranken nicht unüberwindbar, aber um ein echtes Verständnis füreinander zu bekommen, müssen wir zunächst die Unterschiedlichkeit der Welten, aus denen wir kommen, anerkennen. Das bedeutet, dass wir uns bewusst machen, dass uns der Kulturkreis, in dem wir leben, tiefer prägt, als wir uns das normalerweise eingestehen.

    Besonders in unserer westlichen Gesellschaft sehen wir uns selbst als aufgeklärt, modern und weltoffen. Damit einher geht das Gefühl, anderen Kulturkreisen überlegen zu sein. Gleichzeitig übersehen wir völlig, dass wir ein Kind dieser Kultur sind und damit unsere Sicht- und Lebensweise stark von der westlichen Gesellschaft geprägt wird. Wir sind daher in unseren Meinungen und Verhaltensweisen genauso wenig unabhängig und frei wie Menschen in anderen Kulturen. Unsere sogenannte Weltoffenheit kommt sehr schnell an ihre Grenzen, wenn wir mit für uns unverständlichen Lebensformen anderer Kulturen konfrontiert werden und diese als gleichwertig akzeptieren sollen.

    Doch auch innerhalb einer Kultur leben Menschen in unterschiedlichen Welten. Lebt ein Mensch, der in sich tiefe Ängste hat, und dessen Grundgefühl das der Bedrohung ist, in der gleichen Welt wie ein Mensch mit einem großen Vertrauen ins Leben? Mit Sicherheit nicht. Eine Person mit Grundängsten wird auf allen Ebenen mehr mit Absicherung beschäftigt sein als mit Lebenslust. Das wird ihre Sichtweisen genauso prägen wie ihre Gefühle und Verhaltensweisen. Vielleicht verhält sie sich in Kontakten vorsichtig, geht bei Entscheidungen keine Risiken ein, bleibt im vertrauten Rahmen der Tradition, fährt immer wieder an den gleichen Urlaubsort und ist allem Neuem oder Fremdem gegenüber skeptisch. Ein lebensverändernder Schritt kann für eine ängstliche Person eine ungeheure Herausforderung darstellen, die sie mit tiefen Ängsten konfrontiert und an den Rand der Erschöpfung bringt.

    Ganz anders verhält sich da ein Mensch mit Grundvertrauen. Neues wird als belebend erfahren und entsprechend gesucht. Das bekannte und vertraute Terrain kann hinterfragt und erweitert oder zurückgelassen werden. Ein Mensch mit Grundvertrauen hat eine Freiheit und eine Abenteuerlust, von der eine Person mit Ängsten nur träumen kann.

    Man könnte jetzt denken, dass eine ängstliche Person auf die Freiheit eines Menschen mit großem Vertrauen neidisch ist. Doch das ist ein Irrtum. Im Gegenteil kann sie ein risikobereites Handeln unverständlich oder sogar erschreckend finden. Eine ängstliche Person sucht nämlich zuinnerst Sicherheit und nicht Freiheit. Man kann sich vorstellen, dass Menschen, die in derart unterschiedlichen Welten leben und so widersprüchliche Sehnsüchte haben wie den Wunsch nach Sicherheit, bzw. Freiheit

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