Jesus nachfolgen: Nach Hause finden in einem Zeitalter der Angst
Von Henri J. M. Nouwen und Richard Rohr
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Über dieses E-Book
An einem der Tiefpunkte seines Lebens hielt Henri Nouwen Vorträge über die Bedeutung der Jesus-Nachfolge in einem Zeitalter der Angst.
Henri Nouwen sieht, wie wir uns zwischen Rastlosigkeit, die uns in Atem hält, und frustrierter Untätigkeit, die uns lähmt, durch unser Leben bewegen. Er macht uns auf die Stimme von Jesus aufmerksam, der zu mir und zu dir sagt: "Komm, folge mir nach."
Nouwen lädt ein, diese leise Stimme der Liebe zu hören und sich darauf einzulassen – und auf diesem Weg mit Jesus von der Angst befreit zu werden.
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Buchvorschau
Jesus nachfolgen - Henri J. M. Nouwen
EINFÜHRUNG
Folgen Sie Jesus nach? Ich möchte Sie dazu auffordern, sich selbst genauer anzusehen und diese Frage selbst zu stellen.
Sind Sie ein Nachfolger, eine Nachfolgerin? Bin ich es?
Oft sind wir mehr Wanderer als Nachfolger. Ich sage das von mir selbst, aber es gilt auch für Sie. Wir sind Menschen, die ziemlich viel herumrennen, vieles tun, viele andere Menschen treffen, bei vielen Ereignissen dabei sein wollen, viele Bücher lesen. Wir sind in eine Menge verwickelt. Wir erfahren das Leben als unzählige Sachen. Wir gehen hierhin und dorthin, tun dieses und jenes, reden mit diesem, reden mit jener, haben dieses zu tun und jenes zu erledigen. Zuweilen fragen wir uns, wie wir das alles überhaupt fertigbringen. Wenn wir uns hinsetzen und darüber nachdenken, so merken wir, dass wir oft von einer Notwendigkeit zur anderen rennen. Wir sind ja so beschäftigt und in so vieles verwickelt. Fragt uns aber jemand, womit wir derart beschäftigt sind, können wir das gar nicht genau erklären.
Menschen, die ständig vom einen zum andern hasten, haben das Gefühl, dass sie mehr gelebt werden, als wirklich selbst zu leben, und das macht sie sehr müde. Das ist für viele Menschen ein Problem.
Das liegt nicht nur daran, dass wir vieles tun, sondern dass wir uns dabei fragen, ob da eigentlich überhaupt etwas geschieht. Es wirkt ja zuweilen so, als hätten wir wie ein Jongleur alle diese Bälle in die Luft geworfen und fragen uns nun, wie wir sie oben halten können. Das ist sehr ermüdend, ja erschöpfend.
Manche Menschen machen schließlich Halt und lassen alles bleiben. Sie sagen: „Das hat jetzt fünf Jahre lang gedauert und trotzdem hat es nichts gebracht." Sie sitzen da und tun nichts mehr. Nichts regt sie mehr auf. Sie haben am Leben kein wirkliches Interesse mehr. Sie sitzen bloß noch vor dem Fernseher, lesen Comics und schlafen die meiste Zeit. Sie haben keinen Rhythmus mehr, keine Bewegung, keine Spannung. Zuweilen bietet sich die Flucht mittels Alkohol, Drogen oder Sex an, aber nichts fasziniert sie mehr. Nichts verschafft ihnen Energie.
„Was möchtest du tun? – „Ist mir egal.
„Möchtest du ins Kino gehen? – „Ist mir egal.
Früher sind sie umhergeschweift – jetzt sitzen sie nur noch da. Diese Menschen sind zugleich recht müde. Sie sind richtig erschöpft. Diese beiden Menschentypen, die Herumrenner und die bloß noch Herumsitzer, bewegen sich nirgendwo mehr hin.
In jedem von uns steckt ein Stück Wanderer und ein Stück von der Art Mensch, der bloß noch herumsitzt. Wenn Sie auf diese Welt blicken, denken Sie vielleicht: „Ich bin so müde. In dieser Welt gibt es so viel Müdigkeit, so viel Erfahrung des Schweren, dass ich mich zuweilen als Wanderer empfinde und zuweilen als Herumsitzer. In diese unsere zutiefst müde gewordene Welt schickt Gott Jesus, der uns mit der Stimme der Liebe ansprechen soll. Jesus sagt: „Folge mir nach. Lauf nicht bloß dauernd herum. Folge mir nach. Sitz nicht bloß hier herum. Folge mir nach.
Die Stimme der Liebe ist die Stimme, die unserem Leben eine völlig neue Form geben kann, so dass aus einem Leben des bloßen Herumwanderns oder bloßen Herumsitzens ein Leben werden kann, das konzentriert ist und einen Punkt findet, den es ansteuern kann.
„Folge mir nach." Manche von uns haben diese Stimme vielleicht schon gehört.
Andere nicht. Sobald wir die Stimme hören, die uns zur Nachfolge aufruft, ergibt oft alles wieder Sinn. Statt uns in viele verschiedene Richtungen hinaus zu bewegen, haben wir plötzlich ein Ziel. Wir wissen, wohin wir gehen. Wir haben nur noch eine Sorge. Plötzlich vergeht diese abgründige Langeweile, die wir erlebt haben, weil wir die Stimme der Liebe vernommen haben.
Wenn wir kein Ziel haben; wenn wir niemanden haben, dem wir folgen können, sind wir hohle Menschen. Ja, das sind wir dann! Aber wenn wir entdecken, dass es eine Stimme der Liebe gibt, die uns ruft und zu uns sagt: „Folge mir nach!", wird alles anders. Das Leben, das so öde erschien, so langweilig, so ermüdend, wird jäh zu einem Leben mit einer Richtung.
Dann sagen wir vielleicht zu uns selbst: „Jetzt weiß ich, warum ich lebe!"
Dieses Buch hier wurde geschrieben, um Ihnen und mir zu helfen, diese Stimme der Liebe zu vernehmen, diese Stimme, die Ihnen ins Ohr flüstert: „Folge mir nach!"
Was ich vorhabe, ist, uns vom rastlosen Herumwandern weg und zum frohen Nachfolgen hin zu führen; weg davon, gelangweilte Menschen zu sein, die bloß herumsitzen und nichts dafür tun, aufgeweckt zu werden, weil wir eine Stimme gehört haben.
Diese Stimme ist nicht von der Art, dass sie sich uns aufdrängen möchte. Es ist eine Stimme der Liebe, und die Liebe drängt nicht und zieht nicht mit Gewalt. Die Liebe ist sehr einfühlsam.
Im Alten Testament gibt es die wunderbare Geschichte, dass ein Prophet am Eingang einer Höhle steht und der Herr davor vorbeizieht. Es donnert, und der Herr ist nicht im Donner. Die Erde bebt, und der Herr ist nicht im Erdbeben. Ein Feuer zieht vorüber, und der Herr ist nicht im Feuer. Dann ist eine leise, zarte Stimme zu hören, und in dieser Stimme ist der Herr (siehe 1. Könige 19,11–13).
Diese Stimme ist sehr zart. Sie kann sehr still sein. Zuweilen kann man sie kaum hören. Aber diese Stimme der Liebe ist bereits in dir. Vielleicht hast du sie sogar schon einmal gehört.
Fange damit an, auf diese Stimme zu hören. Werde still und verbringe einige Zeit mit dem Versuch, sie zu hören.
Horche. Sie sagt: „Ich liebe dich" und ruft dich bei deinem Namen.
Sie sagt: „Komm, komm. Folge mir nach."
Lieber Gott,
sei heute bei mir. Horche auf mein Verwirrtsein und hilf mir zu erkennen, wie ich mit ihm leben kann. Ich kenne die Worte nicht. Ich kenne den Weg nicht. Zeig mir den Weg. Du bist ein stiller Gott. Hilf mir, in einer lauten Welt auf deine Stimme zu hören. Ich weiß, dass du der Friede bist. Ich weiß, dass du die Freude bist. Hilf mir, ein friedlicher und froher Mensch zu sein. Das sind die Früchte des Lebens ganz in deiner Nähe. Bring mich dir ganz nahe, lieber Herr.
Amen.
KAPITEL EINS
DIE EINLADUNG
„Komm und sieh"
Als Johannes der Täufer mit zwei seiner Jünger am Jordan stand, kam Jesus vorbei. Johannes blickte ihn scharf an und sagte: „Seht, da ist das Lamm Gottes. Die zwei Jünger, die das hörten, folgten Jesus. Jesus wandte sich um, sah sie ihm nachfolgen und sagte: „Was wollt ihr hier?
Sie erwiderten: „Rabbi [was „Lehrer heißt], wo wohnst du? Er gab ihnen zur Antwort: „Kommt und seht!
So gingen sie mit ihm, sahen, wo er wohnte, und blieben den Rest des Tages bei ihm. Das war ungefähr zur zehnten Stunde.
Johannes 1,35–39
Stell dir vor, du bist für einen Augenblick in dieser Geschichte dabei. Stell dir vor, du stehst da vor Johannes dem Täufer. Er ist ein energischer Mensch. Stell ihn dir in seinem Kamelhaarmantel vor. Er ist anders als alle andern. Er sagt mit strenger Stimme: „Tut Buße! Tut Buße! Ihr seid ein sündiges Volk. Tut Buße! Tut Buße! Tut Buße!"
Die Leute stehen da und hören das. Sie haben irgendwie das Gefühl, dass in ihrem Leben etwas fehlt. Sie spüren irgendwie, dass sie mit allem möglichen beschäftigt und deshalb erschöpft sind – oder dass sie bloß untätig herumsitzen und nie etwas Entscheidendes passiert.
Sie gehen zu diesem eigenartigen Menschen – diesem wilden Mann – und hören ihm zu. Johannes und Andreas, zwei der Jünger von Johannes, stehen bei ihm. Eines Tages kommt Jesus vorbei. Johannes blickt ihn scharf an und sagt: „Das ist das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt."
Johannes wusste, dass seine Leute Sünder waren und der Buße bedurften, aber er wusste auch, dass er die Sünden dieser Menschen nicht wegnehmen konnte; dass das Wegnehmen von Sünden keine Möglichkeit des Menschen war. Er sagte nur: „Tut Buße! Tut Buße! Tut Buße!" Aber als Jesus vorbeikam, sah Johannes ihn scharf an und sagte zu Johannes und Andreas: „Seht, das ist das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt. Das ist der Gottesknecht. Er ist gekommen, um zu leiden. Das ist der, welcher gesandt wurde, das Opfer zu werden, das Lamm Gottes, sodass er eure Sünden wegnehmen kann."
Bleibe einfach in diesem Bild.
Bleibe da, wo Johannes und Andreas sind, begierig, ein neues Leben anzufangen, mit einem neuen Konzentrationspunkt, einem Neuanfang, einem neuen Herzen, einer neuen Seele. Diese zwei jungen Männer fangen an, Jesus nachzufolgen, und Jesus dreht sich um, sieht sie ihm nachfolgen und sagt: „Was wollt ihr? Und was sagen sie? Sagen sie: „Herr, wir möchten deine Anhänger sein
, „Herr, wir möchten deinen Willen tun, „Herr, wir möchten, dass du unsere Sünden hinwegnimmst
? Sie sagen nichts von alledem! Stattdessen fragen sie ihn: „Wo wohnst du?"
Wir hören hier irgendwie gleich zu Anfang dieser Geschichte die sehr wichtige Frage: „Wo wohnst du? Was ist dein Platz? Wie fühlt es sich an, bei dir zu sein?"
Jesus sagt: „Kommt und seht."
Er sagt nicht: „Kommt in meine Welt. Er sagt nicht: „Kommt, ich will euch ändern.
Er sagt nicht: „Werdet meine Jünger, „Hört auf mich
, „Tut, was ich euch sage, „Nehmt euer Kreuz auf euch.
Nein. Er sagt: „Kommt und seht. Seht euch um. Lernt mich kennen." Das ist die Einladung. Sie blieben bei ihm. Sie gingen und sahen, wo er lebte, und blieben den Rest des Tages bei ihm. Johannes sagt, das sei ungefähr zur zehnten Stunde gewesen, also etwa um vier Uhr nachmittags.
Jesus lud sie ein und sie kamen zu ihm und sie wohnten bei ihm. Sie begaben sich freiwillig an seinen Platz. Sie sahen einen ganz anderen Menschen als Johannes den Täufer, der laut ausrief: „Tut Buße, tut Buße, tut Buße! Die Zeit ist angebrochen! Stattdessen sagte Jesus bloß: „Kommt und seht, wo ich lebe.
Sie sahen Jesus, das Lamm Gottes. Den demütigen Knecht. Arm, sanftmütig, warm, Frieden stiftend, reinen Herzens. Sie sahen ihn. Schon damals. Sie sahen das Lamm Gottes.
Das ist alles sehr behutsam. Man spürt eine Zärtlichkeit, eine Demut.
„Kommt und seht."
„Sie blieben den Rest des Tages bei ihm."
Jesus lädt sie ein, sich