Unsere gesamte Jugend
Von Mathieu Legendre
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Über dieses E-Book
Soldat, Krankenträger, dann Sanitäter, Camille Tabouret erzählt uns von seinen fünf Jahren Militärdienst in unmittelbarer Nähe zu Kämpfen, Verletzten und Getöteten, aber auch vom Feind.
Vom belagerten Amiens ins befreite Straßburg nach Zwischenetappen in der Bretagne, in den Argonnen, der Somme, den Vogesen und Algerien begleiten Sie Camille Tabouret auf seiner modernen Odyssee, von der so viele nicht zurückgekommen sind.
Ein schonungsloser Bericht, der ungeschminkt auf den Krieg der Kriege schaut, wie der Krankenträger Tabouret ihn erlebt hat, als Mitwirkender und Zeuge eines Konflikts, der Frankreich für immer gezeichnet hat.
Das Buch wurde basierend auf den Originaltagebüchern von Camille Tabouret von seinem Urgroßneffen, Mathieu Legendre, verfasst und angepasst.
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Buchvorschau
Unsere gesamte Jugend - Mathieu Legendre
Für Camille,
seinen Sohn Maurice,
seine Schwiegertochter Yvette,
und seinen Enkel Patrice.
Vorwort
Diese zweite Ausgabe von „Unsere gesamte Jugend" enthält zwei Neuerungen.
Zum einen wurde zu Beginn eines jeden Kapitels ein Überblick über die jeweilige historische Situation hinzugefügt. Dies ist als Hilfestellung gedacht, damit die Leser dem Verlauf des Großen Kriegs besser folgen können. Die „historischen Orientierungspunkte" unterstützen den Leser dabei, Camilles Bewegungen örtlich wie zeitlich einfacher nachvollziehen zu können. Der Leser erkennt so auch die Schlüsselorte und -momente des Ersten Weltkriegs wieder.
Die zweite Neuerung in dieser Ausgabe ist dieses Vorwort mit ein paar persönlicheren Einblicken.
Viele Leser haben nach Camille gefragt, nach seiner Familie und meinen Verwandtschaftsgrad zu ihm. Einige sagten sogar, dass ich ihm ähneln würde, aber das lasse ich Sie beurteilen.
Camille gehörte zur Generation meines Urgroßvaters. Nach dem Krieg übernahm er die Metzgerei seines Vaters und heiratete eine der Schwestern meines Urgroßvaters (den Vater meiner Großmutter väterlicherseits). Um es einfach auszudrücken, er war der Onkel meiner Großmutter, die noch am Leben ist. 2020 ist sie 97 Jahre alt geworden.
Aus seiner Ehe mit meiner Urgroßtante, Marie Talbot, ist ein Sohn entstanden; Maurice. Aber Marie starb bereits, als Maurice noch ein Kind war. Camille, nun Witwer, brauchte Hilfe bei der Erziehung seines Sohnes und so zog Louise Talbot, eine andere Schwester meines Urgroßvaters, bei ihm ein, um ihm dabei unter die Arme zu greifen. Louise, Maurice' Tante, wurde also seine neue Mutter und später die zweite Ehefrau von Camille.
Maurice und meine Großmutter, zweifach Cousin und Cousine, wuchsen gemeinsam auf und blieben ihr gesamtes Leben eng miteinander verbunden.
Als ich 1982 das Licht der Welt erblickte, weilte Camille bereits nicht mehr unter uns, aber Maurice und seine Frau Yvette lebten ganz in der Nähe meiner Großeltern und Eltern. Sie waren für uns wie ein weiteres Paar Großeltern und fuhren oft mit uns zusammen in den Urlaub.
Ich hatte das große Glück, viel Zeit mit ihnen in ihrer Heimatstadt Neufchâtel-en-Bray in der Normandie verbringen zu können.
Ihr Sohn Patrice ist ein bisschen jünger als meine Eltern und lebte Anfang der 90er Jahre einige Zeit bei uns.
Als Maurice und Yvette den Kaufmannsberuf an den Nagel gehangen hatten und in Rente gegangen waren, verbrachten sie viel Zeit in ihrem Wohnwagen, den sie im Sommer in den Garten des Ferienhauses unserer Familie stellten. Maurice begleitete uns also meistens auf unseren sommerlichen Abenteuern.
Maurice hat mich ebenfalls mit der Gattung Kriegsroman vertraut gemacht. Er lieh mir seine Ausgabe der Memoiren des Capitaine Coignet, eines Soldaten der Napoleonischen Garde. Er gab mir damals allerdings noch nicht die Memoiren seines Vaters, weil er damals fand, dass ich noch zu jung dafür wäre.
Als ich anfing zu studieren, verbrachte ich immer weniger Zeit mit der Familie, auch während der Semesterferien. Maurice besuchte meinen Vater jedoch weiterhin im Pariser Umland, vor allem immer dann, wenn er mit Yvette aus der Normandie in den Süden fuhr, um dort ihren Sohn Patrice zu besuchen. Sie waren immer herzlich willkommen, einen Zwischenstopp in Seine-et-Marne einzulegen.
Bei einer dieser Reisen Ende Januar 2005 hatte Maurice auf einer Straße, die nördlich von Meaux bei St-Soupplets durch eine Ebene führt, einen Autounfall. Eine der Ebenen, auf denen die Deutschen 1914 während der Schlacht um die Marne gestoppt wurden.
Er wurde ins Krankenhaus Kremlin Bicêtre im Pariser Süden gebracht und kam dort auf die Intensivstation.
Ich habe ihn noch am selben Abend, es war ein Freitag, mit meinem Cousin Antoine besucht. Wir waren die letzten beiden, die ihn „lebend" gesehen haben. Maurice verstarb früh morgens am Samstag, dem 29. Januar 2005.
Yvette ist daraufhin in den Süden zu Patrice gezogen und verbrachte dort ihren Lebensabend.
Zwischen 2016 und 2018 kümmerte ich mich um die Abschrift des Kriegstagebuchs von Camille, das mein Vater damals bekommen hatte. Es wurde im Januar 2019 zuerst veröffentlicht.
Ich habe also nur eine indirekte Verbindung zu Camille. Da ich durch sein Tagebuch viel Zeit mit ihm verbracht habe, habe ich dennoch den Eindruck, ihn jetzt gut zu kennen und Teil seiner Familie zu sein.
Ich hoffe, Sie haben nach der Lektüre dieses Buchs dasselbe Gefühl. Es ist Camille und seiner Familie gewidmet und ich hoffe, dass Ihnen diese zweite Ausgabe gefällt.
Einleitung
Die Geschichte ist bekannt.
1870 wird Frankreich besiegt.
Die Deutschen verlassen Versailles mit Elsass-Lothringen* und einem Kaiserreich in der Tasche.
Im August 1914 bricht ein neuer Konflikt zwischen den europäischen Großmächten aus.
44 Jahre nach der Niederlage von Sedan ist für Frankreich die Stunde der Vergeltung gekommen.
Vorher müssen wir jedoch einen Blick zurück ins Jahr 1890 werfen.
Um genau zu sein, auf den 23. Juni 1890, den Tag meiner Geburt, Sohn von Marie und Camille Tabouret, der mir seinen Namen und Vornamen gibt.
Mein Vater ist der Metzger von Formerie, einem kleinen Dorf im Département Oise am Rande der Normandie, das vor allem für seinen Schweinemarkt bekannt ist.
Nach der Schule steige ich bei meinem Vater ins Familiengeschäft ein, bevor ich im Alter von 21 Jahren meinen zweijährigen Militärdienst antrete.
Ich wurde 1890 geboren und gehöre zum Rekrutenjahrgang des Jahres 1910, der zwischen Oktober 1911 und Oktober 1913 den Militärdienst leistet. Ich werde dem 72. Regiment der Infanterie von Amiens zugeteilt und spiele dort im Musikkorps.
Nach zwei Jahren Dienst kehre ich nach Formerie zurück. Neun Monate später, am 1. August 1914, erklärt das Deutsche Kaiserreich dem Russischen Kaiserreich, einem Verbündeten Frankreichs, den Krieg.
Kapitel I – Die Bretagne und Vienne-le-Château in den Argonnen
August 1914 – Januar 1915
Historischer Hintergrund:
Anfang August 1914 marschiert Deutschland in Belgien ein. Der belgischen Armee bleibt nichts anderes übrig, als sich zurückzuziehen und sich in ihren Forts zu verschanzen. Die englisch-französischen Truppen schaffen es nicht, die deutsche Armee in Schach zu halten. Letztere gewinnt die Grenzschlacht und marschiert in Frankreich ein. Die Truppen der Entente ziehen sich Stück für Stück zur Marne nordöstlich von Paris zurück.
Im Osten waren die Rollen getauscht. Die Deutschen mussten sich der russischen Offensive beugen, aber am Ende des ersten Kriegsmonats schafft es die deutsche Armee unter dem Befehl von Ludendorff und Hindenburg den Vormarsch der Kaiserlich Russischen Armee bei Tannenberg zu stoppen.
Anfang September beenden die alliierten Truppen ihrerseits den Vormarsch der Deutschen an der deutsch-belgischen Front und starten eine Gegenoffensive. Die deutsche Armee wird bei der Schlacht um die Marne gestoppt und muss sich auf weiter zurückliegende Positionen zurückziehen, bleibt jedoch auf französischem Territorium.
Es beginnt der „Wettlauf zum Meer". Im September und Oktober 1914 versuchen die Armeen beider Seiten, sich auf dem Weg zur Nordküste Frankreichs gegenseitig zu überholen.
Die Kriegsparteien bekämpfen sich während der ersten Schlacht von Ypres im Westen Belgiens mit allen Kräften. Die deutschen Truppen können in Schach gehalten werden und eine stabile Front entsteht. Die Armeen graben sich in den Boden ein. Die Kriegsgräben durchfurchen den Nordosten Frankreichs von der Front in der Schweiz bis zur Nordsee.
Im Dezember 1914 startet die Entente eine Offensive in der Champagne, östlich von Paris. Die Kämpfe wüten schlimm, ganz besonders im Argonner Wald westlich von Verdun. Offensiven und Gegenoffensiven der beiden Lager werden immer zahlreicher, ohne eine endgültige Entscheidung herbeizuführen. Damit beginnt der Grabenkrieg, in dessen Verlauf tausende Männer für die Eroberung eines einfachen Schützengrabens getötet werden; für einige Dutzend Meter.
Camille:
2. August 1914: Die Mobilisierung wird angeordnet, als ich gerade an der Diphterie leide. Bei Kriegsausbruch bin ich krank und kann unmöglich mein Bett verlassen. Ich stoße erst 20 Tage später zu meinem Regiment.
Das 72. ist immer noch in Amiens stationiert, als ich ankomme, aber die Deutschen stehen vor den Toren der Stadt und das Trommelfeuer der Kanonen ist zu hören.
Meine ersten Kriegstage verbringe ich mit dem Abzug des Regiments, Männer und Material werden mit der Eisenbahn in die Bretagne gebracht.
Unser Konvoi verlässt Amiens und kommt an Formerie vorbei. Ich hatte nicht gedacht, es so schnell wiederzusehen. Wir rollen nur langsam vorwärts, so stark sind die Straßen verstopft und wir brauchen mehrere Tage, bis wir in Morlaix, unserem Zielort, ankommen.
Während Frankreich kämpft, kommen wir an der Kaserne am Meer an, um erneut Trainingseinheiten zu absolvieren und uns abzurackern. Eine Soldatenschule, die wir ohne großen Elan durchlaufen.
Zur selben Zeit wird die Deutsche Armee weit zurückgedrängt und es entsteht eine Front, die den Nordosten des Landes entzwei teilt.
Am 9. Oktober verlassen wir Morlaix endlich. Singend, mit Blumenschmuck an unseren Gewehrläufen und beseelt von einem kollektiven Geist des Patriotismus. Wir sind bereit, Frankreich zu verteidigen.
Die Reise ist lang, drei Tage mit der Eisenbahn, vorbei an Saint-Brieuc, Rennes, Laval, Le Mains, Angers, Saumur, Tours, Orléans, Troyes, Saint-Dizier, bevor wir von dort aus nach Sainte-Menehould und Moiremont marschieren.
Das 72. Regiment wird in der Nähe von Vienne-le-Château im Norden den Argonnen* und westlich von Verdun an die Front geschickt.
Direkt bei meiner Ankunft werde ich mit der schrecklichen Kriegsrealität konfrontiert.
Die umliegenden Dörfer sind praktisch dem Erdboden gleichgemacht.
Drei Monate nach Kriegsbeginn stehen dort nur noch Ruinen.
Wir bekommen die Aufgabe, einen Schützengraben auszuheben, geplant als zweite Frontlinie, aber zweifelsohne bald schon die vorderste Kampflinie. Als die Deutschen die vorderste Front einnehmen, ziehen sich unsere Truppen hinter die zweite Linie zurück, um dann eine Gegenoffensive zu starten und die erste Linie wiedereinzunehmen. All das, mit Bajonetten bewaffnet, der effizientesten Waffe im Kampf Mann gegen Mann.
Einige Tage nach unserer Ankunft an der Front wird ein erkrankter Krankenträger fortgebracht und ich, als ehemaliger Musiker, werde sein Ersatz.
Ich bin nicht darüber erfreut, aber auch nicht traurig das Holz meines Gewehrlaufs gegen das der Krankentragen zu tauschen.
Die ersten Verletzten kommen schnell und ich muss einen Leutnant wegtragen, der bei einem Angriff eine Schusswunde erlitten hat. Er leidet fürchterliche Qualen, kann kaum atmen und hat hohen Blutverlust. Wir transportieren ihn auf der Trage und er wird überleben. So viele andere sind bereits gestorben.
Wir tun unser Möglichstes, um zu den Verletzten zwischen den Fronten zu gelangen, während der Kugelhagel von deutscher wie auch französischer Seite nur so an uns vorbeizischt. Mehrfach müssen wir in Deckung gehen, wir schmeißen uns in den Schlamm, tief in den Grund der Granattrichter.
Die Lebensbedingungen sind äußerst schwierig. Trotz der Kälte in diesem Herbst ist es uns untersagt, Feuer zu machen, damit wir dem Feind nicht unsere Position verraten.
Unser Verwundetenlager ist nur ein Notbehelf aus Rundholzbalken und Erde.
Bei Regen schneiden wir noch mehr Rundhölzer zurecht, um den Boden unserer Notunterstände damit auszulegen und nicht im Schlamm schlafen zu müssen. Nachts schöpfen wir abwechselnd das Wasser ab, das sich um uns herum sammelt.
In den Schützengräben sieht es nicht besser aus und das Wasser steht den Soldaten dort bis zu den Knien.
Wie sollen wir unter solchen Bedingungen schlafen?
Der Beschuss der Deutschen auf Vienne-le-Château wird immer heftiger. Dennoch sind noch einige Zivilisten in der Stadt, die trotz ihrer Nähe zur Front nicht evakuiert wurde.
Der Generalstab gibt ihnen eine Stunde, um die Stadt zu verlassen. Die Entscheidung wurde sehr spät getroffen. Es entsteht ein jämmerlicher, improvisierter Zug aus Fußgängern, Fuhrwerken voller Kinder und Fuhrwerken, die in aller Eile mit dem Wertvollsten beladen wurden.
Jeden Tag sterben immer mehr Soldaten, unsere Kompanie verliert bis zu 90 Soldaten an einem einzigen Tag. Die Zahl der Verwundeten ist genauso hoch und wir sind gezwungen, sie von den Frontlinien wegzubringen, wo die Bombardierungen wahre Massaker anrichten.
Die Straßen werden so stark bombardiert, dass es extrem kompliziert geworden ist, sich fortzubewegen. Nebenstraßen aus Rundhölzern wurden behelfsmäßig gebaut, aber man kommt nur langsam und schwierig auf ihnen voran.
Wir brauchen mehr als fünf Stunden, um den Rettungsposten mit unseren Verletzten zu erreichen, und müssen hoffen, dass sie bis dahin überhaupt durchhalten.
Fünf Granaten fallen während einer Pause auf unsere Kompanie nieder und wir verlieren 17 Kameraden auf einen Schlag. Unser Regiment wird immer härter getroffen.
Ich helfe voller Schrecken beim Bergen der Leichen, die von den Metallgranaten völlig zerrissen wurden. Am nächsten Tag werden unsere Feldküchen bombardiert und wieder muss ich bei der Evakuierung der Verletzten helfen. Ein Koch hat einen offenen Unterleib, einem anderen wurden die Beine abgetrennt.
Die Deutschen sprengen unsere Schützengräben und die Maschinengewehre stehen niemals still. Unsere einzige Antwort besteht immer noch im Kampf Mann gegen Mann.
Bajonettes und Rundhölzer, das ist die Ausrüstung eines Soldaten.
Wir bergen immer mehr Verletzte und die letzten noch stehenden Bäume schützen uns vor einigen Maschinengewehr-Salven. Eine Notlösung, die uns bald nicht