Resilienzcoaching für Menschen und Systeme
Von Günther Mohr
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Über dieses E-Book
Da Resilienz kein Faktor der Persönlichkeitsstruktur von Menschen ist, interpretiert das Buch Resilienz als dynamisches, veränderbares und durchaus auch entwickelbares Konstrukt, und das heißt, dass Mensch und System Resilienz 'lernen' kann. Der Autor stellt den theoretischen State oft he Art dar und verbindet das mit zahlreichen Fallbeispielen und mit Übungen für die individuelle wie für die organisationale Praxis.
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Buchvorschau
Resilienzcoaching für Menschen und Systeme - Günther Mohr
Social Innovation und Change [sic!]
Der Autor
GÜNTHER MOHR, Dipl.-Volkswirt, Dipl.-Psych., Senior Coach DBVC, Supervisor BDP, zertifizierter und lehrender Transaktionsanalytiker im Feld Organisation und Management; Ausbildungen in analytischer Gruppenberatung, Verhaltenstraining und systemischer Beratung; Tätigkeiten am Finanzwissenschaftlichen Institut der Universität Bonn, in einer Psychosomatischen Fachklinik, als Personalberater für technische Führungskräfte, als Führungskräfteentwickler und Bildungsmanager, als interner Coach und Berater in einem Unternehmen; Leiter des Institut für Coaching, Training und Consulting, Hofheim; Autor von zahlreichen Büchern und Fachbeiträgen, im selben Verlag erschienen: Systemische Organisationsanalyse, Coaching und Selbstcoaching, Workbook Coaching und Organisationsentwicklung, Achtsamkeitscoaching, Systemische Wirtschaftsanalyse. Arbeitsmaterialen zum Buch und Kontakt zum Autor: www.mohr-coaching.de.
© 2017 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Gevelsberg www.ehp-verlag.de
Redaktion: Monika Cyran und Andreas Kohlhage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich
Arbeitsmaterialien zum Buch unter:
http://www.ehp-koeln.de/buecher/buchdetail.php?itemID=219
Umschlagentwurf: Uwe Giese – unter Verwendung eines Fotos von Beate Claus: ›Spectaculum‹, Köln 2013 –
Entwurf der ›Scriptwächter‹ in Abb. 5–7: Christian Klefke, Gütersloh
Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin
Gedruckt in der EU
Alle Rechte vorbehalten
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print-ISBN 978-3-89797-129-5
epub-ISBN 978-3-89797-498-2
pdf-ISBN 978-3-89797-499-9
eBook-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
Inhalt
I Resilienz im Alltag
Resilienz – ein neues Modewort?
Normale Beanspruchung – Die neue Welt der VUCA
Resilienz lernt man nicht im Wellness-Hotel
Raketenalarm
Levines Konzept der somatischen Erfahrung
»Scharfer« und »weiter« Resilienzbegriff
Individuelle und systemische Resilienz
Resilienz – eine billige Verschiebung von Verantwortung auf den Bürger?
Kollektive Traumata
II Resilienzpraxis mit dem Resilienzquadrat
Resilienzfaktor I: Externe Ressourcen
Social Support
Übungen
Natur als Resilienzfaktor
Mit Kinhin Natur erleben
Resilienzfaktor II: Die Körper-Geist-Verbindung
Embodiment
Yoga oder Krafttraining
Empathie macht Beziehungen möglich
Übungen
Resilienzfaktor III: Sinngestaltung
Seit 2000 Jahren die gleiche Sinnfrage
Resilienzfaktor IV: Interne Ressourcen
Mut zeigen und Vermeidung vermeiden
Selbstwirksamkeit in Beziehungen
Konsistent das Erleben konstruieren
Das »Heilige Land«
Gewohnheiten aufgeben
Realismus
Eigenverantwortung
Improvisationsfähigkeit, Spiel, Spaß und Humor
Im Bunker in Ofakim
Mit den Ambivalenzen des Lebens umgehen – Glücksrezepte
Übungen zu internen Ressourcen
III Sieben praktische Schritte zur Resilienz
Notwendige Begleitung auf dem Weg
Schritt 1: Das Leben zu erkennen ist erste Priorität
Übungen zur inneren Wahrnehmung
Schritt 2: Resilienz durch Meditation und Achtsamkeit unterstützen
Wie geht Meditation praktisch? – Einige Kernpunkte
Was Meditation nicht ist – Einige Mythen
Was ähnelt der Meditation?
Den Tag mit Meditation beginnen
Hausherr oder Hausmeister
Schritt 3: Emotionsregulation und Embodiment
Kognitive Verhaltenstherapie und Imagery Rescripting
Levines Somatic Experience
Energetische Psychotherapie
Advanced Integrative Therapy
Introvision
Neuroimagination
Schritt 4: Resilienz durch Leben im Spannungsgebiet
Jerusalem im Juli 2014
Wie fängt eine große Spannungssituation langsam an?
Schritt 5: Gefühle ausfühlen und Skriptarbeit
Schritt 6: Muster läutern
Antreibermuster
Antreiber beschreiben das Wie des Weges
Die fünf meist-benannten Antreiber
Wie ist die Korrekturrichtung für die Antreiber?
Beraterische Hilfe, um Resilienz an die Stelle des Antreibers zu setzen
Die sechs neuen Antreiber
Schritt 7: Dranbleiben
IV Organisationale Resilienz
Systemische Perspektive
Resilienz in den Systemdynamiken
Systemstruktur – Aufmerksamkeit, Rollen und Beziehungen
Systemprozesse – Kommunikation, Problemlösung und Erfolg
Systembalancen – Gleichgewicht und Rekursivität
Systempulsation – äußere und innere Pulsation
Das 7-Schritte-Programm
Dialogische Organisationsentwicklung
Bedürfnisse in Veränderungsprozessen
Haltung und Kultur
Fünf Brüder – Unternehmerische Resilienz in der Praxis
Abschluss und Ausblick
Literatur
I Resilienz im Alltag
Neben mir im Bus von Jerusalem nach Tiberias sitzt ein Soldat, der für den Sitz viel zu groß ist und dessen Schnellfeuerwaffe mir mit dem Schaft immer wieder mal in die Seite drückt. Gott sei Dank hat er die zwei vollen Magazine nur an das Mittelteil mit Kreppverschluss angebunden und nicht eingesetzt. Aber so ist das hier. Gestern schon hatte einer, während er an seinem Handy herumspielte, dauernd die Mündung seines Gewehrs auf mich gerichtet. Ich fühlte mich an Szenen in Kriminalfilmen erinnert, in denen man sonst so etwas sieht. Ich wollte schon »alles zugeben«. Makaber, surreal, fremd. Aber schon wie beim ersten Aufenthalt im heiligen Land habe ich mich nach einigen Tagen an solche Situationen gewöhnt. Es ist ein Teil dessen, wie man hier in Israel/Palästina mit Bedrohung und Spannung umgeht.
Resilienz ist die Fähigkeit, mit widrigen bis sehr widrigen Umständen umzugehen. Resilienz wird notwendig, wenn plötzliche starke traumatische Ereignisse ins Leben eingreifen oder auch wenn stetige Bedrohungen und Spannungen herrschen. Resilienz bedeutet dann, mit diesen Situationen so umzugehen, dass keine posttraumatische Störung, also etwa depressive oder auch gewalttätige Reaktionen, entstehen. Denn genau das widerfährt Menschen oft, die großen Spannungssituationen ausgesetzt waren oder sind. Und in dieser menschlichen Tendenz, widrige Umstände auch mit sehr archaischen Denk- und Verhaltensmustern zu beantworten, liegt eine große Gefahr. Deshalb gilt es, über individuelle Resilienz nachzudenken, aber auch deren Seite in Humansystemen, also Organisationen bis hin zu Gesellschaften, zu betrachten.
Neben den Konzepten und Ideen zu Resilienz konnte ich das Thema durch mein Interesse an konkreter Erfahrung in zwei Erlebensbereichen sehr intensiv selbst erfahren. Einmal war dies das Leben und Erleben in einer Region der Welt, in der das Thema ›Spannung‹ in Form potenzieller Lebensbedrohung ständig zum Alltag gehört und dadurch Resilienz für die Menschen notwendig macht. Dies ist im Nahen Osten/Palästina/Israel seit langem der Fall. Resilienz war das Thema eines internationalen Projektes an der Hebrew University in Jerusalem, an dem ich teilnahm. Es sollte dann mehr praktische Resilienz auf mich zukommen, als geplant war, denn ich erlebte den Krieg im Jahre 2014, der in Gaza, aber natürlich auch zeitweise auf den Straßen Ost-Jerusalems stattfand.
Der zweite Aspekt von Leben und Erleben war meine Zazen- Praxis. Zazen ist die Meditation im Zen, das lange »Sitzen auf dem Kissen«. Ich hatte Zazen wie viele aus dem Bemühen heraus begonnen, innerlich ruhiger zu werden und tiefere Erkenntnisse über das Leben zu bekommen. Die Reihenfolge der Erfahrungen hatte ich mir so vorgestellt: erst innere Ruhe finden und dann weise werden. Als ich mich ganz auf diesen Weg einließ, war meine Erfahrung dann allerdings anders. Zazen ist über weite Phasen innerlich ein gefühlsmäßig sehr intensiver und keineswegs immer »lustiger« Prozess, wie es der Zenlehrer Alexander Poraj einmal ausdrückte (Poraj 2016). Entgegen meiner anfänglichen Vorstellung übte ich bald nicht die stetige Zunahme innerer Ruhe, sondern das innere »Ausfühlen« sämtlicher Gefühle, die mit dem Menschsein zu tun haben. Dazu war Resilienztraining vor allem in Form konkreter Emotionsregulationstechniken für mich sehr hilfreich. Denn die in diesen Prozessen auftauchenden Gefühle reichen weit über das hinaus, was man allein durch seine individuelle Biographie erklären könnte. Es führt bis in archaische Bereiche des menschlichen Daseins. Zu der Art dieser Gefühlsprozesse werde ich unter Resilienzfaktor II (Körper-Geist-Verbindung) Näheres schreiben.
Der Begriff ›Gefühle ausfühlen‹ im Zusammenhang mit Meditation stammt interessanterweise schon von Johannes Tauler, einem deutschen christlichen Mystiker und Schüler Meister Eckharts, der von 1300 bis 1361 lebte. Meditation und Kontemplation sind nicht vorwiegend etwas Fernöstliches. Sie sind in allen Kulturen bekannt, aber aufgrund der schmerzlichen Konfrontation mit den Gefühlen seltener praktiziert und ins Leben integriert, als es für Menschen günstig wäre. Der Weg der Meditation ist – und davon bin ich mittlerweile sehr überzeugt – ein Königsweg zu gesteigerter Resilienz.
Insgesamt sind die Wege zur Resilienz zu verknüpfen. Dies kann das Erleben in einem Spannungsgebiet sein und die Reflexion in der Meditation, das zum Vorschein-kommen-Lassen was im Menschen in der Tiefe steckt. Es können natürlich bei jedem Menschen andere Wege sein. Den genannten Zugangsweg »Erleben und Meditieren« hatte mir Bernie Glassman nahegebracht. Der Zen-Meister jüdischer Herkunft bietet seit 20 Jahren ein Meditations-Retreat in Auschwitz an. An die schwierigen Stätten der Menschheit zu gehen und dort nicht gleich alles besser zu wissen, in Agitation zu verfallen oder zu resignieren, sondern innezuhalten und zu spüren, das hatte mich beeindruckt. Im Folgenden werden neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Thema Resilienz immer wieder Beispiele für praktische und konkrete Wegerfahrungen eingefügt.
Resilienz – ein neues Modewort?
Resilienz ist ein Begriff, der der Materialwirtschaft entlehnt ist. Damit geht es ihm ähnlich wie dem Stressbegriff, der ebenfalls aus der Physik stammt. Der materialwirtschaftliche Resilienzbegriff gibt an, wie sehr ein Material nach Beanspruchung wieder in der Lage ist, seine Ausgangsposition einzunehmen, etwa bei einer Spiralfeder, die gedehnt wird und sich danach wieder entspannt. Übertragen auf die psychologische Resilienz bedeutet dies, nach sehr widrigen Erlebnissen wieder zu einem einigermaßen erträglichen Empfinden zurückzufinden. Aber dieses Bild ist für die psychologischen Situationen zu ergänzen, da in vielen Fällen als Resultat eines Resilienzprozesses ein neues Gleichgewicht entsteht. Es wird selten ganz wieder so, wie es vorher war. Im günstigen Falle erfolgt ein persönlicher Wachstumsprozess nach dem oder sogar durch das Trauma (posttraumatic growth). Menschen entscheiden sich dann oft, in ihrem Leben andere, ihnen selbst wesensgemäßere Prioritäten zu setzen.
Der Resilienzbegriff wurde in der Forschung – in den letzten Jahren besonders von dem Psychologen George Bonanno – ganz besonders auch als Reaktion auf traumatische Erlebnisse untersucht (Bonanno 2012). Er spricht von potenziell traumatischen Ereignissen (PTEs), wie z. B. schweren Unfällen, Verlust von nahen Angehörigen oder auch Gewalteinflüssen. Deren Auftretenswahrscheinlichkeit wird nach Auffassung des niederländischisraelische Traumaforschers Daniel Brom von Menschen gerne verdrängt. Brom spricht hier von einer Illusion, die Menschen haben. Jeder Mensch sei mindestens einmal im Leben mit einer solchen Situation konfrontiert (Brom 2014). Insofern ist das Lernen von Resilienz sinnvoll.
Beeinträchtigungen im Leben können auf zwei Weisen entstehen: durch ein Trauma oder durch »steady poison«. Fundamentale beeinträchtigende Lern- und Erfahrungsprozesse bei Menschen können einerseits durch ein einschneidendes Ereignis bewirkt werden, das alles verändert, andererseits durch eine ständige Konfrontation mit negativen Einflüsse. Dies passiert etwa, wenn einem Kind das Selbstvertrauen oder andere natürliche Fähigkeiten, für die es Wertschätzung braucht, kontinuierlich abgesprochen werden. In der Regel wird im letzteren Falle nicht von Traumatisierung im engeren Sinne der Definition gesprochen; es ist eher eine kontinuierliche, schwere Stresssituation. Der Übergang zwischen schwerem Stress und Trauma gestaltet sich fließend. Interessant ist aber gerade bei den Kindheitserlebnissen, dass hier oft eine Traumatisierung intergenerationell (von Generation zu Generation) weitergegeben wird. Traumata und schwere Stresserfahrungen verschwinden nicht einfach, wenn sie nicht behandelt, sondern verdrängt, abgespalten oder verschwiegen werden. Sie gären unterschwellig weiter und werden mehr oder weniger bewusst weitergegeben. Gerade viele Deutsche haben in diesem Punkt durch die Erfahrungen der Kriegsgeneration und der Nazizeit unbearbeitete Traumata. Die Weitergabe geschieht oft nicht durch ein einschneidendes Erlebnis, sondern subtil. In diesem fundamentalen Zusammenhang der Weitergabe von Traumata zeigt sich schon ein wichtiger systemischer Prozess, der in Systemen wie Familien, Gesellschaften, Bevölkerungen, Staaten auf die Resilienz des Einzelnen Einfluss nimmt.
Mittlerweile wird daher das Resilienzkonzept auf Individuen (Kinder und Erwachsene) aber auch auf Systeme allgemein und Organisationen im Speziellen angewendet. Jessica Di Bella hat beispielsweise die Resilienz von kleinen Unternehmen in einer vergleichenden Studie untersucht, die von fünf italienischen Brüdern geführt wurden (Di Bella 2014). Immer geht es darum, die Faktoren zu ermitteln, die zur Robustheit gegenüber widrigen Ereignissen und Einflüssen führen. Zahlreiche Untersuchungen haben sich mit Resilienz bei Kindern beschäftigt, aber auch im Erwachsenenalter ist es möglich, Resilienz zu entwickeln. Resilienz hat mit der Bewältigungsfähigkeit von Ereignissen und Situationen zu tun. Deshalb zunächst ein kurzer Einblick in die Anforderungsbedingungen, die der Mensch heute zu bewältigen hat.
Normale Beanspruchung – Die neue Welt der VUCA
Schneller, unberechenbarer und gefährlicher? Schon die normale Welt ohne traumatische Schicksalsschläge stellt gerade hohe Anforderungen. Dies wird heute manchmal ›VUCA-Welt‹ genannt. Volatilität (die schnellen Veränderungen), Unsicherheit, Complexity bzw. Komplexität und Ambiguität (Uneindeutigkeit der Vorkommnisse) kennzeichnen den Beginn des 21. Jahrhunderts.
Die Geschwindigkeit