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Gefallener Mond
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eBook361 Seiten4 Stunden

Gefallener Mond

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Über dieses E-Book

Anna Walter kämpft für Kinder, denen Schreckliches
widerfahren ist. Sie ist die Beste darin, doch dann
führt ein Fall auch sie an ihre Grenzen: Ein Mädchen
verschwindet und kehrt erst nach zwanzig Stunden
zurück. Ihr Entführer hat ihr die blonden Haare abgeschnitten
und sie will nicht mehr sprechen. Sie zeichnet
nur noch, und immer nur blaue Fische.
SpracheDeutsch
Herausgeberedition a
Erscheinungsdatum30. Apr. 2016
ISBN9783990011966
Gefallener Mond

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    Buchvorschau

    Gefallener Mond - Ruth Schneeeberger

    Ruth Schneeberger – Gefallener Mond – Kriminalroman – edition a

    Ruth Schneeberger: Gefallener Mond

    Alle Rechte vorbehalten

    © 2016 edition a, Wien

    www.edition-a.at

    Cover: JaeHee Lee

    Gestaltung: Hidsch

    Lektorat: Maximilian Hauptmann

    1   2   3   4   5   —   19   18   17   16

    ISBN 978-3-99001-196-6

    »Wem Unrecht widerfuhr, dem bietet die Rache gewöhnlich zweierlei: Genugtuung oder das Gefühl von Sicherheit für die Zukunft.«

    Seneca, De vita beata

    DIE BEUTE

    Das Zielband bewegt sich im Wind. Rosa Buchstaben auf weißem Hintergrund heißen die Siegerin willkommen. Auf beiden Straßenseiten applaudieren Zuschauer, ihre Anfeuerungsrufe übertönen die Stimme des Moderators, der die führende Läuferin angekündigt hat, als Vanessa um die letzte Kurve gebogen kommt. Als sie über die Ziellinie läuft, schlingt sich das Band um ihren Bauch und seine losen Enden flattern um ihren Körper, als wären Vanessa Flügel gewachsen. Jemand legt ein Handtuch über ihre Schultern. Hinter den Absperrungen warten Reporter mit Kameras und Mikrofonen. Unter dem Beifall des Publikums stemmt Vanessa die Hände in die Hüften und holt tief Luft.

    »Warte«, keuchte sie. Ihre Beine schmerzten wie im Turnunterricht nach den Kletterübungen auf den Tauen. Morgen würden blaue Flecken leuchten, wo die Schultasche bei jedem Schritt auf ihren Rücken geprallt war. Doch für den Moment zählte das nicht, sie hatte ihre Freundin doch noch eingeholt.

    Nadja blieb stehen und drehte sich um. »Was willst du?«, fragte sie und verschränkte die Arme.

    »Darf ich dich begleiten?«, fragte Vanessa und schnappte ein weiteres Mal nach Luft.

    »Aber nur, wenn du trägst«, antwortete Nadja und ließ ihren rosa Rucksack in Vanessas ausgestreckte Hände gleiten, »und wenn du brav hinter mir her trippelst wie das Hündchen von Frau Windbichler.«

    »Das ist ein Chihuahua«, sagte Vanessa, während sie durch die Träger des Rucksackes schlüpfte. Er drückte unangenehm auf ihre Rippen und war deutlich schwerer als ihre Tasche. Schulbücher waren teuer und nicht immer notwendig, zumindest hatte das ihre Mutter gesagt. Vanessa umklammerte den Rucksack, als sie ein weiteres Mal zu ihrer Freundin aufschloss, die bereits die Straße überquerte. Die Villa von Nadjas Eltern lag in der Nähe ihrer Schule, von dort fuhr Vanessa vier Stationen mit dem Bus. Sie war die Einzige in der Klasse, deren Eltern kein eigenes Haus besaßen. »Chihuahuas stammen aus Mexiko und sind die kleinsten Hunde der Welt«, erklärte sie.

    »Diese blöden Köter haben nur Flöhe«, sagte Nadja und betrachtete sich in einem Schaufenster. Sie zog an ihrer rosa Jacke und lächelte ihr Spiegelbild an.

    Vanessa hätte schwören können, Nadjas Mutter vor sich zu haben. Ihre Freundin hatte heute sogar Lidschatten aufgetragen. Lediglich der rote Lippenstift und die Abdeckcreme fehlten. »Es gibt Flohhalsbänder«, sagte Vanessa und biss sich auf die Lippen. Sobald sich die passende Gelegenheit ergab, würde Nadja sie vor der ganzen Klasse bloßstellen. Nadja hasste es, wenn jemand sie belehrte.

    Nadja kniff den Mund zusammen. »Miss Bücherwurm weiß offenbar immer alles besser«, sagte sie.

    »Was ist daran schlecht?«, hätte Vanessa gerne gefragt, doch sie wollte ihre Freundin nicht weiter verärgern. Sie kannte das boshafte Lächeln, das Nadja mittlerweile aufgesetzt hatte.

    »Manchmal bringt mich Miss Bücherwurm auf ausgezeichnete Ideen«, meinte Nadja und richtete ihren perfekt sitzenden Kragen. »Wenn du mich das nächste Mal nach Hause begleitest, kannst du beweisen, ob du dich auch wie ein Hund benehmen kannst. Ich bringe eine Leine mit, binde sie dir um den Hals und füttere dich mit Keksen. Ich bin gespannt, ob du sie vom Boden isst.«

    »Ist deine Jacke neu?«, fragte Vanessa.

    »Gestern bekommen. Moncler.«

    »Bekomme ich auch zu Weihnachten.«

    »Wurde auch Zeit«, sagte Nadja, »das alte Ding, das du trägst, geht gar nicht.«

    »Ich bekomme eine blaue.«

    »Na hoffentlich. Rosa ist keine Farbe, die dir stehen würde.«

    »Nicht jeder ist so hübsch wie du.«

    Nadja lächelte und fuhr sich mit den Fingern durch die Locken.

    »Gehen wir noch bei der Tierhandlung vorbei?«, fragte Vanessa.

    »Hast du noch nicht genug von diesen miauenden Biestern?«

    »Letzte Woche hast du ihnen sogar Namen gegeben.«

    »Das war letzte Woche«, sagte Nadja und schaute auf ihre lackierten Fingernägel. »Was bekomme ich dafür, wenn ich dich begleite?«

    »Möchtest du morgen die Mathematikaufgaben abschreiben?«

    »Das ist ein faires Angebot«, antwortete Nadja und bog in die Seitenstraße ein, in der sich die Tierhandlung befand.

    Vanessa folgte ihr und fragte sich, warum Nadja für alles eine Gegenleistung verlangte. Sie wusste, dass Tiere eine ebenso große Anziehungskraft auf ihre Freundin ausübten wie auf sie. Derzeit wollte Nadja Meeresbiologin werden. Ihre Eltern waren reich und verbrachten die Ferien in der Karibik. Vanessa kannte Strände und Palmen nur aus Erzählungen. Nadjas Vater war Rechtsanwalt, ihre Mutter Journalistin. Dass sie einmal studieren würde, war vorbestimmt. Für Vanessa würde es immer ein Traum bleiben. Sie wusste, ihre Mutter hatte für sie eine Karriere als Friseuse geplant, sie sollte sich später einmal nicht mit Putzen ihr Geld verdienen müssen. Deshalb bestand ihre Mutter darauf, dass sie ihr rotes Haar jeden Tag wusch und anschließend kämmte, bis es glänzte. Vanessa sehnte sich nach einem Kurzhaarschnitt, doch sie hatte noch nie jemandem von ihrem Wunsch erzählt.

    »Träumst du?«, fragte Nadja, »wir sind da.«

    Vanessa wollte etwas erwidern, doch ihre Freundin schenkte ihr schon keine Beachtung mehr.

    »Wie heißt der dort?« Nadjas Augen glänzten, als sie auf einen dunkelblauen Fisch zeigte, der sich zwischen Schlingpflanzen hindurchschlängelte.

    »Das ist ein Blauer Perusalmler, er kommt in den Gewässern des Amazonas vor«, zitierte Vanessa aus dem Kopf. Seit zwei Wochen las sie jeden Nachmittag in dem Buch über Fische, das sie sich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Es war schrecklich langweilig, doch seit sie Nadjas Fragen beantworten konnte, duldete Nadja ihre Anwesenheit auf dem Nachhauseweg. Fasziniert verfolgte Vanessa zwei Katzenbabys, die einem Ball nachjagten. Es musste tröstlich sein, die beiden zu kraulen und die Nase in ihrem Fell zu versenken. Wenn sie ihre Mutter überreden konnte, die beiden zu kaufen, würde sie ihnen Stoffmäuse nähen. Einmal mehr überlegte Vanessa, woraus sie ein Katzenklo basteln konnte. Zumindest die Katzen sollten über den Luxus verfügen, die Toilette nicht mit den Nachbarn auf dem Gang teilen zu müssen.

    »Wo liegt der Amazonas?«, fragte Nadja.

    »In Südamerika«, antwortete Vanessa und wandte ihren Blick von den Katzen ab. Auch wenn sie die scheinbare Schwerelosigkeit der Fische bewunderte, übten sie im Gegensatz zu den umhertollenden Fellknäueln keinerlei Faszination auf sie aus. Vanessa hätte alles dafür getan, die Katzenbabys unter dem Christbaum in die Arme zu schließen, doch sie wusste, dass es ein Traum bleiben würde. Auch im heurigen Jahr würde sie stattdessen ein Schminkset aus dem Geschenkpapier wickeln. Eine Friseuse sollte ihre Kundinnen auch in dieser Hinsicht beraten können, hatte ihre Mutter gemeint.

    Vanessa sah auf, als Nadja sie an der Hand zog.

    »Ich habe dich gefragt, ob du diesen Mann kennst«, fragte Nadja leise. Ihre Finger waren warm und weich.

    »Welchen Mann?« Instinktiv flüsterte auch Vanessa.

    »Dreh dich nicht um. Schau in die Scheibe. Sein Gesicht spiegelt sich darin.«

    Vanessa hätte schwören können, dass Nadjas Stimme noch nie so hoch gewesen war. Wie das Fiepen einer Maus, die ängstlich vor der Katze Schutz suchte. »Warum sollte ich den Mann kennen?«, fragte Vanessa.

    »Ich habe ihn heute schon gesehen. Am Schulhof. Er hat uns beobachtet«, antwortete Nadja.

    »Bist du dir sicher?«, fragte Vanessa. Noch nie hatte sie ein vergleichbares Gespräch mit Nadja geführt. Als wären sie ebenbürtig. Auf Augenhöhe. Für sie zählte Nadjas Aufmerksamkeit um vieles mehr als ein verzerrtes Gesicht im Glas. Im Gegensatz zu Nadja hatte sie keine Angst. Den Mann faszinierten wahrscheinlich die blonden Locken und das zauberhafte Lächeln ihrer Freundin. »Lass uns nach Hause gehen«, sagte Vanessa und zog Nadja mit sich. Sie fragte sich, wie lange Nadja ihre Hand in ihrer eigenen dulden würde. Doch für den Moment spürte sie nichts anderes als Nadjas Finger in den ihren, den sanften Druck, mit dem sich ihre Hände ineinander verschränkten, und den Wind, der durch ihre Haare fuhr. Selten war Vanessa so stolz gewesen.

    DER JÄGER

    Stille war eingekehrt. Er liebte diese Stunden, wenn alle schliefen und jeder Raum nur sich selbst gehörte. Wenn niemand erwartete, dass er im richtigen Augenblick in ein Gespräch eingriff. Wenn sein Herzschlag den Rhythmus der Zeit vorgab. Wenn er keine Maske aufsetzen musste, um als liebevoller Vater, als besorgter Ehemann oder als erfolgreicher Geschäftsmann zu gelten. Wenn niemand fragte, warum er sich eine Zigarette anzündete. Das Streichholz zischte, als er es über die Reibfläche zog. Die Flamme erhellte sein Arbeitszimmer, bevor er seine Hand schüttelte und das verglühte Holz in den Aschenbecher gleiten ließ. Während er tief inhalierte, trat er ans Fenster. Der Ahorn hatte die Blätter verloren. Der Sommer war nicht mehr als ein letzter Hauch von Blütenduft, der bloß in seiner Erinnerung existierte. Hätten sich nicht Nebelschwaden um die Straßenlaternen gelegt und einen Teil des Lichtes verschluckt, hätte er zwischen den kahlen Ästen die Eisenstäbe des Zaunes erkennen können, der den Garten einschloss und sein Reich vom Rest der Welt trennte. Ein dunkler Fleck huschte den Stamm hinab und bewegte sich über den Rasen. Als würde jemand an der Linse einer Kamera drehen, gewann die Gestalt an Schärfe, je näher sie dem Haus kam. Von Zeit zu Zeit schlich die Nachbarskatze auf ihrem Beutezug durch seinen Garten. Als er gegen die Scheibe klopfte, zuckte das Tier zusammen und ergriff mit langen Sprüngen die Flucht. Er duldete keinen Eindringling in seiner Welt. Ganz besonders nicht, wenn es sich um andere Jäger handelte.

    Er kniff die Augen zusammen, als er ein letztes Mal an der Zigarette zog. Die Katze war verschwunden. Als ein Windstoß durch den Baum fegte, wiegten sich die Zweige im Takt, als würden sie ein Lebewohl anstimmen. Er drehte sich um, ging zu seinem Schreibtisch und schaltete die Lampe ein. Der Silberrahmen des Fotos reflektierte das Licht und Großvater schaute ihn fragend an. Was er von dem Weg halten würde, den sein Enkel eingeschlagen hatte? Er konnte nicht sagen, ob die Farben über die Jahre verblasst waren oder seine Erinnerung ihn täuschte, doch er hätte geschworen, dass Großvaters blaue Augen um vieles intensiver geleuchtet hatten. Unvermittelt war er wieder neun Jahre alt. Sein Vater war im Winter beerdigt worden. Er verbrachte die Ferien am Land. Die Burschen aus dem Dorf arbeiteten auf den Höfen und waren größer und kräftiger als er. Im Gegensatz zu seiner war ihre Haut gebräunt. Sommersprossen überzogen seine Nase und dünne Waden ragten aus seinen Hosen. Seine Schuhe waren abgetreten und Steine drückten auf seine Fußsohlen, wenn sie an den Abenden die Hügel erforschten. Er hasste die Kälte des Baches und ekelte sich vor den Käfern, die sie in Marmeladegläsern fingen. Bei jedem Streifzug kämpfte er um den Anschluss in der Gruppe. Er errötete, wenn sie die Mädchen beim Baden beobachteten. Er hatte keine Ahnung, wie man ein Lagerfeuer entzündete. Er wagte es nicht, die Äskulapnattern anzufassen, die sich auf Steinen sonnten und ihre gespaltenen Zungen zeigten. Die anderen lachten über ihn. Er sehnte sich nach der Stadt, nach der Umarmung seiner Mutter und nach der Zeit, als er seine Nachmittage nicht in Krankenhäusern hatte verbringen müssen, um seinem Vater beim Sterben zuzusehen. Das Wort Krebs konnte er nicht einordnen. Den Sarg, der in das dunkle Grab hinabgelassen wurde, sehr wohl. Er hatte keine Vorstellung davon, wie er Abschied nehmen sollte. Er hatte kein Rezept, wie er seine Mutter trösten konnte. Er hatte nur Großvater, der sich um ihn kümmerte. Eines Abends erzählte er von den anderen Kindern. Von ihrem Hochmut, ihrem Unverständnis und ihrem Lachen. Der alte Mann starrte in das Kaminfeuer. Schließlich trocknete er mit seinem Taschentuch die Tränen des Enkels und meinte: »Morgen wird alles anders.«

    Als der alte Mann sich über ihn beugte und seinen Namen flüsterte, öffnete er schlaftrunken die Augen. Mondlicht fiel durch das Dachfenster und malte einen hellen Fleck auf den Zimmerboden. Großvater hüllte ihn in eine warme Jacke und reichte ihm Regenstiefel. Gemeinsam gingen sie zum See. Nebel hing über der Wasseroberfläche und Dampf stieg auf, als würden sich Nixen erheben und einen Tanz vollführen. Sie lagen im feuchten Laub, das nach abgestandenem Wasser roch, und lauschten in die Dunkelheit, die nicht weichen wollte. Großvater reichte ihm süßen Tee, den er in einer Thermoskanne mitgebracht hatte. Endlich färbte ein gelber Streifen den Himmel. Als er den Horizont betrachtete und hoffte, die Sonne möge ihn wärmen, zeigte Großvater Richtung Wald. Seine schläfrigen Augen tränten vom Wind und er hatte Mühe, in der Ferne Einzelheiten zu erfassen. Zuerst erkannte er das Geweih zwischen den Bäumen. Dann sah er den Kopf des Tieres, der sich Richtung See schob. Es bewegte sich mit einer Selbstverständlichkeit, als würde es den Wald besitzen. Während der Hirsch aus dem See trank, reichte Großvater ihm das mitgebrachte Gewehr und nickte. Die letzten Wochen hatte der Alte ihm beigebracht, auf Blechdosen zu zielen. Endlich war der Moment gekommen, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Ohne zu zögern legte er an und drückte ab. Lautlos ging das Tier zu Boden. Er biss sich auf die Lippen, um nicht zu zeigen, wie sehr seine Schulter schmerzte, der Alte hätte es ihm nicht verziehen. Gemeinsam näherten sie sich der Beute. Als der Hirsch sich ein letztes Mal aufbäumte, schoss ihm Großvater in den Kopf. Dann legte er dem Enkel seine Hand auf die Schulter und erklärte ihm, dass er eben zum Mann geworden war. Sein eigener Stolz spiegelte sich in den wässrigen Augen seines Gegenübers, als Großvater nickte und ihm zum Zeichen, dass er sein Nachfolger geworden war, sein Gewehr schenkte. Noch am selben Tag machte die Geschichte im Dorf die Runde. Die anderen lachten nie wieder über ihn. Sie respektierten ihn. Ein einzelner Schuss hatte sein Leben verändert und die Welt auf den Kopf gestellt.

    Gedankenverloren strich er über die Stelle oberhalb des Schlüsselbeines, wo ihn der Rückstoß der Waffe getroffen hatte. Viele Jahre erinnerte sie ihn daran, wie einfach es war, sich über andere zu erheben. Doch mit der Zeit verblasste das berauschende Gefühl, das ihn beim Drücken des Abzuges durchströmte. Die erlegten Tiere wurden zahlreicher, doch der Funken Glück, den er dabei verspürte, schwächer. Wenn er nach einer erfolgreichen Nacht am Hochstand erwachte, dominierten Gleichgültigkeit und Enttäuschung. Statt des berauschenden Gefühls der Macht schmeckte er die Galle durchzechter Stunden und roch den schalen Gestank eines ungelüfteten Raumes, der von zu vielen Zigaretten und halb gefüllten Weingläsern zeugte. Das Töten war zur Gewohnheit geworden.

    Er öffnete die Schreibtischlade, löste das Brett aus der Halterung, das den dahinter befindlichen Hohlraum verschloss, und holte die sicher verborgene Holzschatulle aus ihrem Versteck. Ob Großvater gewusst hatte, dass es Formen der Jagd gab, die kaum vorstellbare Sphären der Realität eröffneten? Dass ein von der Ferne erlegtes Tier ein schaler Abglanz dessen war, was die Wirklichkeit noch zu bieten hatte? Er hob den Deckel und drückte seine Nase in die Öffnung. Manchmal glaubte er, ihren Geruch noch einzuatmen. Mit dem Zeigefinger strich er über den Zopf. Über die Jahre hatten die Haare an Weichheit verloren und an Glanz eingebüßt. Trotzdem gelang es ihm bei der Berührung, die alten Bilder heraufzubeschwören. Er war wieder in der Höhle und lauschte in die Dunkelheit. Er hatte erwartet, ihre Arme würden sich um ihn schließen und ihre Tränen seine Wange benetzen. Er hatte gehofft, sie würde voll Erleichterung zu ihm aufschauen und für ihre Erlösung danken. Stattdessen forderte sie ihn heraus, suchte ihr Heil in der Flucht und raubte ihm die Stunde des Triumphes. Als er sich in Bewegung setzte, um ihr zu folgen, waren seine Instinkte geschärft wie nie zuvor. Er hörte ihren keuchenden Atem. Er roch ihre Angst. Er spürte ihre Verzweiflung. Er entschied nicht über das Schicksal eines Tieres. Er entschied zum ersten Mal über das Schicksal eines Menschen.

    Als sie in den Abgrund stürzte und vor ihm lag, gab sie keinen Laut von sich. Sie hatte mit ihm gespielt, Lolita im roten Rock, unschuldig und provokant, ein kleines Mädchen, das noch so weit davon entfernt war, anderen den Kopf zu verdrehen und doch genau das tat. In diesem Moment erkannte er, dass er dazu auserkoren war, ihre geheimen Wünsche zu erfüllen. Mit jedem Schritt, den er auf sie zuging, wuchs dieses Gefühl der Macht, mit nichts zu vergleichen, dessen Existenz er immer geahnt, aber nie zu erreichen vermocht hatte. Er war berauscht und schwebte. Als er vor ihr stand, flehten ihre Augen um Erlösung. Auch sie konnte es kaum erwarten, dass er zu Ende brachte, was unausweichlich geworden war. Er vollendete, was das Schicksal für sie beide vorgesehen hatte. So nahm er zuerst ihre Unschuld. Dann ihren Zopf.

    In Gedanken schloss er den Eingang der Höhle hinter sich, öffnete die Augen, versperrte die Schreibtischlade und mit ihr die Erinnerung. Während er sich eine weitere Zigarette anzündete, genoss er die Vorfreude, die sich in seinem Magen aufbaute. Ein wohlmeinendes Schicksal hatte ihn heute zum richtigen Schulhof geführt. Beim Läuten der Pausenglocke waren die Kinder ins Freie gedrängt und hatten um den besten Platz auf dem Klettergerüst gekämpft. Zwei Mädchen hatten sich abseits gehalten und waren keinen Meter von ihm entfernt gestanden. Die Größere der beiden hatte eine rosa Daunenjacke und Wildlederstiefel getragen. Ihre blonden Locken waren beim Schnurspringen auf- und abgewippt. Ihre Freundin hatte ein Buch an die Brust gedrückt und zu Boden gestarrt. Ihre Hosen endeten an den Waden, obwohl die Temperatur keine zehn Grad betragen hatte. Als sich das Seil zwischen den Beinen des Lockenkopfes verfangen hatte, fragte sie: »Kannst du nicht aufpassen?«

    »Was meinst du?«, hatte ihre rothaarige Freundin erwidert.

    »Vanessa, ich kann nicht springen, wenn du so schaust«, hatte die Blonde geantwortet, »manchmal hast du diesen Blick. Wie eine Hexe. Eine böse noch dazu.«

    Vanessa hatte sich auf die Lippen gebissen und das Buch noch fester an sich gepresst. »Tut mir leid«, hatte sie gesagt.

    Der Lockenkopf war weitergesprungen.

    Vanessa, die Erste. Er hatte die nächste Prinzessin gekrönt. Noch nie hatte er eine Rothaarige gewählt. Sie würde ihm eine neue Erfahrung ermöglichen. Gerne hätte er jemandem von diesem seltenen Moment des Glücks erzählt. Ihn geteilt. Ihn multipliziert. Doch wer hätte ihn verstanden und die gesellschaftlich vorgekauten Normen ebenso als widernatürlich entlarvt, die seine Handlungen verdammten und seine Taten nicht würdigten? In einer Zeit, in der Dummheit regierte und Gesetze von der Masse ungefragt befolgt wurden, war es schwierig geworden, Menschen wie ihn zu verehren. Man hätte auf ihn gezeigt und wäre ihm nicht mehr mit Hochachtung begegnet. Es war besser, diesen Teil im Verborgenen zu halten. Seine Jagd war eröffnet.

    ERSTER TEIL

    SCHULD

    1

    MONTAG

    Stille legte sich über den Saal. Die Schriftführerin knackte mit den Fingerknöcheln und schaute erwartungsvoll zur Richterbank. Die Verhandlung war seit über einer Stunde ereignislos dahingeplätschert. Keiner der vom Staatsanwalt befragten Zeugen hatte Entscheidendes zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen können. Der gegnerische Verteidiger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lockerte seine Krawatte, er schien sich eines Freispruches für seinen Mandanten sicher.

    Der Richter blätterte in seinen Unterlagen und warf Anna Walter einen gelangweilten Seitenblick zu. »Möchte die Privatbeteiligtenvertreterin noch etwas vorbringen?«, fragte er und schloss den vor ihm liegenden Akt.

    Auch nach vielen Jahren im Gerichtssaal konnte Anna nicht verstehen, wie jemand bei einem Delikt wie dem eben verhandelten emotionslos bleiben konnte und versuchte sich einzureden, dass es eine nachvollziehbare, wenn auch schwer zu verstehende Methode war, Grausamkeit zu verarbeiten. Sie selbst konnte die Genugtuung spüren, die sich immer dann in ihrem Magen ausbreitete, wenn sie einem Prozess die entscheidende Wendung geben konnte. Jahrelange Übung ermöglichte es ihr, sich äußerlich nichts von ihrer Erregung anmerken zu lassen. Sie wartete ein weiteres Ticken des Sekundenzeigers der Wanduhr ab, bevor sie ihren Stuhl zurückschob. »Ich habe durchaus noch einige Fragen«, sagte sie, während sie den Angeklagten musterte und ihre Füllfeder neben den aufgeschlagenen Akt legte. Ihre hohen Absätze hallten auf dem Parkettboden des Gerichtssaales wider, als sie auf Robert Pieler zuging.

    »Ich möchte vorab klarstellen, dass ich Sie weder anklage noch über Sie richten werde«, sagte Anna zu dem Angeklagten. »Ich bin sicher, Ihr Verteidiger hat Ihnen erklärt, welche Position ein Privatbeteiligtenvertreter in einem Verfahren einnimmt.« Ein fragender Seitenblick auf seinen Anwalt bestätigte Annas Verdacht, dass Pieler keine Ahnung davon hatte, welche Rolle sie spielte. Auch wenn das Gesetz den Rahmen für ihre Vorgehensweise absteckte, hatte sie als Vertreterin des Opfers einen weitaus größeren Spielraum für ihre Befragung und etwaige Anträge als der Staatsanwalt.

    »Sie mögen Kinder, richtig?«, fragte sie und schob eine Strähne ihrer langen Haare hinters Ohr.

    »Tut das nicht jeder?«, fragte Pieler zurück. Bereits während der Vernehmung durch den Staatsanwalt hatte seine Stimme ebenso bestimmt geklungen. Als Vorstandsmitglied einer Pharmafirma wusste er offenbar sehr genau, wie man Antworten gekonnt vermied.

    »Ich fürchte nein«, sagte Anna und ging einen weiteren Schritt auf den Angeklagten zu. Sie hätte ihre Hand ausstrecken und ihn berühren können. Er wich nicht einen Millimeter zurück. »Zumindest scheint es sehr unterschiedliche Auffassungen zu geben, was Zuneigung bedeutet.«

    »Frau Kollegin, die Verhandlung ist nicht auf Stunden anberaumt«, warf Pielers Verteidiger ein.

    Anna ignorierte den tadelnden Blick des Gegenanwaltes und wandte sich wieder ihrem Gegenüber zu. »Wir haben bereits gehört, dass Sie selbst zwei Kinder haben. Wie heißen denn Ihre Beiden?«

    »Aenea«, antwortete Pieler, »und Nele«.

    »Eine außergewöhnliche Wahl.«

    »Sollte das eine Frage sein?«

    »Meine ganz private Meinung«, antwortete Anna.

    »Ich fasse sie als Kompliment auf«, sagte Pieler.

    »Frau Kollegin …«

    Anna nickte dem Verteidiger zu. »Wir haben im bisherigen Verfahren viele Fakten, aber wenig Persönliches über Ihren Mandanten gehört«, sagte sie, »ich halte es für den Sachverhalt für durchaus wichtig, ihn ein wenig näher kennenzulernen. Sie haben ausgesagt, jeden Samstag mit Ihren Kindern auf denselben Spielplatz zu gehen, auf dem sich auch Melanie Salzer gerne aufhält. Kennen Sie das Mädchen?«

    Der Angeklagte hob die Schultern. »Wissen Sie, wie viele Kinder dort jedes Wochenende herumtoben? Ich achte nicht auf die anderen. Meine Aufmerksamkeit gilt ausschließlich Aenea und Nele.«

    »Wie verbringen Sie denn so die Nachmittage?«

    »Die beiden spielen Indianer. Oder Verstecken. Manchmal spielen wir zusammen Fußball.«

    »Wie sie selbst ausgesagt hat, ist Fußball Melanies Lieblingsbeschäftigung. Ist Ihnen das Mädchen mit den dunklen Locken nie aufgefallen?«

    »Ich könnte nicht einmal attraktive Mütter beschreiben, die wahrscheinlich oft genug neben mir auf den ubequemen Holzbänken gesessen sind«, antwortete Pieler und lächelte entschuldigend.

    »Baden Sie gerne mit Ihren Kindern?«

    »Frau Kollegin, ich wüsste nicht, wohin diese Fragen führen sollten«, wendete der Verteidiger ein.

    »Ich komme bereits zur Sache«, sagte Anna, ohne Pielers Anwalt zu beachten.

    »Das Baden übernimmt meine Frau«, antwortete Pieler.

    Anna nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass auch der Richter sein Zögern bemerkt hatte. Sie konnte die Blicke in ihrem Rücken spüren, als sie zu ihrem Platz ging, um ein unscheinbares Blatt zwischen ihren Unterlagen hervorzuziehen. »Ich beantrage, ein neues Beweisstück zu den Akten zu nehmen. Eine Kinderzeichnung, gemalt von Melanie Salzer, die der Angeklagte nicht kennen will. Melanie hat den Angeklagten gut getroffen. Er sitzt in einer Badewanne. Nackt. Wir können ihn gerne bitten, sein Hemd zu öffnen, um uns davon zu überzeugen, wie authentisch die Darstellung ist.«

    Pieler griff sich instinktiv an die Seite, knapp oberhalb des Ledergürtels, der aus der geöffneten Anzugjacke hervorlugte. Dort musste

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