Funktionelle Anatomie Yoga: Muskulatur, Asanas und Bewegungen
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Buchvorschau
Funktionelle Anatomie Yoga - Jo Ann Staugaard-Jones
1
Der Körper in Bewegung
Das Nervensystem
Das menschliche Nervensystem steuert über Neuronen alle Körperfunktionen. Es besteht aus zwei Teilen:
1. Gehirn und Rückenmark bilden das zentrale Nervensystem (ZNS). Es ist u. a. zuständig für das Denken, Lernen und Schlussfolgern sowie für den Gleichgewichtssinn.
2. Das periphere Nervensystem (PNS) umfasst alle Nerven außerhalb des ZNS. Mit ihrer Hilfe können wir über die Sinnesorgane fühlen und willkürliche und unwillkürliche Aktionen ausführen. Die Verarbeitung der entsprechenden Reize erfolgt im ZNS.
Das PNS umfasst:
1. Das vegetative Nervensystem (VNS) reguliert die inneren Organe und Drüsen und steuert unwillkürliche Vorgänge. Es besteht aus drei Subsystemen:
•Sympathikus: Aktiviert im Krisenfall die sogenannte „Fight-or-Flight"-Reaktion (Stressreaktion, engl.: Kampf oder Flucht)
•Parasympathikus: Stimuliert Aktivitäten, die man analog als „Rest-and-Digest" (engl.: ruhen und verdauen) bezeichnen könnte
•enterisches Nervensystem: Steuert den Verdauungstrakt bei Wirbeltieren
2. Das somatische Nervensystem (SNS) übermittelt Informationen von den Nerven ans ZNS und vom ZNS an die Muskeln und Sinneszellen; es ist mit der bewussten Muskelkontrolle assoziiert.
Wenn wir beim Yoga, wie im Buch beschrieben, über das SNS unsere Muskeln einsetzen, bedienen wir uns der körpereigenen Intelligenz. Der Schlüssel zur ganzheitlichen Gesundheit liegt darin, dass die non-verbalen Kommunikationssysteme des Körpers auf natürliche Weise Geist, Körper und Gefühle in Einklang bringen. Wenn es gelingt, den „sechsten Sinn" (die intuitive Reaktion des Körpers) zu aktivieren, werden die körpereigenen Heilkräfte mobilisiert und ein Durchbruch für die persönliche Gesundheit kann eintreten. Dafür muss man die unmittelbaren Reaktionen des Körpers genau beobachten. Kinästhetische Bewusstheit ist ein Teil davon: Präsent zu sein, auf den Körper zu hören, sich bewusst zu machen, wo im Raum sich der Köper gerade befindet und was dabei in anatomischer Hinsicht passiert, ist im Yoga enorm wichtig. Die Nervenimpulse eines ausgewogenen, kontinuierlichen Yogatrainings aktivieren auch das Muskelgedächtnis und die Muskelintelligenz.
Unser Nervensystem ist extrem komplex, wie man am Verlauf nur eines einzigen Nervs erkennen kann: Der Nervus genitofemoralis (s. Abb. 1.1. b)
•gehört zum oberen Teil des Plexus lumbalis, einem von drei Teilen des größeren lumbo-sakralen Plexus (Nervengeflechts) im Bereich der unteren Wirbelsäule,
•entspringt den Nervenwurzeln L1 und L2,
•tritt an der vorderen Oberfläche des Muskels Psoas major hervor, wo der Plexus lumbalis eingebettet ist und viele Verzweigungen hat,
•teilt sich in zwei Äste, den Ramus femoralis und den Ramus genitalis,
•innerviert die Haut vor dem oberen Teil des Schenkeldreiecks,
•zieht sich bei Männern durch den Inguinalkanal und versorgt den Cremaster-Muskel (Hodenheber) und die Haut des Skrotums,
•endet bei Frauen in der Haut des Venushügels (vorderer Teil der Vulva) und der großen Schamlippen. Dieser Ast erfüllt bei beiden Geschlechtern eine sensorische Funktion.
Organisation des Nervensystems
Abb. 1.1: a) Diagramm zum Nervensystem b) Nervenwurzeln des N. genitofemoralis
Das Beispiel zeigt, dass das Thema Neurologie im Yoga nicht einfach zu behandeln ist. Bei entsprechendem Hintergrundwissen kann das Nervensystem jedoch durchaus berücksichtigt werden.
Das Nervenkompressionssyndrom
Die Kompression eines Nervs kann Schmerzen verursachen, die sich durch die Ausübung der richtigen Asanas lindern lassen. (Der Ausdruck „eingeklemmter Nerv" wird vor allem beim Karpaltunnelsyndrom oder Ischiasbeschwerden verwendet, beschreibt aber eigentlich jede Art von Druck auf einen beliebigen Nerv im Körper.) Ischiasbeschwerden z. B. zeichnen sich normalerweise durch Schmerzen im Verlauf des Ischiasnervs (N. ischiadicus) von der Wirbelsäule zum hinteren Oberschenkel aus. Häufig ist daran der Piriformis-Muskel beteiligt. Der Yoga-Praktizierende kann vorsichtig verschiedene Dehnungen oder Haltungen (wie die Drehung im Liegen, einsetzen, um diesen Muskel zu entspannen und damit den Druck auf den darunter verlaufenden Ischiasnerv zu verringern.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie eine Nervenkompression durch Yoga gelindert werden kann, bietet der Plexus brachialis. Das Nervengeflecht leitet Signale vom Rückenmark an Schultern, Arme und Hände weiter. Bei einer Verletzung können die Nerven gezerrt oder eingeklemmt werden, ja sogar reißen. (In diesem Fall ist ein chirurgischer Eingriff erforderlich.) Dieser Bereich wird beeinträchtigt, wenn durch eine Fehlhaltung von Hals oder Schultern (etwa nach vorn gesackte Schultern) der Weg eines Nervenimpulses behindert wird. Jede Yogastellung, die eine Streckung der Wirbelsäule und eine Korrektur der Schulterhaltung (normalerweise „zurück und nach unten") bewirkt, wie etwa die Berghaltung (Tadasana), kann helfen, die Blockade aufzulösen.
Je nach Körperregion gibt es unterschiedliche Ursachen für ein Nervenkompressionssyndrom, von degenerierten Bandscheiben über Knochensporne, Arthritis und Muskelprobleme bis hin zu Verletzungen sowie Muskelverhärtungen aufgrund psychischer Anspannung. Die richtige Diagnose sollte unbedingt ein Physiotherapeut, Arzt oder Neurologe stellen.
Es ist erwiesen, dass Muskelentspannung ein Nervenkompressionssyndrom lindern kann. Verschiedene Asanas sind dafür geeignet.
Die periphere Innervierung
Die periphere Innervierung ist in diesem Buch bei allen Muskeln aufgeführt. Auch die maßgeblichen Nervenwurzeln wurden aufgenommen. Die Aussagen in der Fachliteratur darüber, aus welchem Rückenmarkssegment² die Nervenfasern hervorgehen, sind allerdings teilweise widersprüchlich. Das liegt daran, dass es für Anatomen sehr schwierig ist, einer einzelnen Nervenfaser beim Durchqueren des zugehörigen Plexus (Geflecht aus Nerven, von lat. plectere: flechten) durch dieses dichte Bündel aus Nervenfasern zu folgen. Im Buch werden die zugehörigen Nervenwurzeln ggf. in Klammern hinter dem Namen des Nervs aufgeführt, gefolgt von weiteren relevanten Angaben. Für den Nervus genitofemoralis heißt das z. B. N. genitofemoralis (L1, L2), aus dem Lendenteil des Plexus lumbosacralis.
Abb. 1.2: Querschnitt durch einen Rückenwirbel. Die Nervenwurzeln bilden einen Spinalnerv, der sich in je einen vorderen und hinteren Ast aufteilt.
Anatomische Orientierung
Anatomische Richtungsbezeichnungen
Zur Beschreibung der relativen Lage von Körperteilen und ihrer Bewegungen ist eine Referenzhaltung vonnöten. Als solche dient die sogenannte anatomische Grundposition: Aufrechter Stand, Arme hängen an der Seite, Handflächen zeigen nach vorn (Abb. 1.3). Anatomische Richtungsangaben beziehen sich immer auf den Körper in anatomischer Grundposition, egal in welcher Stellung er sich gerade tatsächlich befindet. Rechts und links entsprechen dabei den Seiten des betrachteten Körpers.
Abb. 1.3: Anterior/Ventral
Vorn, zur oder auf der Körpervorderseite
Abb. 1.4: Posterior/Dorsal
Rückwärtig, zur oder auf der Körperrückseite
Abb. 1.5: Superior/Kranial
Oben, näher am Kopf oder näher dem oberen Ende des Körperteils
Abb. 1.6: Inferior/Kaudal
Unten, näher an den Füßen oder näher dem unteren Ende des Körperteils
Abb. 1.7: Medial
(lat. medium: die Mitte)
Zur Mittelachse des Körpers hin, auf der Innenseite der Extremitäten
Abb. 1.8: Lateral
(lat. latus: die Seite)
Zu den Körperseiten hin, auf der Außenseite der Extremitäten
Abb. 1.9: Proximal
(lat. proximus: sehr nahe)
Zur Körpermitte (dem Nabel) hin, bei Extremitäten: nahe am Rumpf
Abb. 1.10: Distal
(lat. distare: entfernt sein)
Entfernt von der Körpermitte, bei Extremitäten: entfernt vom Rumpf
Abb. 1.11: Superfizial
Oberflächlich, zur oder an der Körperoberfläche
Abb. 1.12: Tief/Profund
Innenliegend
Abb. 1.13: Dorsal
Rückseitig, z. B. zum Hand- oder Fußrücken hin
Abb. 1.14: Palmar
Zur/auf der Innenseite der Hand, also der Handfläche
Abb. 1.15: Plantar
Zur/auf der Fußunterseite, also der Fußsohle
Die Körperebenen
In der Anatomie unterscheidet man drei Hauptkörperebenen. Dabei teilen gedachte Schnitte durch den Körper diesen – oder auch nur ein Körperteil – in zwei Teile.
Abb. 1.16: Die Körperebenen
•Sagittalebenen durchschneiden den Körper vertikal von vorn nach hinten und teilen ihn in einen linken und einen rechten Abschnitt. Abb. 1.16 zeigt die sagittale Ebene, die genau durch die Körpermitte geht, die sogenannte Medianebene.
•Frontal- oder Koronarebenen durchschneiden den Körper von links nach rechts und teilen ihn in einen vorderen (anterioren) und einen hinteren (posterioren) Abschnitt. Sie stehen rechtwinklig zu den Sagittalebenen.
•Die Transversalebenen sind horizontale Querschnitte, die den Körper in einen oberen (superioren) und einen unteren (inferioren) Abschnitt teilen. Sie stehen rechtwinklig zu beiden anderen Ebenen.
Die Berücksichtigung aller drei Ebenen ist beim Yoga sehr wichtig, weil der Körper in jeder von ihnen beweglich sein muss, um effizient zu arbeiten. Eine klassische Yogasitzung ohne Berücksichtigung spezieller Bedürfnisse sollte Bewegungen in allen drei Ebenen, d. h. entsprechende Asanas, vorsehen. Der Ablauf könnte z. B. wie folgt aussehen:
Sagittal
Sonnengruß (Surya Namaska von surya: Sonne, namaskar: Gruß)
1. Beginnen Sie in der Berghaltung .
2. Atmen Sie ein zur Tiefen Mondsichel : Heben Sie die Arme über den Kopf und strecken Sie sich Richtung Himmel.
3. Atmen Sie aus und lösen Sie die Spannung zur Vorbeuge im Stand .
4. Atmen Sie ein und strecken Sie den geraden Rücken dabei nach vorn, die Hände auf den Schienbeinen.
5. Atmen Sie aus zur Vorbeuge im Stand .
6. Atmen Sie ein und setzen Sie einen Fuß nach hinten in den Ausfallschritt .
7. Atmen Sie aus und nehmen Sie den anderen Fuß zurück in das Brett (Schiefe Ebene) und senken Sie den Körper zum Boden ab.
8. Atmen Sie ein zur Kobra .
9. Atmen Sie aus zur Kindhaltung . Verharren Sie für drei volle Atemzüge.
10. Atmen Sie ein zum Vierfüßlerstand .
11. Atmen Sie aus zum Herabschauenden Hund . Verharren Sie so für drei lange, volle Ujjayi-Atemzüge (mit Reibelaut).
12. Atmen Sie ein, und gehen oder springen Sie dabei mit den Füßen bis zwischen Ihre aufgestützten Hände.
13. Atmen Sie aus zur Vorbeuge im Stand . Atmen Sie ein und wiederholen Sie Punkt 4, dann atmen Sie wieder aus zur Vorbeuge im Stand .
14. Atmen Sie ein und richten Sie dabei Schritt für Schritt die Wirbelsäule auf, wobei Sie die Arme nach oben strecken ( Umgekehrter abtauchender Schwan ).
15. Atmen Sie aus zur Berghaltung (Hände in Namaste-Stellung bzw. Gebetshaltung), um sich zum Abschluss der Übung zu zentrieren.
Frontal
Querbalken (Parighasana) oder jede andere Haltung, die das Abspreizen oder die Adduktion eines Gelenks oder die seitliche Beugung der Wirbelsäule (Seitbeuge) enthält.
Transversal/Horizontal
Gedrehtes Dreieck (Parivrtta Trikonasana) oder jede andere Drehung der Wirbelsäule sowie andere Drehbewegungen.
Anatomische Bewegungsbezeichnungen
Bei Körperteilen wird die Bewegungsrichtung im Verhältnis zur Embryonalhaltung bestimmt. Die Einnahme der Embryonalhaltung erfolgt durch das Beugen (Flexion) aller Extremitäten. Das Aufrichten aus der Embryonalhaltung geschieht durch das Strecken aller Extremitäten. Beides erfolgt auch in der Sagittalebene.
Abb. 1.17: a) Beugung in die Embryonalhaltung b) Streckung aus der Embryonalhaltung
Grundbewegungen
Abb. 1.18: Beugung: Verkleinert den Winkel zwischen den Knochen eines Gelenks. Aus der anatomischen Grundposition erfolgt die Beugung meist vorwärts, außer beim Kniegelenk. Merke: Die Beugung geht immer zur Embryonalhaltung.
Streckung: Ausstrecken oder Beugen nach hinten, aus der Embryonalhaltung heraus
Überstreckung: Streckt ein Körperteil über seinen normalen Bewegungsspielraum hinaus.
Abb. 1.19: Seitliche Beugung: Neigung des Kopfes oder Rumpfes zur Seite in der Frontal- bzw. Koronarebene
Abb. 1.20: Adduktion: Anziehen, Bewegung zur Mittelachse des Körpers oder eines Körperteils
Merke: Um den Arm über Schulterhöhe hinaus anzuheben (Elevation durch Abduktion), muss das Schulterblatt um seine Achse rotieren, um die Schulterblattgelenkpfanne nach oben zu drehen.
Abb. 1.21: Rotation: Drehung, Bewegung eines Körperteils oder des Rumpfes um seine Längsachse
Mediale Rotation: Einwärtsdrehung
Laterale Rotation: Auswärtsdrehung
Abb. 1.22: Zirkumduktion: