Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Verantwortliche Gelassenheit: Freiheit in Zeiten der Krise
Verantwortliche Gelassenheit: Freiheit in Zeiten der Krise
Verantwortliche Gelassenheit: Freiheit in Zeiten der Krise
eBook152 Seiten1 Stunde

Verantwortliche Gelassenheit: Freiheit in Zeiten der Krise

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Maßnahmen zur Einschränkung der Corona-Pandemie haben die Gesellschaften vor die Fragen gestellt: In welchen Freiheitsräumen leben wir, welchen Einschränkungen oder Verpflichtungen folgen wir, wie ist es um unser Vertrauen in die Regierenden und Mitmenschen bestellt? Sind wir bereit, zugunsten des Gemeinwohls und gerade um der Schwächeren willen Zumutungen hinzunehmen?
Davon ausgehend macht Thomas Holtbernd in seiner Analyse deutlich: Wollen wir zukünftige Konflikte, Pandemien und Katastrophen mit möglichst wenig Schaden überstehen, wird es nötig sein, Krisen einzuüben und ein Freiheitsverständnis zu entwickeln, das dazu befähigt, mit Ambivalenzen, unstrukturierten Anforderungen sowie einer großen Ungewissheit umgehen zu können.
Wie Kirchen ihren Beitrag dazu leisten können, ist auch eine Anfrage an die Aufgaben bei der Wende von einer moralisch orientierten Wertegesellschaft zu einer problemlösenden Konfliktgesellschaft.
SpracheDeutsch
HerausgeberEchter Verlag
Erscheinungsdatum1. Apr. 2021
ISBN9783429065324
Verantwortliche Gelassenheit: Freiheit in Zeiten der Krise

Ähnlich wie Verantwortliche Gelassenheit

Ähnliche E-Books

Religion, Politik & Staat für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Verantwortliche Gelassenheit

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Verantwortliche Gelassenheit - Thomas Holtbernd

    1. Teil

    Corona, das Ungeplante und die Krise

    Bisherige Epidemien und Pandemien betrafen vor allem Randgruppen oder Entwicklungsländer, Covid-19 trifft in die Mitte unserer Gesellschaft, und dies könnte erklären, warum die Bedrohung durch das Virus SARS-CoV-2 als so hoch eingeschätzt wurde und ungewohnt massive Schutzmaßnahmen ergriffen wurden. Die Übertragungsorte oder -wege sind typisch mittelschichtszentriert: Geschäftsreisen, Skiurlaub, Kreuzfahrten, also die Enklaven der Wohlhabenden.² Covid-19 trifft die Gesellschaft in ihrer Verwundbarkeit, der gemeinschaftlichen Sorge um den Einzelnen, der Solidarität und Gerechtigkeit sowie der Gewähr eines aktuellen Schutzes und einer Planungssicherheit. Konkret ist die Gesellschaft durch Covid-19 in dem Bereich gefährdet, der durch die Fortschritte der Medizin fast unverwundbar erschien. Gesundheit war für den Einzelnen ganz im Sinne des Neoliberalismus zum Ort des Erfolgs oder Glücks durch eigene Anstrengungen und finanzielle Möglichkeiten geworden. Dass das körperliche Wohlbefinden nicht nur von den Leistungen und Investitionen des Einzelnen abhängt, stellte dieses Gesundheitsverständnis radikal in Frage. Rudolf Virchow schrieb bereits 1849, dass die Seuchen als eine große Störung des Massenlebens zu verstehen seien.³ Er kam folgerichtig zu der Forderung: „Soll die Medizin daher ihre große Aufgabe wirklich erfüllen, so muß sie in das große politische und soziale Leben eingreifen …"⁴ Es verwundert daher nicht, wenn vor allem Mediziner die politischen Maßnahmen während der Corona-Krise maßgeblich mitbestimmten. Die geforderten Therapiepläne zielen dabei auf eine Herdenimmunität ab, durch die die Störungen des Massenlebens und damit die Gefahr für den Einzelnen gebannt werden sollen. Man könnte dies als einen Paradigmenwechsel beschreiben: Nicht mehr der Einzelne ist für seine Gesundheit verantwortlich, sondern der Einzelne hat Sorge für die Gemeinschaft zu tragen und kann so seine Gesundheit erhalten.

    Stärker als die Ölkrise 1973 oder die Finanzkrise 2008 führte die Corona-Krise 2020 zu einem massiven Eingriff in das alltägliche Leben der Menschen. Durch die Kontaktsperren wurden selbst menschliche Grundbedürfnisse beschnitten. Zum ersten Mal in der Geschichte fügten sich auch die Kirchen und feierten über Monate nur sehr beschränkt öffentliche Gottesdienste, die hohen Feiertage wie Ostern und Weihnachten fanden weitestgehend virtuell statt. Theater- und Opernaufführungen, Stadtfeste und alles, was zum gewohnten Alltag gehörte, wurde abgesagt. Die Fortführung des bisherigen Lebensstils, der vorher durch Klimaaktivisten radikal der Kritik unterzogen worden war, musste schlichtweg aufgrund der Einschränkungen unterbrochen werden. Gleichzeitig konnten aufgrund der Krise die durch den bisherigen Lebensstil entstandenen Schäden ausgeblendet werden. Flugscham oder generell eine selbstkritische Sicht auf die eigenen Konsumgewohnheiten wurden vom Thema Corona überdeckt. Moralisches Handeln konnte einfach und genau definiert werden: Abstand halten, Mund-Nase-Schutz tragen und Hygieneregeln einhalten. Man musste sich den schwierigen Fragen um die eigene Schuld, die Bedingtheit ethischer Standpunkte, die komplexen Zusammenhänge und die Glaubwürdigkeit der eigenen Überzeugungen nicht stellen. Der Zwiespalt und die Widersprüchlichkeiten moralischen Handelns konnten ausgeblendet werden. „Ich weiß von der historischen Bedingtheit meiner Anschauungen und also von ihrer Relativität, und doch kann ich nicht anders, als sie absolut zu setzen, denn sonst ginge die Ernsthaftigkeit meiner Überzeugungen verloren."⁵ Es wurde eine kulturelle Gleichheit verordnet, die es jedoch nur auf der Ebene des Schutzes gibt. In Krisensituationen ist die unbedingte Konzentration auf das Wesentliche notwendig, da es ums Überleben geht.

    Auf der anderen Seite schließt die Konzentration auf das, was in der Krise zu tun ist, Mehrdeutigkeiten nicht aus. Gleichzeitig erschwert der Wunsch nach Klarheit und Übersichtlichkeit die Toleranz für widersprüchliche Situationen und Vorgehensweisen. Eine solche Komplexität wird dann als Paradoxie erlebt und erhöht den Widerstand gegen angeordnete Maßnahmen oder wird als unnötige Belastung verstanden. So erfahren die konkrete Gefahr, Infektion und Erkrankung mit schwerem Verlauf, direkt oder indirekt nur wenige Menschen, die Beschränkungen gelten jedoch für alle. Vom Einzelnen ist eine Abstraktionsleistung verlangt, er muss aus den Informationen, die er durch die Medien bekommt, die Dimension der Pandemie ableiten können oder zumindest den Fachleuten und Politikern Glauben schenken. Dies scheint bis auf wenige Ausnahmen gelungen zu sein und darf wohl als eine große gesellschaftliche Leistung anerkannt werden.

    Diese Paradoxie führt bei den Menschen auf der anderen Seite zu einer diffusen Angst. Die Härte der Maßnahmen lässt eine Katastrophe erahnen, kann jedoch nicht mit konkreten Erfolgen eigenen Handelns verbunden werden. Ziel der politischen Maßnahmen ist es ja gerade, dass möglichst wenige infiziert werden und erkranken. Um das Gefühl der Selbstmächtigkeit zu erhalten, werden die diffusen Ängste auf konkrete Dinge verschoben, und die Menschen horten Toilettenpapier und Nahrungsmittel. Dieses irrationale Verhalten kann als die Kehrseite einer Gesellschaft verstanden werden, die Gefühle in Shitstorms entladen hat und im Fall der akuten und realen Bedrohung kollabiert. Der Einzelne bekommt „Schiss" und sorgt für den Fall vor, bei dem er oder sie nicht mehr in der Lage ist, das Aufgenommene zu verdauen oder es einfach wie beim Shitstorm unkontrolliert herauszulassen.

    Zuversicht schöpfen die Menschen aus dem, was in den Gesellschaften funktioniert. Die Gewissheit, dass zwar mit einigen Blessuren auch die Corona-Krise bewältigt wird, war durch die vorherigen Krisenerfahrungen gefestigt. Vielen Unkenrufen zum Trotz scheinen die Demokratien auch in Krisenzeiten zu funktionieren, sind die Menschen vernünftiger, als manche Misanthropen immer wieder erklären. Die vor der Corona-Krise oft beschworenen Dystopien oder die negative Sicht auf menschliche Einsichtsfähigkeit schienen sich nicht zu bewahrheiten. Covid-19 ist, wie der Philosoph Byung-Chul Han formuliert, ein Systemtest.⁶ Auf der einen Seite geht es darum, wie gut das eigene System in der Lage ist, mit dem Aufkommen des Virus und den Folgen der Infektionen und Erkrankungen klarzukommen, anderseits ist es ein „Krieg" der Systeme. Während sich Europa und die westliche Welt vor allem dem Rat von Virologen und Epidemiologen anschließen, sind die asiatischen Länder orientiert an den Möglichkeiten von Big Data.⁷

    Die moderne Gesellschaft wurde durch die Pandemie mit der Tatsache konfrontiert, dass die Zukunft nicht sicher geplant werden kann. Mit Covid-19 ist die Unvorhersehbarkeit zu einem radikalen Höhepunkt gekommen, weil deutlich wurde, dass nach der Krise eine neue Krise kommen wird. Die bisher als Krisen bezeichneten Phänomene dienten möglicherweise durch diese Bezeichnung eher der Ablenkung, um die Komplexitäten in einer globalen Welt reduzieren und die Gefahren verharmlosen zu können. Indem eine Situation zur vermeintlichen Krise erklärt wird, kann die Aufmerksamkeit auf nur einen Bereich fokussiert und andere Konflikte können ausgeblendet werden. Diese einseitige Perspektive kann dann wiederum die Ursache dafür sein, dass bestimmte Entwicklungen nicht gesehen, folglich auch nicht gestoppt wurden und so tatsächlich eine existenziell bedrohliche Krise eintritt.

    Edgar Morin hatte 2001 in einer Schrift für die UNESCO darauf hingewiesen, dass zu einem für eine globalisierte Welt notwendigen komplexen Denken das Ungewisse miteinzubeziehen ist: „Daher ist bei keiner Aktion sicher, daß sie sich im beabsichtigten Sinne entfalten wird."⁸ Hartmut Rosa beschreibt dieses Nichtkontrollierbare als das Unverfügbare: „Indem wir Spätmodernen auf allen Ebenen – individuell, institutionell und strukturell – auf die Verfügbarmachung von Welt zielen, begegnet uns die Welt stets als ‚Aggressionspunkt‘ oder als Serie von Aggressionspunkten …"⁹ Aufgrund dieser Analyse lässt sich auch die martialische Wortwahl verstehen, mit der über die Infektion und Maßnahmen zur Eingrenzung der Pandemie gesprochen wird.

    Die Corona-Krise hat die als sicher geglaubte gesellschaftliche Entwicklung radikal in Frage gestellt. Das Wissen um die Notwendigkeit eines komplexen Denkens macht Angst und fördert die Sehnsucht nach dem Bekannten. Nicht die tatsächliche Realität wird reflektiert, es wird die Rückkehr zur Normalität gefordert und dies mit einer Vision des guten Lebens verwechselt. Wie ein Kind, das aufgrund einer schwierigen Bindung zur Mutter beziehungsweise den Bezugspersonen die Realität verdrängt und sich die Vergangenheit als einen paradiesischen Zustand ausmalt und dahin zurückkehren möchte, scheint die Rede von der Rückkehr in die „Normalität" vom Wunsch geprägt zu sein, die negativen Entwicklungen aus der Zeit vor der Corona-Krise ausblenden und die Arbeit an sich selbst wegschieben zu wollen. Das Kind will nicht erwachsen werden und die Eltern wollen nicht wahrhaben, dass sie Zuneigung mit ihren Vorstellungen vom richtigen Leben verwechselt und die Entwicklung ihres Kindes zum Erwachsenen genau hiermit behindert haben.

    Notwendig für eine Deutung oder Analyse der Situation ist das, was in der Psychotherapie die therapeutische Distanz und vergleichbar in der philosophischen Richtung der Phänomenologie epoché genannt wird. Die Einsicht in die Notwendigkeit einer therapeutischen Distanz für eine erfolgreiche Behandlung setzt die Auseinandersetzung mit den eigenen Unergründlichkeiten voraus, damit im Klienten und in seinen Problemen nicht das gesehen wird, was der Therapeut aufgrund eigener unbewältigter seelischer Zustände sehen will. Diese Empathie des Therapeuten für sich selbst macht sein „wissenschaftliches Vorgehen zu einem warmen Denken. Die Symptome oder die geäußerten Motive werden keiner eiskalten, sachlichen Diagnose und keinem chirurgischen Eingriff unterzogen, sie werden als Material für eine Deutung herangezogen. Es geht um ein Verstehen, das gleichzeitig eine Form der Hinwendung zum anderen Menschen ist. Für den Einzelnen kann dies bedeuten, sich in dem Theaterstück „Corona als einen der Darsteller vorzustellen, um eine innere Distanz gewinnen, sein eigenes Erleben möglichst sachlich und neutral bewerten und über sein eigenes Verhalten, was er in dem Spiel peinlich berührt wiedererkennt, als besonders gut gesetzte Pointe lachen zu können. Für die Bewältigung der Corona-Krise muss neben den sachlich und praktisch notwendigen Maßnahmen ihre Inszenierung analysiert und verstanden werden. Was Einzelne und auch die Gesellschaften zu verdrängen, abzuwehren oder zu rationalisieren versuchen, findet sich als Inszenierung dieser Krise wieder und erschwert oder erleichtert die Maßnahmen, die sachlich geboten sind.

    Moderne Gesellschaften sind Aufmerksamkeits- und Erregungskulturen und bieten mit den digitalen Medien jedem eine Selbstinszenierungsplattform: „Jeder, der postet und kommentiert, Nachrichten und Geschichten teilt, ein Handyvideo online stellt,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1