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Pigment
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eBook647 Seiten9 Stunden

Pigment

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Über dieses E-Book

Das Leben des Psychiaters Gregor Assmann droht aus den Fugen zu geraten, als sich seine Haut auf mysteriöse Weise zu verdunkeln beginnt. Schmerzlich erfährt er, was es bedeuten kann, als "Schwarzer" in einer "weißen" Gesellschaft zu leben. Derweil rekonstruiert eine geheimnisvolle Unbekannte die Geschichte des haitianischen Freiheitshelden Toussaint Louverture, der über zweihundert Jahren zuvor gegen Sklaverei und koloniale Rassendiktatur kämpft. Was sie alle verbindet, ist die unerfüllte Sehnsucht nach einer Welt, in der die Farbe der Haut keine Rolle mehr spielt. Als Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen, geschieht etwas völlig Unerwartetes.

Pigment ist ein spannender, vielschichtiger Roman über die gesellschaftlichen und historischen Wurzeln des Rassismus.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum11. Mai 2021
ISBN9783740741518
Pigment
Autor

Johannes Pantel

Johannes Pantel, geboren 1963 in Ahlen, studierte Medizin, Philosophie und Psychologie, bevor er eine Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie absolvierte. Er ist Autor und Herausgeber von mehr als 30 Büchern und über 300 Buch- und Zeitschriftenartikeln und bekleidet heute eine Professur für Altersmedizin an der Goethe-Universität Frankfurt. Sein wissenschaftliches Werk wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet.

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    Buchvorschau

    Pigment - Johannes Pantel

    Über das Buch

    Das Leben des Psychiaters Gregor Assmann droht aus den Fugen zu geraten, als sich seine Haut auf mysteriöse Weise zu verdunkeln beginnt. Schmerzlich erfährt er, was es bedeuten kann, als Schwarzer in einer weißen Gesellschaft zu leben. Derweil rekonstruiert eine geheimnisvolle Unbekannte die Geschichte des haitianischen Freiheitshelden Toussaint Louverture, der über zweihundert Jahren zuvor gegen Sklaverei und koloniale Rassendiktatur kämpft. Was sie alle verbindet, ist die unerfüllte Sehnsucht nach einer Welt, in der die Farbe der Haut keine Rolle mehr spielt. Als Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen, geschieht etwas völlig Unerwartetes.

    Pigment ist ein spannender, vielschichtiger Roman über die gesellschaftlichen und historischen Wurzeln des Rassismus.

    Über den Autor

    Johannes Pantel, geboren 1963 in Ahlen, studierte Medizin, Philosophie und Psychologie, bevor er eine Weiterbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie absolvierte. Er ist Autor und Herausgeber von mehr als 30 Büchern und über 300 Buch- und Zeitschriftenartikeln und bekleidet heute eine Professur für Altersmedizin an der Goethe-Universität Frankfurt. Sein wissenschaftliches Werk wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet

    Für Alexander

    Die Natur spricht eine machtvollere Sprache,

    als Philosophien oder wirtschaftliche Interessen.

    Es gibt so viele Hinweise auf den bevorstehenden Sturm.

    Guillaume Raynal, 1773

    Until the day that you are me and I am you

    Stevie Wonder, 1976

    Inhaltsverzeichnis

    27. Mai 2010

    18. März 1803

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    Kapitel 18

    Kapitel 19

    Kapitel 20

    Kapitel 21

    Kapitel 22

    Kapitel 23

    Kapitel 24

    Kapitel 25

    Kapitel 26

    Kapitel 27

    Kapitel 28

    Epilog

    27. Mai 2010

    Gregor sah die Glatze und spürte das Unheil. Es hatte als eintönige Pendlerfahrt begonnen, an deren Ende er den Regionalexpress am Hauptbahnhof verlassen und die Linie 21 in Richtung Uniklinik nehmen würde. Wie jeden Morgen übertraf die Anzahl der Reisenden in dem stickigen Abteil die Zahl der Sitzgelegenheiten. Da saßen sie schweigend und bleich auf den angeschmuddelten Polstern, einige der Älteren lasen die Neue Presse , die Jüngeren starrten auf die Displays ihrer Smartphones. Andere mussten stehen und sahen aus den Fenstern, hinter denen geklont wirkende Vorstadtsiedlungen vorbeizogen.

    Die Glatze lehnte biertrinkend an einer Haltestange und gaffte ihn an. Stand der schon die ganze Zeit da? Gregor unterdrückte seine Beklemmung und wich dem unfreundlichen Blick des Skinheads aus. Schließlich hatte er schon genug Ärger am Hals. Seit sich vor bald fünf Monaten die ersten Anzeichen seiner Verwandlung bemerkbar gemacht hatten, war sein bisher so geordnetes Leben ins Chaos gerutscht. Zwar hatte ihn die Begegnung mit Marie-Mica vor dem emotionalen Absturz bewahrt, aber die gestrigen Ereignisse hatten ihm einmal mehr vor Augen geführt, dass er sich immer noch nah am Abgrund bewegte. War er depressiv? Obwohl er die Diagnose täglich an andere vergab, gelang es ihm nicht, diese Frage für sich zu beantworten.

    Der kräftige Ruck, mit dem der Zug unerwartet stoppte, riss Gregor aus seinen Grübeleien. Er blickte auf. Der Skinhead glotzte ihn immer noch an, inzwischen, wie es Gregor schien, noch eine Spur aggressiver. Unwillkürlich dachte er an den anonymen Brief, den er gestern bekommen hatte. Was, wenn das einer von denen war? In diesem Moment setzte sich die Bahn wieder in Bewegung, erst ruckelnd, dann in gewohnter Gleichmäßigkeit, um kurz darauf in den nächsten Vorortbahnhof einzulaufen. Fahrgäste drängten in den Zug und füllten die frei gewordenen Plätze. Schüler, Rentner, Angestellte in Businesskleidung, die tageszeitübliche Mischung. Würde ihm einer von denen beistehen, wenn der Glatzkopf seine letzten Hemmungen verlieren würde?

    Zu Gregors Erleichterung stiegen hinten drei Uniformierte ein. Bundespolizei, wie er an den Dienstabzeichen zu erkennen glaubte. Das Dunkelblau ihrer Jacken und das saubere Weiß ihrer Dienstmützen hatte er schon oft beiläufig wahrgenommen, doch diesmal sah Gregor genauer hin. Einer von ihnen, ein untersetzter Typ mit Schnauzbart, schritt vorne weg und schien der Ranghöchste zu sein. Sein deutlich jüngerer Kollege war athletisch und überragte den Schnauzbart um Kopflänge. Begleitet wurden sie von einem Jüngling, vermutlich ein Auszubildender, dessen dienstbeflissener Gesichtsausdruck nur unzureichend die Unerfahrenheit seines Besitzers überdeckte. Auch die Mienen seiner beiden Kollegen wirkten streng, soldatisch, unnahbar - so normiert, wie ihre Uniformen.

    In diesem Moment fühlte sich Gregor auf widersinnige Weise ertappt. Dabei hatte er nichts zu verbergen, im Gegenteil. Er übte einen allgemein als nützlich erachteten Beruf aus, zahlte seine Steuern und hielt sich auch sonst an die Gesetze. Kurzum, er war ein normaler, unbescholtener Bürger - genau wie die drei Beamten hier, deren Aufgabe es war, ihn zu beschützen. Und doch gelang es ihm nicht, dieses alarmierende Gefühl abzuschütteln. War es der martialische Eindruck ihrer Dienst-Monturen? Oder die Zielstrebigkeit, mit der sie auf ihn zuhielten? Gregor befiel eine Ahnung, aber er schob sie beiseite. Wieso sollten die Beamten ausgerechnet ihn im Visier haben, da es doch hier im Abteil viel lohnendere Objekte gab, zum Beispiel diesen biertrinkenden Skinhead? Bildete er sich das alles nur ein? Genauso wie er sich womöglich nur in die Vorstellung hineingesteigert hatte, der Typ würde aggressive Absichten gegen ihn hegen? War er gar nicht depressiv, sondern paranoid?

    Da hatte sich der schnauzbärtige Polizeimeister bereits unmittelbar vor ihm aufgebaut. »Ihren Personalausweis bitte!«

    Also doch.

    »Sprechen Sie deutsch?« Das klang schon ungeduldiger.

    »You have identity card?«, sekundierte der Athlet in holprigem Englisch. Gregor spürte die Blicke der eben noch so teilnahmslos wirkenden Mitreisenden auf sich. Der Skin grinste jetzt mit unverhohlener Schadenfreude zu ihm herüber. Warm war es im Abteil. Viel zu warm. Gregor zwang sich, die Fassung zu bewahren, überlegte, wie er reagieren sollte. Am liebsten wäre er jetzt aufgestanden und wegmarschiert, aber dann sah er die drei unnachgiebig fixierenden Augenpaare der Polizisten. Nein, natürlich wäre es dumm, sich zu widersetzen. Und wohin könnte er in dem vollbesetzten Zug schon gehen? Aber Fragen ist erlaubt, dachte er. »Dürfte ich bitte wissen ...?«

    »Dies ist eine verdachtsunabhängige Kontrolle nach § 22 Absatz 1a Bundespolizeigesetz«, kam die Antwort, prompt und geschliffen.

    Verdachtsunabhängige Kontrolle. Irgendwo hatte Gregor das schon mal gehört. Es klang nach Rechtsstaat, nach reiner Routine, aber doch musste er jetzt auf der Hut sein, deeskalieren, diese peinliche Situation so rasch wie möglich hinter sich bringen. Er griff nach seiner Brieftasche, die sich in der linken Innentasche seines Sakkos befand.

    Verdammt! Wo ist die Brieftasche? Fieberhaft suchte Gregor weiter, als ihm einfiel, dass er das Ding gestern Abend aus dem Sakko geholt hatte, um Marie-Mica irgendetwas zu zeigen. Danach musste er es in ihrer Wohnung vergessen haben.

    »Mach’ mal hinne, wir ham nicht ewig Zeit!« Das war der Athlet. Die schwüle und verbrauchte Luft in dem vollbesetzten Abteil, die Blicke der Mitreisenden, der ihm feixend zuprostende Skin, all das setzte Gregor immer mehr zu. Er spürte, wie der Stoff seines durchgeschwitzten Hemdes an seinem Brustkorb festzukleben begann. »Der Ausweis...«, Gregor versuchte, seinem Blick einen Schuss joviale Zerknirschtheit beizumischen, »ich habe ihn … bei meiner Freundin vergessen. Tut mir wirklich sehr leid, soll nicht wieder vorkommen ...« Der Schnauzbärtige schüttelte langsam den Kopf.

    Diese verfluchte Hitze! Gregor nestelte weiter in den Taschen seines Sakkos herum. Eine reine Übersprunghandlung. Da glitt eine angebrochenen Packung Diazepam aus der Innentasche des Sakkos und kullerte dem Schnauzbart vor die Füße. Noch vor ein paar Wochen hatte Gregor nachts auf das Beruhigungsmittel zurückgegriffen, wenn er über seine verfahrene Situation grübelnd nicht einschlafen konnte. Eilig bückte er sich nach dem Medikamentenpäckchen, aber der Athlet war ihm zuvorgekommen und studierte jetzt aufmerksam die Aufschrift. »Hab‘ ich‘s doch gewusst«, rief er. »Das sind Psychopillen. Verschreibungspflichtig. Der Typ vertickt Drogen.«

    »Nein, nein, ich bin Arzt«, sagte Gregor hastig, merkte aber gleich, dass dieser Satz, der sonst eine erstaunliche soziale Wirkung entfalten konnte, jetzt gerade nicht besonders glaubwürdig klang. Die Beamten wechselten vielsagende Blicke.

    »Wir nehmen ihn mit«, sagte der Schnauzbärtige entschieden. Der Athlet nickte. Im Gesicht des Polizeischülers blitzte kindische Freude auf. Hoffte er vielleicht, dass der bisher ereignisarme Streifengang einem lehrreichen Höhepunkt zusteuerte?

    Inzwischen hatte der Zug den Hauptbahnhof erreicht und Gregor spürte den festen Griff der Polizisten an den Oberarmen. Obwohl sein Inneres rebellierte, wehrte er sich nicht, als er flankiert von dem Schnauzbart und dem Athleten auf den langgestreckten Kopfbahnsteig der Metropole geführt wurde. Unter den drei hohen, verglasten Tonnengewölben der großräumig-urbanen Bahnhofshalle herrschte reger Betrieb. Oft hatte sich Gregor beschwingt, manchmal sogar befreit gefühlt, wenn er morgens die Enge der Provinzstadt verlassen und in die bunte, internationale Atmosphäre der Metropole eintauchen konnte. An diesem warmen Frühsommertag, der ideale Bedingungen für einen Ausflug in den nahegelegenen Taunus bot, zeigte sich die weltoffene Stadt in Schönwetterlaune. Aber in seiner gegenwärtigen Lage konnte sich Gregor nicht daran freuen. Inmitten der Polizeieskorte fühlte er sich wie ein Gefangener, ein Ausgestoßener, und nach Lage der Dinge war er das auch. In den Blicken mancher Passanten meinte er Neugier, Sensationslust, vereinzelt auch Mitgefühl zu erkennen. Andere beachteten ihn nicht. Oder sahen sie weg, weil sie peinlich berührt waren?

    Unter dem Griff der Polizisten begannen Gregors Oberarme zu schmerzen. Inzwischen fühlte er sich mehr gezerrt als begleitet. Es war ein Gefühl der Ohnmacht, des Unterworfen-Seins, demütigend und beklemmend zugleich, das Gregor in dieser Form noch nie erlebt hatte. Unwillkürlich musste er an eine Situation zurückdenken, die sich kürzlich in der Klinik zugetragen hatte. Eine junge manisch-erregte Nonne war in Polizeibegleitung in die psychiatrische Aufnahmeeinheit gebracht worden. Oh ja, sie hatte sich gewehrt. Sie tobte, sie schrie. Aber es nützte ihr nichts. Als diensthabender Oberarzt gab Gregor die Anordnung, sie wegen akuter Eigen- und Fremdgefährdung fixieren zu lassen. Fünfpunktfixierung, gluteale Injektion - weil es sicherer und humaner ist. War nicht auch er, der Psychiater, der approbierte Bewahrer der geistigen Normalität, lediglich ein Erfüllungsgehilfe der staatlichen Macht vergleichbar den diensteifrigen Ordnungshütern hier? Wahnsinn und Gesellschaft.

    Sie hatten den Hauptausgang erreicht. Unweit der neoklassizistischen Eingangsfassade wartete ein Streifenwagen - ein Kleinbus der Marke Mercedes. Seine Bewacher drückten ihn unsanft in den hinteren Teil des Wagens.

    »Ausziehen!« Der Schnauzbart zerrte an Gregors Sakko. Gregor gehorchte widerwillig. Auf ein Nicken des Truppführers begann der Polizeischüler, die Innentaschen seines Sakkos zu durchsuchen. Gregors Handy fiel heraus und knallte auf den Boden. So ein Trottel! Vielleicht würde es helfen, den Kerlen mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde zu drohen? Nein, er sollte sich zurückhalten. »Würden Sie bitte etwas vorsichtiger mit meinem Eigentum umgehen?«, sagte er.

    »Du brauchst uns nicht zu erklären, wie wir unsere Arbeit zu machen haben, du Schwätzer«, rief der Athlet und warf seinem jungen Kollegen einen aufmunternden Blick zu. Gregors Empörung schlug in Wut um.

    »Da ist nichts mehr«, vermeldete der Jungpolizist.

    »Seine Identität müssen wir trotzdem feststellen«, sagte der Schnauzbärtige.

    Wollten die ihn etwa auf die Polizeiwache schleppen, oder so? Das war das Letzte, was Gregor im Moment gebrauchen konnte. Er musste in die Klinik. Er würde zu spät zur Dienstübergabe kommen. Der Direktor hatte ihn ohnehin schon auf dem Kieker. Und überhaupt - durften die das, ihn wegen einer harmlosen Packung Diazepam gegen seinen Willen festhalten? Er musste seine Wut unterdrücken. Je kooperativer er sich jetzt verhielt, desto eher würden sie ihn ziehen lassen. Die Dienstaufsichtsbeschwerde konnte er immer noch einreichen. »Ich könnte schnell zur Wohnung meiner Freundin fahren und meinen Personalausweis holen«, schlug er vorsichtig vor.

    Die Polizisten unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. »Was meinst du«, hörte Gregor den Athleten sagen, »ist er das?« Der Schnauzbärtige zuckte die Schultern und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Also gut«, sagte er, noch bevor Gregor sich einen Reim auf den Inhalt des Gesprächs machen konnte.

    »Gegen etwas Begleitung auf Kosten des Steuerzahlers wirst du ja nichts einzuwenden haben?«, feixte der Athlet. »Wo darf ’s denn hingehen ... Herr Doktor?« Gregors Erleichterung verpuffte. »Friedberger Landstraße neunzig«, murmelte er und der Streifenwagen machte sich auf den Weg.

    Schwankend zwischen Resignation und Aufbegehren kauerte Gregor zwischen den Polizisten im Fond des Wagens. Was, wenn die Polizisten ihm in die Wohnung folgen würden? Es war nicht seine, sondern Marie-Micas Wohnung. Er hätte sie anrufen und vorwarnen müssen, damit sie nicht unbedacht reagieren, am Ende noch in die Sache mit hineingezogen würde. Doch die hatten sein Handy einbehalten!

    Da erreichten sie schon das Gründerzeithaus, in dem sich Marie-Mica kleine Erdgeschosswohnung befand. Es dauerte eine Weile, bis sie an der Gegensprechanlage war. Der fröhliche Klang ihrer Stimme schmerzte Gregor, enthüllte er doch die Ahnungslosigkeit, mit der sie sich über seinen unverhofften Besuch freute. Durch das halbdunkle Treppenhaus, dessen glänzende Terrazzostufen und dunkelbraune Holzgeländer ein antiquiertes Jahrhundertwende-Flair verbreiteten, erreichten sie die Wohnungstür, die einen Spalt offen stand. Gregors Befürchtung bewahrheitete sich, als der uniformierte Trupp neben und hinter ihm in die Diele drängte.

    Der vertraute und anheimelnde Geruch von frisch gebrühtem Kaffee vermochte ihm keinen Trost zu spenden. Da hatte Marie schon die Diele betreten und der erschrockene Ausdruck ihrer Augen versetzte ihm einen Stich. Unverzüglich begannen der Truppführer und der Lehrling, die Räume zu durchforsten. Waren sie immer noch darauf aus, Drogen zu finden?

    »Ich erklär‘s dir später«, sagte Gregor mit einer hilflosen Geste zu Marie-Mica, die mit offenem Mund auf der Schwelle der Küchentür stand. Gefolgt von dem Athleten lief er ins Schlafzimmer.

    Gottlob, er hatte sich richtig erinnert! Dort auf dem Nachttisch lag die Brieftasche. Hektisch fingerte er den Personalausweis heraus, reichte ihm dem Athleten. Endlos gedehnt erscheinende Sekunden vergingen, während dieser das Dokument eingehend studierte und dabei immer wieder auf ihn blickte. Da blaffte er ihn an: »Willst du mich verarschen?« Lauter in Richtung Tür: »Harry, komm mal her!«

    Seine Kollegen stürmten herein und der Athlet überreichte dem Schnauzbärtigen das Dokument. Der sah auf den Ausweis, dann auf Gregor. Sein Gesichtsausdruck versprach nichts Gutes.

    »Das sind Sie nicht!«, sagte er. Ein Satz wie ein Peitschenschlag. Präzise und hart. In den Raum geworfen mit der unverhohlen triumphierenden Stimme eines Jägers, der seine Beute gestellt hatte. »Das ist ein Weißer auf dem Foto da.«

    Marie-Mica war den Polizisten ins Schlafzimmer gefolgt, wütende Verzweiflung im Blick. Der Athlet verlangte nun auch ihren Ausweis, den sie rasch zur Hand hatte. Er betrachtete ihn eingehend und reichte ihn wortlos an den Polizeischüler, der etwas notierte. Marie-Mica wollte etwas sagen, aber der Athlet schob sie aus dem Schlafzimmer und schloss die Tür.

    »Es ist nicht so, wie Sie denken!«, rief Gregor wütend.

    Der Truppführer schüttelte vehement den Kopf. »Verarsch dich selbst, Dummschwätzer«, sagte er mit bedrohlichem Unterton, »wir sind hier nicht in Afrika.«

    Das erinnert mich an die Gestapo, dachte Gregor. Oder hatte er es gemurmelt, er war sich nicht mehr sicher.

    »Sag das noch mal!«, rief der Athlet und reckte seinen muskulösen Körper.

    Nun ist sowieso alles egal, dachte Gregor. „Das erinnert mich an die Gestapo«, sagte er diesmal laut und vernehmlich.

    »Bin ich Nazi, oder was?«, rief der Polizeibeamte mit kaum gebremster Aggression. Auch Gregor hatte endgültig die Fassung verloren. »Keine Ahnung, das musst du selbst wissen!«

    »Das wird Konsequenzen haben, du kommst jetzt mit auf die Wache.« Der Schnauzbärtige gab dem Athleten ein Zeichen. Dieser zückte ein Paar Handschellen und trat auf Gregor zu. Der Lehrling legte eine Hand auf das schwarze Gürtelholster seiner Dienstpistole.

    »Dazu haben Sie kein Recht!«, rief Gregor und riss schützend seine Arme nach oben. Dann spürte er zum ersten Mal in seinem Leben seine linke Niere. Dieses Organ, das dazu bestimmt war, stumm und unbemerkt seine Arbeit zu verrichten, solange es intakt und funktionsfähig war, überflutete nun sein Bewusstsein mit einem grellen, vernichtenden Schmerz. Gregor rang nach Atem.

    Der zweite Schlag traf ihn ungebremst im Gesicht. Er schmeckte Blut und spürte, wie seine Unterlippe anschwoll, wie das harte, kühle Metall der Handschellen seine Gelenke mit einem präzisen Klick umschloss. Dann verlor er das Bewusstsein.

    18. März 1803

    Ein höhlenartiges Gewölbe mit unverputzten Steinwänden, kaum größer als eine Mönchszelle. Gegenüber der aus schwerem Holz und anscheinend für die Ewigkeit gezimmerten Tür das vergitterte Fenster. Dieses ist bis auf eine schmale Öffnung in seinem oberen Drittel zugemauert, so dass das Innere des Kerkers auch tagsüber nur in ein dämmeriges Licht getaucht ist. Die Kälte des Jura-Gebirges sitzt in jeder Ritze des Raumes und tatsächlich würde ein aufmerksamer Beobachter die Eiskristalle nicht übersehen, die sich vor allem im Winter in die Fugen der groben Wände einnisten. Den Boden des Verlieses bilden ebenso grob gehauene Steinplatten, deren matter Glanz die klamme Feuchtigkeit verraten, mit der sie ständig benetzt sind.

    Jeder Besucher – es kommen nicht viele - würde sich rasch einen Überblick über die spartanische Einrichtung verschaffen: Links unter dem Fenster die Holzpritsche, rechts davon ein Tischchen, darunter ein hölzerner Schemel. Ein kleiner, an der rechten Längswand der Zelle platzierter Sekretär ist im Vergleich zur plumpen Machart der übrigen Einrichtungsgegenstände das einzige halbwegs kultivierte Möbelstück. Selbst das spärlich flackernde Kaminfeuer vermag dem Raum keine Wärme zu spenden. Vielmehr überzieht es das Gewölbe mit einem gespenstisch wirkenden Schattenspiel, das der Szenerie etwas Surreales verleiht.

    Toussaint Louverture kniet schwer atmend vor dem Kamin und betrachtet das zerknitterte Papier, das er in seinen ausgemergelten Händen hält. Brandspuren an seinem Rand zeugen davon, dass er es Augenblicke zuvor wutschnaubend in den Kamin geworfen und in buchstäblich letzter Sekunde wieder herausgefischt hat. Als koste ihn jede Bewegung unendlich viel Mühe, schleppt sich Toussaint zu dem Sekretär und lässt sich seufzend daran nieder, um das Schreiben noch einmal zu lesen. Der Adressat ist kein geringerer als Napoleon Bonaparte, Erster Konsul der Französischen Republik und einer der mächtigsten Männer Europas.

    Verehrtester Herr Konsul,

    Es ist aus der Tiefe dieses trostlosen Gefängnisses, aus der ich an Ihre Gerechtigkeit und Großherzigkeit appelliere. Sie, Herr Konsul, sind ein zu nobler und guter General, um sich von mir, einem alten Soldaten - bedeckt mit zahlreichen Wunden im Dienste Frankreichs – abzuwenden, ohne mir die Gelegenheit zu geben, mich zu rechtfertigen und mich einem standesgemäßen Richterspruch zu unterziehen. Ich bitte daher, so bald wie möglich vor das in Aussicht gestellte Tribunal gebracht zu werden, vor dem zugleich auch General Leclerc erscheinen möge ...

    Toussaint schüttelt den Kopf. Er denkt nach, obwohl es ihm in seiner kläglichen Verfassung schwerfällt, sich zu konzentrieren. Wie soll er diesem machtbesessenen Kerl bloß schreiben? Wie soll er einem Mann gegenüber den richtigen Ton treffen, dessen Ziel es ist, sein Lebenswerk mit skrupelloser Gewalt zu zerstören? Allein deswegen widert es ihn an, Bonaparte als gerecht und großherzig zu titulieren. Doch gerade jetzt muss er besonnen bleiben und vielleicht sind diese Formulierungen gar nicht so schlecht. Bonaparte ist ein Machiavellist. Nach allem, was Toussaint über ihn wusste, ist er aber auch eitel und empfänglich für hofierendes Gebaren. Da sollte Toussaint in seiner Lage nicht sparsam mit Unterwerfungsgesten sein. Seinen Stolz muss er zurückstellen, will er nicht die Chance gefährden, seinen Standpunk in einem öffentlichen Verfahren darzulegen, das ihm aufgrund seines Ranges als General der französischen Armee zusteht. Denn das würde ihm nicht nur erlauben, das Intrigenspiel seiner Gegner zu entlarven. Auch seinen Verdiensten könnte er dann auf höchster Ebene - und vor den Augen der Welt - Geltung verschaffen.

    Und, weiß Gott, er hat Verdienste! Er, der ehemalige Sklave, hat es nicht nur vermocht, sich als militärischer und politischer Führer an die Spitze der kolonialen Gesellschaft Saint Domingues zu stellen, sondern er hat Dinge vollbracht, die selbst ein weitsichtiger Beobachter noch vor ein paar Jahren als unmöglich bezeichnet hätte. Unterstützt von seinem Heer, in der nicht mehr die Abstammung, sondern Treue und Einsatzbereitschaft über Positionen und Ränge entschieden, hat er die im Bürgerkrieg zerrissene französische Inselkolonie vor dem Zugriff der Spanier und Engländer bewahrt. Damit hat er Frankreich in einer aussichtslosen Situation den Verlust seiner ertragreichsten Überseekolonie erspart. Er hat sie geeint und danach ist es ihm sogar gelungen, die weitgehend zerstörte Plantagenwirtschaft wieder in Gang zu bringen.

    Als er schließlich seine Verfassung verabschiedete, die eine Garantie uneingeschränkter Bürgerrechte für alle Bewohner der Insel, unbesehen ihrer Herkunft und Hautfarbe, vorsah, wähnte er sich kurz vor dem Ziel und damit zugleich vor der Einlösung des Schwures, den er vor über zehn Jahren geleistet hat: Alles zu tun, damit seine Kinder und Kindeskinder in einer Welt leben dürfen, in der die Farbe der Haut keine Rolle mehr spielt.

    Ich schwöre es, Suzanne! Ich schwöre!

    Und er stand so kurz davor. Bonaparte hätte lediglich seine ursprünglichen Versprechen halten und ihm dauerhafte Vollmachten verleihen müssen. Im Gegenzug hätte sich die französische Regierung an einer loyalen und vor allem prosperierenden Kolonie erfreuen können. Und mehr noch, sie hätte eine der schlagkräftigsten Armeen jenseits des Atlantiks ihr eigen nennen dürfen - und dies direkt vor den Toren Nordamerikas. Aber der Erste Konsul hatte anderes im Sinn. Und statt ihm Prokura für die Vollendung seiner Mission zu erteilen, hat der Korse ihm seinen Schwager Leclerc auf den Hals gehetzt, ausgestattet mit einer Armada von 67 Schiffen und 20000 Soldaten. Angeblich waren sie den Weg über den Atlantik gekommen, um ihm beizustehen, um die Freiheit der ehemals Versklavten gegenüber Invasoren zu schützen. Freiheit, natürlich! Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das stellte sich nun als eine tolldreiste Lüge heraus. Aber hat Bonaparte wirklich geglaubt, dass Männer, die einmal das Privileg der Freiheit genossen haben, in Ruhe zusehen würden, wie man sie ihnen wieder entzog? Solange sie kein anderes, kein besseres Leben als die Sklaverei kannten, hatten sie sich den grausamen Ketten gefügt. Aber nachdem sie diese aus eigener Kraft abgeworfen hatten, hätten sie eher ihr Leben gleich tausendmal geopfert, als sich wieder in die Unterjochung zwingen zu lassen. Auch wenn er, Toussaint, es so nicht gewollt hat, die tödliche Konfrontation mit dem Pariser Regime war am Ende unvermeidbar.

    Die Tür der Zelle öffnet sich geräuschvoll. Ein Wächter in der Uniform eines einfachen Soldaten tritt ein. Ein verschlossener Mensch, der zu stottern beginnt, wenn er unsicher ist. Wie jeden Abend stellt er das kärgliche Nachtmahl, das aus einem Krug mit Wasser und einer Schüssel mit kalter, schleimiger Hafergrütze besteht, auf das Holztischchen, und verschwindet wieder. Angeekelt lässt Toussaint die Pampe stehen und legt sich mit einem leichten Stöhnen auf die Pritsche. Seit Wochen schon kämpft er gegen seinen Verfall. Die alten Kriegswunden plagen ihn - zermürbende Schmerzen. Er fröstelt ununterbrochen. Dazu ein Schwächegefühl, hartnäckige Hustenanfälle. Die kräftezehrenden Fieberschübe tun ihr Übriges. Der Aufenthalt in diesem Bunker lässt ihn immer kränker werden.

    Manchmal hilft es ihm für kurze Zeit, sich in Tagträume zu flüchten. Bilder seiner Heimat, Ayiti, wie sie in der Sprache ihrer Ureinwohner hieß, das bergige Land. Die immer grünen Hügel der Insel, die meist schwüle, aber stets verlässliche Wärme der Karibik, das gleißende Licht des frühen Nachmittags. Wenn er - so wie jetzt - sehr intensiv daran denkt, spürt er die Passatwinde, die manchmal laue, manchmal erfrischende Seebriese, die sich zu kraftvollen Tropenstürmen aufbauen kann. Er sieht Urwälder, fruchtbare Plantagen und einsam gelegene Buchten, die so idyllisch erscheinen, als wären sie tatsächlich Teil einer wunderbaren Schöpfung, so wie in den uralten Mythen beschrieben. Und obwohl er weiß, dass Saint Domingue beileibe kein Paradies ist, so bleibt doch die Sehnsucht, dass es einmal eines sein könnte.

    Das Rumpeln der Kerkertür reißt ihn aus dem Dämmerschlaf. Diesmal erscheint der Wächter in Begleitung des Kommandanten, ein kleiner schlecht rasierter Mann mit dunklen, fettigen Haaren, dessen unnatürliche rosa Gesichtsfarbe den gewohnheitsmäßigen Trinker von Absinth verrät. Er bleibt mit erhobenem Haupt in der Tür stehen. Seine wässrigen Augen huschen hin und her, ohne Toussaint eines Blickes zu würdigen.

    »Inspektion!«

    Schon wieder diese Schikane! Erst vor ein paar Tagen haben sie hier alles durchwühlt. Der Kommandant tritt an den Sekretär und beginnt ausgiebig durch seine persönlichen Unterlagen zu blättern. Er zieht eines der Blätter hervor und studiert es eingehender.

    »Unterstehen Sie sich!«, ruft Toussaint, doch der Kommandant ignoriert ihn und liest weiter.

    »Wie ich sehe, schreibt er fleißig an seine vermeintlichen Unterstützer«, sagt er dann. »Und ein paar Zeilen für Napoleon Bonaparte hat er auch entworfen. Sicher ist der Erste Konsul begierig darauf, sie zu lesen.«

    »Davon verstehen Sie nichts«, sagt Toussaint eisig. Der Kommandant zuckt mit den Schultern und wendet seine Aufmerksamkeit nun den Büchern zu, die Toussaint auf dem niedrigen Aufsatz des Sekretärs sorgsam gestapelt hat - die Letzten, die ihm noch geblieben sind. Mit spitzen Fingern greift der Offizier den zuoberst liegenden, in abgegriffenes Leder gebundenen Quart-Band, und mustert ihn. Dann sieht er zu Toussaint herüber, der sich mühsam aufgerichtet hat und schwer atmend auf den Rand der Schlafpritsche sitzt. »Die Bibel?«, fragt er. »Wofür brauchen Sie die denn? Dort wo Sie herkommen, pflegt man doch eher an Geister und Dämonen zu glauben.«

    Sie wissen nichts über meine Herkunft! will Toussaint rufen, doch dann hält er seine Empörung zurück. Das ist nur das alte schäbige Spiel, denkt er. Er will mich demütigen, will mich ausstoßen aus dem Kreis derer, die seiner vermeintlich überlegenen Kultur angehören dürfen. Die Choreografie dieses Erniedrigungsrituals ist Toussaint geläufig, seit er denken kann, aber die damit verbundene Intention trifft ihn immer noch tief. Dabei könnte er sich doch als überlegen empfinden, denn er, der getaufte Katholik, ist mit beiden Religionen bestens vertraut, so wie er beide Welten, die europäische und die afrikanische verinnerlicht hat. Er verspürt Lust, diesem kleingeistigen Popanz eine Lehre zu erteilen. »Und woran glauben Sie?«, fragt er.

    »Das möchten Sie wohl gerne wissen?« Der Kommandant tauscht einen konsternierten Blick mit dem Wächter aus. »Aber, warum nicht, ich will es Ihnen verraten. Wir glauben an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist.«

    Natürlich die Dreifaltigkeit. Eine andere Antwort hat Toussaint von diesem kreuzbraven, phantasielosen Menschen nicht erwartet. Aber ist dieses Bekenntnis nicht bloß eine andressierte Phrase? Schwelt dahinter nicht immer noch der alte, einst alle religiöse Erfahrungen speisende magische Glaube, den sie inzwischen abfällig Aberglauben nennen? Tatsächlich hat Toussaint noch keinen Franzosen getroffen, der die Existenz von Geistern und Dämonen nicht zumindest in Erwägung gezogen hätte. »Sehen Sie«, sagt er, »auch Sie glauben also an Geister.«

    »Das kann man doch nicht vergleichen!«, blafft ihn der Kommandant an. »Der Heilige Geist ist der gütige Gott in Person, nicht irgendeine Spukgestalt, die man mit albernen Ritualen beschwören kann ... «

    Toussaint lässt sich nicht beirren. »Ich möchte Ihnen noch ein Beispiel geben«, sagt er. „Haben Sie die Bibel gelesen?"

    »Was denken Sie denn? Wir befinden uns im christlichen Abendland, nicht in Afrika.«

    »Dann kennen Sie doch sicher die Geschichten von Jesus?« Toussaint ist aufgestanden und ein paar Schritte auf die beiden Männer zugegangen. »Zeigte sich Jesus nicht, kurz, nachdem sein Grab leer vorgefunden worden war, seinen Jüngern und Freunden in leibhaftiger Gestalt, bevor er zu seinem Vater, dem Schöpfer - zu Bondye - zurückkehrte? Oder denken sie an Gabriel, den strahlenden Götterboten, der Maria aufsuchte, um ihr die Empfängnis ihres Sohnes, des Messias, vorauszusagen. Überlegen Sie mal. Was waren diese Geschehnisse anderes als Geistererscheinungen? Voilà, daran erkennen Sie, dass es auch im Christentum gute Geistwesen gibt. Ein Katholik würde Engel oder Heilige zu ihnen sagen. Im Voodoo werden sie Rada Loa genannt. Ihre mächtigsten Vertreter heißen Ayida, Damballah und Legba, sie sind wohltätig und friedfertig, sind Vermittler zwischen Gott und den Menschen. Es gibt Auserwählte, Priester, die Ihnen helfen können, mit den Loas in Kontakt zu treten. Vielleicht könnte dies sogar einen besseren Menschen aus Ihnen machen?"

    »Allmächtiger«, der Kommandant bekreuzigt sich. Diese Reaktion und eine plötzliche Blässe im Gesicht des Wächters spornen Toussaint an »Im Unterschied zum Christentum«, redet er mit Enthusiasmus weiter, »ist es im Voodoo allerdings selbstverständlich, dass die Seelen der Verstorbenen nach dem Tode nicht nur im Jenseits, sondern auch in dieser Welt weiter existierten. Manche von ihnen befinden sich in einer parallelen Sphäre, die für den normalen Menschen unsichtbar und unzugänglich ist. Aber es gibt Übergänge, Verbindungen, gegenseitige Beeinflussungen. Wer diese Zusammenhänge versteht, kann sich ihrer bedienen ...«

    Das Rosa im Gesicht des Kommandanten ist inzwischen in ein intensiveres Rot übergegangen. »Genug davon!«, brüllt er.

    Er erträgt es nicht, von einem Gefangenen, den er zudem für den Angehörigen einer unterlegenen Rasse hält, derart vorgeführt zu werden, denkt Toussaint. Und noch dazu vor den Augen eines Untergebenen. Ist er vielleicht einen Schritt zu weit gegangen?

    »Das Buch ist konfisziert!« Der Kommandant drückt dem Wächter die Bibel in die Hand. »Dieser Mann ist der Heiligen Schrift nicht würdig.« Der Wächter nickt, sein Gesicht bleich wie ein Leintuch. »Aber er ist nicht nur ein dreister Blasphemist«, fährt der Kommandant fort, »er ist noch dazu extrem gefährlich, berüchtigt für zahlreiche skrupellose Morde, Plündereien, Brandschatzungen und andere furchtbare Gräueltaten!« Die Miene des Wächters verrät, dass die Worte des Vorgesetzten ihre Wirkung nicht verfehlen. Aber der Kommandant ist noch nicht fertig. »Und was noch viel schwerer wiegt«, stößt er hervor, »ist die Tatsache, dass er ein Verräter ist. Sein gesamtes Handeln in dieser unseligen Kolonie war durchdrungen von niederträchtigem Verrat ...«

    »Das ist nicht wahr!«, ruft Toussaint fassungslos vor Empörung. »Ich bin ein Kriegsgefangener, ein Soldat unter Arrest, aber kein Krimineller und schon gar kein Verräter.«

    »Wirklich nicht?« Der Kommandant tritt einen Schritt vor und baut sich bedrohlich vor Toussaint auf. »Waren Sie das nicht, der die Republik aufs schändlichste verriet, indem Sie sich anschickten, Saint Domingue in die Unabhängigkeit zu führen und damit die uneingeschränkte Macht auf der Insel an sich zu reißen? König wollten Sie werden und das um jeden Preis. Und dafür haben sie die Kolonie zweimal in einen furchtbaren Bürgerkrieg gerissen!«

    Noch bevor Toussaint widersprechen kann, wendet der Kommandant sich wieder dem Wächter zu und ruft: »Und nun sehen Sie, wie tief dieser primitive Charakter gestürzt ist. Und das ist gut so. Nun ist er genau dort, wo er immer hingehörte!«

    Ohne Toussaint eines weiteren Blickes zu würdigen, stürmt der Kommandant aus der Zelle. Fassungslos blickt Toussaint in das Gesicht des Wächters, in dem immer noch ein Rest von ängstlichem Respekt, zugleich jedoch eine große Portion Verachtung zu erkennen ist. Es hat keinen Zweck, denkt Toussaint, und spürt seine Erschöpfung. Niedergeschlagen wendet er sich ab, um sich auf sein Lager zu legen.

    Der Absatz des schweren Stiefels trifft Toussaint so unerwartet in den Rücken, dass er jäh aufschreit. Durch die Wucht des Stoßes stürzt er der Länge nach vornüber. Im Fallen reißt er das Essensgeschirr mit, das scheppernd neben ihm auf dem harten Steinboden landet. Besudelt mit glibberiger Grütze richtet Toussaint sich stöhnend auf. Da steht der Wächter und betrachtet sein Werk mit Genugtuung. »Verräter!«, ruft er ganz ohne Stottern, bevor er aus der Zelle eilt und die schwere Holztür hinter sich zuschlägt. Zurück bleibt der Schmerz in Toussaints geschundenem Körper und seine ohnmächtige Wut.

    Während der Schmerz nicht abklingen will, schleppt Toussaint sich zur Pritsche und legt sich vorsichtig hin. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, denkt er bitter, welch grandiose Heuchelei. Gewiss, er ist ein Kriegsgefangener, eine Geisel, und kann nicht hoffen, mit Samthandschuhen angefasst zu werden. Aber hier ist offenbar noch etwas anderes im Spiel. Einen Verräter hat der Kommandant ihn genannt, einen skrupellosen Mörder, einen gefährlichen Banditen. Sie wollen ihn entehren und sein Andenken für immer besudeln! Dabei sind sie doch die wahren Verräter.

    Aber der Vorhang ist noch nicht gefallen. Und daher muss er diese Demütigung jetzt vergessen und sich wieder ganz auf die Vorbereitung des bevorstehenden Tribunals konzentrieren. Auf den Besuch Caffarellis, eines Gesandten Napoleons, der sich für die nächsten Tage angekündigt hat, um ihn zu befragen. Vermutlich werden seine Widersacher versuchen, ihn als korrupten Kriegsverbrecher dastehen zu lassen, so wie es in den schäbigen Anschuldigungen des Kommandanten bereits angeklungen ist. Aber das wird er nicht zulassen. Wenn es ihm gelingt, der Wahrheit Geltung zu verschaffen, die Intrigen seiner Gegner zu entlarven und die Motive seines eigenen Handelns darzustellen, ist seine Sache vielleicht noch nicht verloren. Vorsichtig dehnt er seinen immer noch schmerzenden Körper und versucht auf dem harten Lager eine leidlich erträgliche Position zu finden. Er muss nachdenken, das Für und Wider der möglichen Verteidigungsstrategien gegeneinander abwägen. Aber, so sehr er sich bemüht, es gelingt ihm nicht, seine Gedanken zu sammeln. Der pochende Schmerz in seinem malträtierten Rücken saugt ihm alle Energie aus dem Hirn. Entmutigt lässt er seinen Blick über die Zellendecke gleiten, auf den Wechsel von Licht und Schatten, den das Kaminfeuer auf die raue Oberfläche projiziert. Konturlose tanzende Formen - hell, dunkel, hell, dunkel - vergänglich wie das Leben und in fließender Dynamik doch so stabil - hell, dunkel, hell - chaotischer Rhythmus ... Seine Gedanken verlieren sich, werden unbestimmt und flüchtig, der Schmerz klingt ab und sein Atem wird ruhiger. Eine bleischwere Müdigkeit ergreift von ihm Besitz und zieht ihn immer tiefer herab.

    Als Toussaint mit kühlem Schweiß auf der Haut erwacht, ist das Feuer im Kamin längst erloschen. Es muss bereits gegen Mitternacht sein. Er richtet sich auf und stellt fest, dass auch der Schmerz zur Ruhe gekommen ist. Als er in die Tiefe des kalten nur von einem Kerzenstummel spärlich beleuchteten Kerkers starrt, ahnt er eine Bewegung. Und tatsächlich, vor ihm steht eine Gestalt. Es ist so dunkel, dass er ihr Gesicht kaum erkennen kann. Sie bewegt sich nicht, steht ruhig in der Mitte des Raumes. Schweigend, schauen sie sich an. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, erkennt er eine junge Frau. Je länger er die unverhoffte Besucherin anblickt, desto deutlicher erscheinen ihre Gesichtszüge, die ihm nun immer vertrauter vorkommen. Jetzt erkennt er auch das gemusterte Kleid. Ihre letzte Begegnung liegt Jahre zurück, aber kein Zweifel, sie ist es! Bon dieu! Du siehst furchtbar aus, sagt sie. Was haben die mit dir gemacht? Ihr Gesicht ist voller Sorge und er empfindet ein lang vermisstes Gefühl von Geborgenheit und Nähe.

    Sie reden eine Weile. Wieder ist es dieses Frage-Antwort-Spiel, das er bereits von ihren früheren Begegnungen kennt, auch dieses Mal will sie alles genau wissen. Sie wolle ihn kennen lernen, ihn besser verstehen, hat sie ihm einmal erklärt und er fand das plausibel. Er selbst weiß nicht, wer sie ist und woher sie kommt, er hat sich immer zurückgehalten, sie zu fragen, vielleicht, weil er fürchtete, sie damit zu vertreiben. Aber er spürt, dass er ihr vertrauen kann und das genügt ihm. Sie reden. Über alles, was ihm seit ihrem letzten Gespräch widerfahren ist. Und das ist so viel, dass ein einzelner Mensch es kaum in seiner Erinnerung bewältigen kann.

    »Es ist so gut, dass du gerade jetzt gekommen bist«, sagt er. »Leider befinde ich mich in einem erbärmlichen Zustand. Oft fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren und das Gespräch mit dir hilft mir, meine Gedanken zu ordnen. Vor dem Tribunal brauche ich einen klaren Kopf dringender denn je. Meine Mission steht auf Messers Schneide und vermutlich ist dieser Prozess meine letzte Chance, du weißt, was ich meine.« »Oh ja«, sagt sie, »ich weiß genau, was du meinst« »Man hat mir den Besuch von General Caffarelli angekündigt«, fährt er fort, »Auch er wird mich befragen, es heißt, um das bevorstehende Tribunal vorzubereiten. Aber ich muss auf der Hut sein, denn sicher wird er versuchen, mich aufs Kreuz zu legen.« »Caffarelli«, sagt sie und nickt, als sei ihr dieser Name geläufig, »ja, natürlich ...« Und dann stellt sie diese unheilvolle Frage, die ihn in den letzten Tagen schon manches Mal gequält hat, meistens dann, wenn das Gefühl der Ausweglosigkeit kurz davor war, ihn zu überwältigen: Aber was wird geschehen, wenn es kein Tribunal geben wird?

    Doch noch bevor Toussaint ihr zurufen kann, dass dieser Fall nicht eintreten darf, weil das gleichbedeutend sei mit dem endgültigen Scheitern seiner Mission, mit dem Triumph seiner Feinde, mit seiner Vernichtung, beginnt ihre Gestalt zu verblassen, wird schemenhaft, ätherisch und ist schließlich ganz verschwunden. Wie gebannt starrt er auf die Stelle, wo sie eben noch gestanden hat, als die heruntergebrannte Kerze ein letztes Mal flackert, um dann endgültig zu erlöschen.

    Aber was wird geschehen, wenn ...?

    Nein, soweit darf es nicht kommen! Mit größter Mühe rafft er sich auf und schleppt sich zu dem Sekretär, dessen Umrisse er im Dunkeln gerade noch erkennen kann. Mit beiden Armen greift er unter das Möbelstück und lässt seine Hände behutsam über das glatte Holz der Unterfläche streichen. Als er den hölzernen Griff in der kleinen Vertiefung findet und vorsichtig daran zieht, öffnet sich das Geheimfach mit einem leisen Klicken. Mit Genugtuung stellt er fest, dass das Manuskript mit seinen Memoiren noch an Ort und Stelle ist. Gleich, nachdem sie ihn hier eingelocht haben, hat er begonnen, den wahren Ablauf der Ereignisse akribisch zu Papier zu bringen. Über Wochen und Monate hat er seine gesamte mentale Energie zusammengenommen und alles wieder rekonstruiert. Von früh bis spät hat er daran gesessen, jedes Wort sorgfältig abgewogen, bevor es die Feder auf das Papier bannte. Noch ist der Text ein Fragment, aber er hat sich fest vorgenommen, ihn noch vor Caffarellis Besuch abzuschließen. Und wenn er schließlich vor dem Tribunal steht, wird er das verlässliche Fundament seiner Verteidigung sein.

    Als er das Manuskript aus dem Fach nehmen will, fällt sein Blick auf das Päckchen aus grobem Leinenstoff, das darunter liegt. Es ist der Nachlass seines Vaters, zugleich dessen Vermächtnis. Kurz vor seinem Tod hat er es ihm übergeben. Wenn die Zeit gekommen ist, hat der alte Gaou Guinou gesagt, wirst du erkennen, wofür du es verwenden musst. Er war ein Houngan, ein angesehener Priester der alten Religion, der wusste, wovon er sprach. Aber Tousssaint hat zeit seines Lebens an der Macht dieser Praktiken gezweifelt. Denn die Loas erschienen ihm stets zu launisch und wankelmütig, so dass er stattdessen der Vernunft und der Klarheit des Verstandes den Vorzug gegeben hat. Aber was, wenn es doch wirkt? Er fingert das Päckchen aus dem Fach, überlegt, ob er es aufwickeln soll. Könnte das uralte Ritual am Ende doch die Wende bringen?

    Aber da fällt sein Blick auf die Memoiren und er verwirft den Gedanken. Er stopft das Leinenpäckchen in das Geheimfach zurück. Behutsam, zärtlich streicht er über das glatte Papier des Manuskripts. Ich muss jetzt schlafen, denkt er, zur Ruhe kommen, damit ich morgen weiter an meiner Verteidigung arbeiten kann, muss meine Kräfte zusammenzuraffen, weitermachen, durchhalten. Es ist kalt, viel zu kalt, in dieser mörderischen Zelle.

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    4. Januar 2010

    Gregor beugte sich vor, um die Wunde zu betrachten. Der Schnitt war klein, aber blutete stark. Im Spiegelschrank fand er ein Papiertaschentuch und drückte es fest auf sein Kinn. Nun würde es eine Weile dauern, bis die Blutung stand, erst danach konnte er die Rasur abschließen. Geduscht hatte er auch noch nicht. Wenn das so weiterging, würde er den Zug um halb acht verpassen.

    »Alles in Ordnung?« Barbara streckte ihren adrett frisierten Kopf durch die spaltweit geöffnete Badezimmertür. Sie war bereits fertig und bestens gelaunt. »Was gibt’s zu fluchen?«

    Wenn er jetzt das Gesicht bewegte, würde die Blutung wieder stärker. Also schwieg er und zuckte genervt mit den Schultern. Sie sah ja selbst, was Sache war.

    »Hauptsache, das ist nächste Woche wieder verheilt«, sagte sie mit einem Augenzwinkern, »da möchte ich nämlich mit dir ausgehen – und zwar ohne Kampfwunden im Gesicht.«

    Gregor überlegte, worauf sie anspielte. Ihr Lächeln erlosch und sie sah ihn prüfend an: »Sag bloß, du hast es vergessen?«

    In Gedanken ging er die Tage der nächsten Woche durch. Natürlich, am Dienstag war ihr Hochzeitstag! So nannten sie es zumindest. Denn eigentlich waren sie gar nicht verheiratet. Da die Hochzeit perfekt sein sollte, hatten sich die Planungen als komplex und anspruchsvoll erwiesen und sie hatten den Termin im Trott ihres Alltags immer wieder verschoben. Schließlich hatten sie den lange zurückliegenden Tag, an dem sie feierlich die Verlobungsringe getauscht hatten, zu ihrem Ersatzhochzeitstag erklärt. Dieses Jahr war es der fünfzehnte, also etwas Besonderes. Gregor hob die Hand mit dem Ring und setzte ein konspiratives Gesicht auf. Barbara nickte erleichtert.

    »Ich hol dir ein Pflaster, Schatz«, sagte sie und verschwand im Flur. Sie konnte so fürsorglich sein, wenn sie sich mit ihm entspannt fühlte. Leider war das immer seltener der Fall.

    Als sie wieder ins Badezimmer kam, stand die Blutung bereits. Beinah zärtlich legte sie ihm das kleine Pflaster aufs Kinn und drückte es behutsam an. Er bemerkte, wie ihre großen, akkurat geschminkten Augen sein Gesicht abtasteten, als gäbe es dort etwas Besonderes zu entdecken. »Steht dir gut«, sagte sie schließlich. Gregor verstand nicht recht. Das Pflaster konnte sie wohl kaum gemeint haben. »Du hast etwas Sonne getankt«, erklärte sie. »Aber ich muss jetzt wirklich los. Wir seh‘n uns heut Abend!« Schon war sie wieder im Flur. »Ich bin nach der Klinik mit Peter verabredet «, rief er hinter ihr her, »könnte sein, dass es später wird.« Aber da fiel schon die Wohnungstür ins Schloss.

    Durch das beschlagene Fenster blickte Gregor nach draußen in den stockdunklen Wintermorgen. Sonne getankt? Wann bitte soll das gewesen sein? Er warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel, aber das einzige, was ins Auge fiel, war das hellbeige Pflaster.

    Im Regionalexpress der übliche Trübsinn: Zu viele Menschen, zu schlechte Luft und zu wenig Sitzplätze. Wie durch ein Wunder hatte Gregor noch einen ergattert. Vor ihm stand eine junge hochschwangere Frau. Muslimin, wie er aufgrund des Kopftuchs vermutete. Ihr feines, aber erschöpftes Gesicht berührte ihn eigentümlich. Sollte er ihr seinen Platz anbieten? In diesem Moment kündigte eine Durchsage den nächsten Zwischenstopp an und die Schwangere quetschte sich an den übrigen Fahrgästen vorbei Richtung Ausgang. Nachdenklich sah Gregor ihr nach. Aufgrund widriger Umstände waren Barbara und er kinderlos geblieben und ihre Beziehung, die einst so innig und getragen durch gegenseitige Faszination begonnen hatte, glich längst einer faden Routineübung. Und das galt in gewisser Weise für ihr ganzes Leben. Seitdem Barbara vor fünf Jahren zur Leiterin des Controllings eines mittelständischen Unternehmens für Haarpflegeprodukte und Friseurbedarf aufgestiegen war, stagnierte ihre Karriere und auch Gregors Beförderung zum Oberarzt der psychiatrischen Universitätsklinik lag schon vier Jahre zurück. Kurzum, ihr Alltag war durch viel Gleichförmigkeit und wenig Höhepunkte gekennzeichnet. Und so hatte Gregor manchmal den Eindruck, die sich zwischen Barbara und ihm immer häufiger entzündenden kleinlichen Streitereien dienten ihnen unbewusst dazu, der emotionalen Verödung durch den Auf- und Abbau konflikthafter Spannung etwas Würze zu geben. Und nun hätte er beinahe noch ihren fünfzehnten Hochzeitstag vergessen! Ein angemessenes Geschenk hatte er auch noch nicht. Aber noch blieben ihm ein paar Tage. Dem Anlass entsprechend sollte es etwas Besonderes sein. Irgendetwas jenseits der faden Alltagsroutine. Keine einfache Aufgabe.

    Gregors Blick blieb an einer Reklametafel hängen, die mit Palmen und glücklichen jungen Menschen für Reisen in die Karibik warb. Eine Reise? Konnte man eine Reise zum Hochzeitstag verschenken? Schon. Allerdings gab es da ein Problem: Im Gegensatz zu Barbara hasste Gregor Fernreisen. Daher waren die Meinungsverschiedenheiten um die Gestaltung des gemeinsamen Urlaubes, neben den vielen anderen alltäglichen Scharmützeln, zu einem wiederkehrenden und regelmäßig unlösbaren Streitfall geworden. Entnervt hatten sie diese banalen aber gleichwohl frustrierenden Kämpfe schließlich aufgegeben und waren als Folge der offensichtlichen Unvereinbarkeit ihrer Bedürfnisse gar nicht mehr zusammen verreist. Sie wäre vor Freude überwältigt, wenn er sie nächste Woche mit einer gemeinsamen Fernreise so ganz nach ihrem Geschmack überraschen würde. Von dieser Vorstellung ganz und gar eingenommen beschloss Gregor, über seinen Schatten zu springen. Als Zeichen seines guten Willens, sozusagen, aber auch als Geste der Wiedergutmachung - als strahlender Beweis seiner Liebe. In der Nähe des Klinikums gab es ein Reisebüro, an dem er täglich vorbeilief. Gleich nach Feierabend würde er dorthin gehen und sich beraten lassen. Zufrieden mit seinem Plan lehnte er sich zurück, während der Zug im Hauptbahnhof einlief.

    In der Nacht hatte es heftig geschneit und wie üblich war der Zugangsweg zum Haupteingang der Klinik weder vom Neuschnee geräumt, noch war gestreut worden. Es kam einem Wunder gleich, dass hier bislang weder Patienten noch Klinikmitarbeiter gestürzt waren. Dies war nur einer der zahlreichen organisatorischen Missstände, die Gregor seit Jahren gegenüber der Verwaltung des Klinikums zur Sprache brachte. Vergeblich. Seine Stimmung, die sich mit der Idee der gemeinsamen Urlaubsreise etwas aufgehellt hatte, begann wieder zu kippen. Lustlos betrat er die schmucklose Eingangshalle des Klinikgebäudes, das im Grundriss der Figur einer barocken Schlossanlage mit Ehrenhof entsprach. Das Irrenschloss, wie die Klinik in früheren Zeiten von den Bürgern der Stadt betitelt worden war, war allerdings stark sanierungsbedürftig.

    Durch den in trostloses Neonlicht getauchten Hauptgang steuerte Gregor auf den im Westteil der Klinik gelegenen Hörsaal zu. Dort fand täglich die Frühbesprechung der Klinikärzte statt. Die Sitzordnung war ungeschriebenes Gesetz. In der ersten Reihe, auf dem rechtsseitig direkt am Mittelgang des Auditoriums angrenzenden Klappstuhl pflegte traditionsgemäß der Direktor zu sitzen. Wenn dieser einmal nicht im Hause war - was in der letzten Zeit häufiger vorkam, da der neue Direktor die Klinik auf internationalen Kongressen repräsentierte - blieb der Platz frei und allein seine Leere mahnte die Anwesenden an die stete Präsenz ihrer dienstlichen Führung. Neben dem Direktor die Oberärzte – streng geordnet nach Rang und Dienstalter. In den Reihen dahinter saßen in loser Formation etwa zwanzig Assistenzärzte und Psychologen, die den Mittelbau der Klinikhierarchie bildeten.

    Die Veranstaltung folgte einem strengen Ritual, dessen Choreografie sich vermutlich über viele Ärztegenerationen hinweg unhinterfragt konserviert hatte. Der diensthabende Oberarzt stand mit ernster Miene an einem altmodischen Rednerpult. Vor ihm lag das geöffnete großformatige Aufnahmebuch, in das er gelegentlich handschriftliche Einträge machte. Wie ein eifriger Kadettenschüler berichtete ein bleicher Assistenzarzt im Telegrammstil über Aufnahmen und besondere Vorkommnisse der vergangenen Nacht. Weil die Klinik eine Aufnahmepflicht für einige sozial schwierige Bezirke der Metropole erfüllen musste, war die Liste der Ereignisse lang und der Assistenzarzt entsprechend übernächtigt. Der monoton heruntergeleierte Vortrag über intoxikierte Drogenabhängige, tobende Psychotiker, Suizidversuche und ähnlich bedrückende Fälle wurde akustisch vom permanenten Knarren der antiquierten Klappstühle überlagert, so dass Gregor oft nur die Hälfte des Rapports verstehen konnte. Regelmäßig schaltete er daher schon nach dem zweiten Fallbericht ab und überließ sich seinen Gedanken. Besonders informativ waren die Patientenvorstellungen ohnehin nicht, da die Kürze der Zeit kaum mehr mitzuteilen gestattete, als den Namen der Station, auf die der Patient verbracht worden war, und die Zuordnung eines diagnostischen Etiketts.

    Als Gregor den Hörsaal heute wenige Sekunden vor Beginn der Veranstaltung betrat, war das Knarren der Klappstühle merklich lauter und es klang eine Spur gereizter als sonst. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Anspannung im Kollegium überdurchschnittlich hoch war. Ihm fiel ein, dass der Direktor für heute eine Neujahrsansprache angekündigt hatte – eine Art programmatische Rede, in der er den zukünftigen Kurs der Klinik bekanntgeben wollte.

    Und tatsächlich - abweichend vom gewohnten Ablauf - trat der Direktor als erster an das Rednerpult, der Kittel strahlend weiß, die quergestreifte Krawatte akkurat gebunden. Der markante Eindruck wurde durch die dickrandige Brille unterstützt, die seinem Blick Entschlossenheit verlieh. Nur sein glattes, knabenhaftes Gesicht, stand in einem merkwürdigen Kontrast zu dem souveränen Gesamteindruck.

    »Kolleginnen und Kollegen«, rief er. Das Knarren der Klappstühle verebbte schlagartig. »Zunächst will ich nicht versäumen, Ihnen ein gutes Neues Jahr zu wünschen. Es wird ein Jahr, an das Sie noch lange zurückdenken werden. Damit Sie das verstehen, muss ich etwas ausholen.« Die ungeteilte Aufmerksamkeit des Auditoriums war ihm nun gewiss und er blickte gravitätisch in die Runde. »Schwere Sorgen lasten auf unserer altehrwürdigen Klinik«, fuhr er fort, »und

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