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Annie Besant: Weisheit und Wissenschaft - Die Biographie
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Annie Besant: Weisheit und Wissenschaft - Die Biographie
eBook500 Seiten5 Stunden

Annie Besant: Weisheit und Wissenschaft - Die Biographie

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Über dieses E-Book

Annie Besant ist weltweit bekannt als langjährige Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft und Wegbereiterin der indischen Unabhängigkeit. Gleichzeitig war sie eine wissenschaftliche Vordenkerin, die seit ihrer Studienzeit an der Sorbonne in Paris neue Einsichten auf den Gebieten der Physik und Chemie entwickeln half. Sie nahm in beiden Fachbereichen Erkenntnisse der Gegenwart um Jahrzehnte vorweg.
In dieser Biographie wird erstmals der Wissenschaftlerin und Gesellschaftsreformerin Annie Besant gebührende Aufmerksamkeit gewidmet, um nachzuweisen, welche befruchtende Synthese Theosophie und Naturwissenschaft einzugehen vermögen!

SpracheDeutsch
HerausgeberAquamarin Verlag
Erscheinungsdatum10. Nov. 2020
ISBN9783968612072
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    Buchvorschau

    Annie Besant - Muriel Pécastaing-Boissière

    Muriel Pécastaingt-Boissière

    Annie Besant

    Weisheit und Wissenschaft

    Die Biographie

    Aus dem Französischen übersetzt

    von Dr. Edith Zorn

    Aquamarin Verlag

    Titel der Originalausgabe: Annie Besant (1847 - 1933)

    La lutte et la quête

    © 2015

    published by Edition Adyar, Paris

    Deutsche Ausgabe:

    1. eBook-Auflage 2020

    © Aquamarin Verlag GmbH

    Voglherd 1

    85567 Grafing

    www.aquamarin-verlag.de

    Übersetzung aus dem Englischen: Dr. Edith Zorn

    Umschlaggestaltung: Annette Wagner

    ISBN 978-3-96861-207-2

    Inhalt

    Vorwort

    Kapitel 1 · Kindheit, Erziehung und Heirat: Vom Konformismus zur spirituellen und moralischen Krise (1847-1874)

    Ihr Vater

    Ihre Mutter

    Der Tod des Vaters

    Harrow

    Ihre Erziehung: Ellen Marryat

    Zurück in Harrow

    Erste religiöse Zweifel

    Manchester: Entdeckung des irischen Radikalismus und Nationalismus

    Ehefalle

    Traumatische Entdeckung der Sexualität

    Cheltenham: Einsamkeit und Langeweile

    Geburt der Kinder

    Erste Veröffentlichungen

    Unterstützung der Landarbeiter von Lincolnshire

    Verlust ihres christlichen Glaubens

    Theismus

    Ultimatum und Trennung

    Finanzielle Schwierigkeiten

    Tod der Mutter

    Pamphletistin für Thomas Scott

    Kapitel 2 · Kampf für die Säkularisation und das Freidenkertum (1874-1890)

    Religiöser Hintergrund

    Viktorianische spirituelle Krise

    Annie Besants Theismus

    Auf dem Weg zum Atheismus

    Atheistin oder Agnostikerin?

    Die National Secular Society

    Charles Bradlaugh

    Die Freundschaft zwischen Annie Besant und Charles Bradlaugh

    Leitartikler für den National Reformer

    Rednerin

    Der Weg vollkommenen Einsatzes

    Kampf für die Bürgerrechte der Atheisten

    Kapitel 3 · Kampf für die Rechte der Frau (1874-1933)

    Verurteilung der Stellung der viktorianischen Frau

    Verurteilung der Prostitution

    Kampf für die Redefreiheit zur Geburtenkontrolle

    Verlust des Sorgerechts für ihre Tochter

    Kampf um die Erlangung eines Hochschulabschlusses

    Kampf für die Gleichheit der Bürgerrechte

    Kampf an der Seite der Suffragetten

    Theosophie und Feminismus

    Kampf für ein gemischtes Freimaurertum

    Kampf für die Rechte der indischen Frauen

    Kapitel 4 · Kampf gegen die politische und soziale Ungleichheit: Vom Radikalismus zum Sozialismus (1874-1890)

    Annie Besants politische Kämpfe innerhalb der radikalen Bewegung

    Forderung nach Agrarreformen

    Neo-Malthusianismus und die Frage nach dem Ursprung der Armut

    Vertrauenskrise in der liberalen Partei

    Bereits organisierte progressive Kräfte: Neuer Radikalismus, Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegungen

    Sozialistischer Aufbruch der 1880er Jahre

    Annahme des Sozialismus (1883-1884)

    Sozialistische Essays oder die Neugestaltung der Gesellschaft

    Rechtfertigung des Sozialismus mithilfe der Evolutionstheorie

    Annie Besant und die Fabian-Gesellschaft (1885-1890)

    Arbeitslosenunterstützung und Verteidigung der Redefreiheit

    The Link (Februar-Dezember 1888)

    Streik der Zündholzfabrikarbeiterinnen bei Bryant & May (Sommer 1888)

    Gewerkschaftsbewegung

    SDF-Mitgliedschaft und Teilnahme am internationalen Arbeiterkongress (Paris, 1889)

    Die Wahl in den London School Board (LSB)

    Rückzug ohne Gesinnungswechsel

    Kapitel 5 · Annie Besant, die Theosophin (1889-1933)

    Die Theosophische Gesellschaft im Jahre 1889

    Annie Besants ethische Probleme vor 1889

    Annie Besant und das Streben nach universeller Bruderschaft vor 1889

    Annie Besant und die östliche Spiritualität vor 1889

    Annie Besants · wissenschaftliche Fragen vor 1889

    Entdeckung der Geheimlehre

    Reaktionen auf Annie Besants Hinwendung zur Theosophie

    Ausschluss aus der National Secular Society (1891)

    Rascher Aufstieg innerhalb der Theosophischen Gesellschaft (1889-1891)

    Das Welt-Parlament der Religionen von Chicago (1893)

    Benares (1895-1907)

    Präsidentschaftswahl der Theosophischen Gesellschaft (1907)

    Annie Besant – unermüdliche Missionarin der Theosophie

    Wissenschaftliche Untersuchungen der Theosophin Annie Besant

    Annie Besants theosophische Ethik

    Annie Besants theosophische Mystik

    Der Weg des Handelns

    Krishnamurti

    Kapitel 6 · Kampf für die Autonomie Indiens (1895-1933)

    Das Britische Empire

    Der Raj

    Die „Monster Petition" von 1876

    „Plädoyer für die Schwachen gegen die Starken" (1879)

    Die Theosophen in Indien vor 1893

    Erste Begegnung zwischen Annie Besant und Gandhi

    Für eine spirituelle und kulturelle Renaissance Indiens

    Annie Besants Erziehungsreformen in Indien

    Indien und Irland

    Annie Besant zwischen Gemäßigten und Extremisten (1905-1915)

    Annie Besants Pläne für ein selbstbestimmtes Indien

    Politisches Engagement für die Autonomie Indiens

    Annie Besants Home Rule League (1915-1919)

    Annie Besants Hausarrest

    Präsidentin des Indischen Nationalkongresses, Dezember 1917

    Government of India Act 1919 und der Rowlatt Act

    Gandhis Übernahme der Nationalbewegung im Jahre 1919

    Die britische Seite von Annie Besants Kämpfen für die Autonomie Indiens

    Annie Besants Kampf für eine indische Verfassung (1924-1925)

    Annie Besant und die Nehru-Kommission (1928)

    Tod und Bestattung von Annie Besant

    Nachwort

    Danksagung

    Anmerkungen

    Bibliographie

    Vorwort

    Es ist unmöglich, sich mit dem Viktorianischen Zeitalter auseinanderzusetzen, ohne früher oder später auf den Namen Annie Besant zu stoßen. Als ich vor zwanzig Jahren an meiner Doktorarbeit über die soziale Stellung der viktorianischen Schauspielerinnen¹ arbeitete, begegnete mir dieser Name im Zusammenhang mit dem Dramaturgen George Bernhard Shaw, an dessen Seite sich Annie Besant für die Fabian-Gesellschaft eingesetzt hatte, zum ersten Mal. Später, als Dozentin für britische Kultur an der Sorbonne, stieß ich bei den Vorbereitungen für meine Vorlesungen über das 19. Jahrhundert erneut auf diese Frau an der Seite der Arbeiter aus den Armenvierteln Londons. Es war die Zeit der großen Aufstände Ende der 1880er oder der Suffragetten, die kurz vor dem ersten Weltkrieg für das Frauenwahlrecht kämpften. Bei näherer Betrachtung der Situation der viktorianischen Frau stieß ich auf Annie Besants bahnbrechenden Kampf in den 1870ern, um Zugang zu Informationen über die Geburtenkontrolle zu gewinnen. Dies allein machte sie bereits zu einer bemerkenswerten Frau ihrer Zeit.

    Mein Interesse an Annie Besant stieg, als ich beschloss, meine akademischen Recherchen neu auszurichten, um die verkannten oder unterschätzten Verbindungen innerhalb der sozialistischen Bewegungen im ausgehenden Viktorianischen Zeitalter, den Feminismus und die geistige Erneuerung dieser Periode zu erforschen. Ich entdeckte das Ausmaß des Weges, der Annie Besant nach einer tiefen religiösen Krise vom Kampf für den Laizismus über den Sozialismus zur Theosophie und den indischen Nationalismus geführt hatte. Ich begann, die Zusammenhänge und die Logik ihres Werdegangs im Rahmen ihrer Epoche herauszuarbeiten und wurde immer wieder aufs Neue überrascht.

    Ich entdeckte, dass Annie Besant, weit davon entfernt, ihre sozialen, politischen und feministischen Kämpfe aufzugeben, diese als Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft in Indien weiterverfolgte, indem sie sich aktiv an die Seite der indischen Nationalisten stellte. Verblüfft fand ich heraus, dass Annie Besant 1917 – eine Frau, eine Engländerin und eine Theosophin – zur Präsidentin des indischen Nationalkongresses gewählt worden war, in dem sie mehr Einfluss als Gandhi besaß. Ebenso sehr erstaunte mich die Entdeckung, dass der Philosoph Jiddu Krishnamurti ihr ‘Adoptivsohn’ war.

    In den beiden Hauptbiographien über Annie Besant, die 1960-1963 von Arthur Nethercot² und 1991 von Anne Taylor³ in englischer Sprache verfasst wurden, wird ihre Hinwendung zur Theosophie als der letzte ideologische und persönliche Bruch einer Frau geschildert, deren gesamter Werdegang von diesen beiden Historikern als bruchstückhaft betrachtet wird. Beiden gelingt es nicht, die Verbindung zwischen ihrem Freidenkertum, ihrem Sozialismus, ihrem Feminismus, ihrer Kritik am Empire und ihrer Bejahung der theosophischen Prinzipien herzustellen. Hinzu kommt, dass diese beiden Werke unter psychologisierenden, sogar frauenfeindlichen Interpretationen und, im Hinblick auf die Theosophie, unter einseitigen Vorurteilen leiden. Gleichzeitig wurde mir bewusst, dass es keine umfassende Biographie in französischer Sprache gab.

    Ich beschloss, diesem Umstand Abhilfe zu schaffen und die einzelnen Etappen des langen Lebens von Annie Besant in ihrem moralischen, sozialen und spirituellen Kontext neu darzulegen und mich dabei weitgehend auf ihre eigenen Aufzeichnungen zu stützen. Die vorliegende Arbeit ist das Resultat dieser Entscheidung, die ich im Laufe meiner Recherchen und des Schreibens keinen Augenblick bereut habe, da mich die Kämpfe und die Suche Annie Besants nicht aufhören zu faszinieren.

    Kapitel 1

    Kindheit, Erziehung und Heirat: Vom Konformismus zur spirituellen und moralischen Krise (1847-1874)¹

    „Ich wurde in Hörweite der Bow-Glocken geboren, stellte Annie Besant bereits in den ersten Zeilen der Autobiographie klar, die sie in ihrer Lebensmitte verfasste. Mit dieser beliebten Redewendung in Bezug auf eine Kirche im Stadtviertel von Cheapside definierte sich Annie Besant als wahre Londonerin. Ihre irischen Wurzeln, von denen sie nicht ohne Stolz berichtete: „Ich habe gut dreiviertel irisches Blut, schmälerten diese Identität nicht. 1847, als Königin Viktoria bereits zehn Jahre über „ein Empire, in dem die Sonne niemals untergeht" regierte, war die britische Hauptstadt ein gigantischer kosmopolitischer Schmelztiegel, in dem sich alle Klassen, alle Völker, alle Ideologien, alle Geistesströmungen Seite an Seite bewegten – ohne sich unbedingt zu begegnen – und in der eine ungewöhnliche Meinungsfreiheit herrschte, die zahlreiche politische Exilanten genossen.

    Dort erblickte Annie Wood das Licht der Welt am 1. Oktober 1847. Sie war eine Tochter dieser Stadt aller Möglichkeiten, dieser ersten Weltstadt, die ihr, der viktorianischen Frau aus der Mittelschicht mit ihrem Konformismus und ihren moralischen Zwängen, so viele entscheidende Begegnungen, intellektuelle Aufgeschlossenheit und unverhoffte Entscheidungsmöglichkeiten bieten sollte. Es war London, in das sie sich zurückzog, als sie ihrem Mann, dem Pastor Frank Besant, entfloh. Es war London, wo sie Charles Bradlaugh und Madame Blavatsky, zweifellos die beiden wichtigsten Gestalten in ihrem Leben, begegnete. Es war London, wo sie bis 1893 ihre größten Kämpfe für die Freidenker, die Frauenrechte und die Arbeiterklassen führte.

    Ihr Vater

    Wie die meisten Bewohner der Stadt, damals wie heute, wurden die Eltern von Annie Besant nicht in London geboren. Ihr Vater, William Wood, besaß dort jedoch einflussreiche Familienbande. Annie Besants Großonkel, Matthew Wood, war 1815 und 1816 Bürgermeister von London und saß von 1817 bis zu seinem Tod, im Jahr 1843, im Unterhaus. Seine Unterstützung von Königin Caroline im Scheidungsprozess gegen König George IV. im Jahre 1820 und sein Schuldenmanagement für den Herzog von Kent, den Vater von Königin Viktoria, trugen ihm den Titel eines Ritters ein. Sein jüngster Sohn, Sir William Wood, Annie Besants Cousin, war von 1868-1872 Justizminister der liberalen Regierung von William Gladstone.

    Annies Großvater väterlicherseits, Robert Wood, entstammte dem weniger erfolgreichen Familienzweig. Verheiratet mit einer katholischen Irin, Emily Truman, ließ er sich in Galway nieder. Dort wurde Annies Vater geboren. William Wood studierte Medizin am Trinity College in Dublin. Einer seinen reichen Verwandten bot ihm eine Stellung in der City von London an, zu einem Zeitpunkt, als sich die Stadt zum Finanzzentrum der Welt entwickelte. Der junge Familienvater zögerte nicht, Geschäftsmann zu werden. London zählte damals mehr als zweieinhalb Millionen Einwohner, was die Stadt zu einem der bevölkerungsreichsten, aber auch ausgedehntesten Orte der Welt machte, der sich über fünfundzwanzig Kilometer von Ost nach West erstreckte. 300.000 Menschen ließen sich dort allein in den 1840ern nieder, darunter William Wood und seine Familie.

    Da sich Irland in einer schrecklichen wirtschaftlichen Lage befand, wurde der Umzug der Familie nach London von Annie Besant als sinnvolle Karrieremöglichkeit ihres Vaters dargestellt. Irland, damals Bestandteil des Vereinigten Königreichs, war seit 1845 einer entsetzlichen Hungersnot ausgesetzt, da seine archaische Agrarverfassung der Kartoffelkrankheit, dem Grundnahrungsmittel der armen Landbevölkerung, nichts entgegenzusetzen wusste. Zwischen 1845 und 1852 verhungerten eine Million Iren. Mindestens ebenso viele wanderten aus. Sie gingen in die Vereinigten Staaten, nach Kanada oder Australien, aber auch in die großen Industriestädte Englands und nach London, wo mehr als 45.000 ankamen, unter ihnen viele, deren Lage weitaus prekärer war als die von William Wood.

    In ihren Memoiren beschrieb Annie Besant ihren Vater als begeisterten Anhänger der Mathematik, der klassischen Literatur und der Philosophie. Ihrer Aussage nach sprach er fließend Französisch, Deutsch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch und beherrschte die Grundzüge der hebräischen und gälischen Sprache. Trotz – oder vielleicht wegen der strikten katholischen Prinzipien seiner irischen Mutter – stand William Wood der christlichen Religion skeptisch gegenüber und zögerte nicht, offen über sie zu spotten. Unverkennbar zeichnete Annie Besant indirekt ein Selbstporträt, wenn sie ihren Vater, den sie kaum kannte, so beschrieb: Auf der Suche nach dem Ursprung ihrer eigenen intellektuellen Wissbegier, ihrem Forschungsdrang und ihrer Ablehnung der etablierten Religionen. In ihren Memoiren hob sie jedoch hervor, dass ihr Vater die soziale Kontrolle der Religionen nicht zurückwies, besonders in Bezug auf die Frauen, die seiner Ansicht nach „fromm sein müssen".

    Diese letzte Bemerkung, weit davon entfernt als Kritik an ihrem Vater verstanden zu werden, war eher eine Hommage an die Toleranz und die Liebe ihrer Eltern. Dieses Ehepaar wurde durch den frühzeitigen Tod von William Wood und die Erinnerungen seiner aufrichtig liebenden Witwe zweifellos mystifiziert. Es stellte für Annie Besant ein Idealbild dar, an dem sie später nicht nur ihre eigene Ehe messen sollte, sondern auch die Institution als solche, wenn sie über deren Bedeutung und Reform nachdachte. Freundschaft, Toleranz, Gedankenaustausch und Verständnis ebenso wie Gleichberechtigung und gegenseitige Ergänzung waren die Werte, die Annie Besant als unverzichtbar für eine Lebensgemeinschaft erachtete.

    Ihre Mutter

    Annie Besants Mutter, geborene Emily Roche Morris, entstammte, ungeachtet des ungesicherten aristokratischen Anspruchs, einer kinderreichen und mittellosen irischen Protestantenfamilie. Die Republikanerin Annie Besant fand Gefallen daran, in ihrer Autobiographie diese Familiensaga zu erzählen, die sie ihrer unverheirateten Großtante, die ihre Mutter aufzog, verdankte. Die „Maurice, deren Name sich angeblich auf die Regentschaft Karls des Großen zurückverfolgen ließ, betrachteten sich als Verwandte der „Sieben Könige von Frankreich, die Annie Besant scherzhaft mit den Milesier-Königen in den von ihr geliebten keltischen Legenden verglich. Zum Ausgleich für das finanzielle und soziale Umfeld, in dem sie aufwuchs, fand Emily Morris darin eine Quelle der Ehrbarkeit. Annies Großeltern mütterlicherseits „vergeudeten fröhlich, wie sie nachsichtig berichtete, das restliche Vermögen der Morris, indem sie „umso mehr Kinder bekamen, je mehr das Geld schwand. Obwohl Annie Besant in ihrer Autobiographie humorvoll über sie sprach, basierte ihr Neo-Malthusianismus zum Teil auf ihrem klaren Blick für eine derartige Inkonsequenz.² Andererseits beschrieb sie den Großvater mütterlicherseits, der in Clapham lebte, einem Vorort im Süden Londons, trotz seiner cholerischen Anwandlungen, die sie auf seinen irischen Ursprung zurückführte, voller Zuneigung. Die soziale Unsicherheit der Familie mag erklären, warum keine ihrer drei Tanten heiratete. Annie Wood stand der jüngsten, Marion Morris, genannt Minnie, sehr nahe.

    Emily Morris, die protestantische Viktorianerin aus der Mittelschicht, hatte ein strenges System moralischer Ansprüche entwickelt, das sie durch ihr Beispiel weitgehend auf ihre Tochter übertrug. Obwohl Annie Besant bald Lebensentscheidungen traf, die sich von denen ihrer Mutter radikal unterschieden, hielt sie an dem Ideal der Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit und Reinheit fest. In ihren Memoiren erklärte sie, „dass für [meine Mutter] der geringste Verdacht der Unehrenhaftigkeit um jeden Preis zu vermeiden war, und sie schärfte mir, ihrer einzigen Tochter, dieselbe stolze und leidenschaftliche Abscheu vor der geringsten Schande und verdienten Ungnade ein". Hierin lag zweifellos der Grund dafür, warum die Mutter niemals das Vertrauen in sie verlor, selbst nicht nach dem Skandal und der Ächtung, die einer Ehescheidung in der viktorianischen Gesellschaft unweigerlich folgte, so gerechtfertigt und legal diese auch sein mochte.

    Emily Wood hatte sich an die religiöse Skepsis ihres Mannes gewöhnt. Ob aus Veranlagung oder unter seinem Einfluss misstraute sie dem protestantischen Puritanismus und bevorzugte einen gemäßigten Anglikanismus in der Art der High Church.³ Sie fand Gefallen an deren sakraler Kunst, Architektur und Musik. Gleichzeitig hatte sie sich von gewissen allzu puritanischen Dogmen wie der ewigen Verdammnis, dem stellvertretenden Sühneopfer und sogar der buchstabengetreuen Auslegung der Bibel befreit. Zur Zeit der Aufzeichnung ihrer Erinnerungen hatte Annie Besant diese ebenfalls zurückgewiesen, aber erst nach einer religiösen Phase in ihrer Jugend, die selbst ihre Mutter beunruhigte. Diese befürchtete, dass Annie zu einem Katholizismus übertreten konnte, dessen Ritualismus sie ablehnte.

    Annie Besants Mutter und der Rest ihrer irischen Familie glaubten fest an das Übernatürliche, insbesondere an Geister. Emily Wood erzählte ihrer kleinen Annie, dass sie in dem Augenblick, in dem in Irland ein Verwandter starb, die schauerliche Klage einer Banshee, einer der Geisterfrauen aus der keltischen Mythologie, gehört hatte. Annie Besant sprach über den familiären Volksglauben bereits in der ersten Version ihrer 1885 veröffentlichten Autobiographie ohne Ironie. Dies ist erstaunlich, da sie sich zu diesem Zeitpunkt als Atheistin bezeichnete, die an die menschliche Vernunft, die Moral und die Wissenschaft glaubte. Diese Zeilen ihrer Memoiren zeigen, dass der Bruch mit einer bestimmten Form der Spiritualität niemals vollzogen wurde. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, war Annie Besant Agnostikerin und teilte nicht alle eingewurzelten Gewissheiten einiger ihrer materialistischen Freunde, darunter einige Wissenschaftler.

    Im ersten Kapitel ihrer Autobiographie sprach Annie Besant weitaus ausführlicher über ihre Mutter als über ihren Vater. Trotz ihres sozialen und moralischen Konformismus, gegen den sich die Tochter schließlich auflehnte, ohne diesen der Mutter jemals zum Vorwurf zu machen, bewunderte Annie Besant sie zweifellos blindlings. Ihr Freund, der Journalist W. T. Stead, zeichnete ein biographisches Portrait, das er 1891in der Review of Reviews⁴ veröffentlichte. Darin äußerte er sich sehr kritisch über die für die Mittelschicht typische Prüderie von Emily Wood, die sich auf die junge Annie Wood verheerend auswirkte.

    Ist es diese Prüderie der Mutter, die in Annie Besants Memoiren Unausgesprochenes erklärt? Wir wissen nichts über die Begegnung und Heirat der Eltern. Keiner der Biographen, selbst nicht der erschöpfende Nethercot, informiert uns darüber. Ein wenig distanziert und gleichzeitig bewegend meinte Annie Besant dazu knapp: „Ich habe gehört, dass die gegenseitige Liebe meiner Eltern sehr schön war." Das Ansehen und der Wohlstand des Ehepaares, das während Annies früher Kindheit in dem bürgerlichen Vorort von St. John’s Wood wohnte, schienen in einem sozial und moralisch unbarmherzigen viktorianischen Großbritannien ein verfängliches Familiengeheimnis völlig auszuschließen. Annies Eltern haben also vor 1845, dem Jahr der Geburt ihres älteren Sohnes Henry, Harry genannt, geheiratet. Ein drittes Kind, Alfred (Alfie), wurde zwei Jahre nach Annie geboren.

    Der Tod des Vaters

    Der dramatische Einschnitt in Annie Besants Kindheit erfolgte so jäh, dass ihr die glücklichen Momente in St. John’s Wood weitgehend entschwanden und sie diese in ihren Memoiren nur bruchstückhaft erwähnte. So erinnerte sie sich an ihre Enttäuschung, die Ausstellung von 1851 nicht besuchen zu dürfen. Die erste Weltausstellung zum Ruhm des britischen Empires und der industriellen Revolution fand in dem riesigen, im Hyde Park errichteten Crystal Palace statt. Annie Besant schrieb, dass sie sich mit einigen Postkarten dieses Symbols der Viktorianischen Ära, zufrieden geben musste, mit deren Errungenschaften und Erfolgsgeschichten, aber auch mit den Vorurteilen und Irrtümern, gegen die sie später so leidenschaftlich ankämpfte.

    Wie hätte Annie Besants Schicksal ausgesehen, wäre der Vater nicht so früh gestorben? Es ist sinnlos, sich dies vorzustellen, aber die materiellen und seelischen Schwierigkeiten, denen sie sich seit ihrer Kindheit gegenüber sah, und die schmerzlichen Entscheidungen, die sie treffen musste, sollten, abgesehen von ihren ersten konformistischen Versuchungen, eine junge Frau von ungewöhnlicher moralischer Stärke hervorbringen.

    Jeder frühzeitige Tod erscheint widersinnig – und der Tod des Vaters im Jahre 1852 ganz besonders. William Wood trauerte der Medizin, die er in Dublin studiert hatte, nach. Gelegentlich begleitete er befreundete Ärzte bei ihren Krankenhausvisiten oder assistierte ihnen bei Autopsien. Einmal schnitt er sich auf dem Thorax eines an schwerer Tuberkulose gestorbenen Patienten in den Finger. Die möglichen Folgen eines solchen Zwischenfalls sind heute, in einer Zeit der Desinfektionsmittel und Antibiotika, kaum vorstellbar. Die Wunde heilte nicht, und William Wood beging den tragischen Fehler, nicht auf den Rat jener zu hören, die ihm eine Amputation des infizierten Fingers empfahlen. Kurz darauf entwickelte sich ein einfacher grippaler Infekt, den er sich bei einer Fahrt im offenen Pferdewagen im Regen zugezogen hatte, in eine Lungenentzündung mit den gleichen Symptomen jener blitzartig auftretenden Tuberkulose, gegen die die Medizin damals völlig machtlos war.

    Jede Epoche hat ihre Tabus. Während die Sexualität eine ungemein unterdrückte Rolle in der viktorianischen Gesellschaft spielte, wurde der Tod weder geleugnet noch verheimlicht. Man starb zu Hause im Kreise seiner Lieben. Am Ende eines wochenlangen entsetzlichen Todeskampfes starb William Wood, drei Tage nach Annies fünftem Geburtstag. Während sich die Kinder wegen der Ansteckungsgefahr bei den Großeltern aufhielten, wachte seine Frau Tag und Nacht bei ihm. Annie Besant erinnerte sich, dass er sie kommen ließ, um sich von ihm zu verabschieden, und an ihren schrecklichen kindlichen Kummer. Nicht ohne Stolz schrieb sie auch, dass ihr Vater, unterstützt von seiner Frau Emily, sich geweigert hatte, den von seiner Mutter und seiner Schwester gerufenen katholischen Priester zu sehen.

    Indirekt beschrieb Annie Besant erneut die tiefe Liebe ihrer Eltern. Erschöpft von der langen Wache, schloss sich ihre Mutter in tiefem Schmerz in ihr Zimmer ein, das sie am Morgen mit schneeweißem Haar wieder verließ. Dieses äußerst seltene Phänomen, das Marie-Antoinette vor ihrer Hinrichtung zeigte, wird von der Wissenschaft bestätigt. Sehr viel beunruhigender allerdings ist die folgende Erinnerung, von der Annie Besant erzählte.

    Emily Wood nahm nicht an der Beerdigung ihres Mannes teil. In ihrem Kommentar zu Annie Besants Autobiographie bemerkt Carol Hanbery MacKay, dass in jener Epoche Frauen und junge Mädchen, die man für zu emotional hielt, im Allgemeinen nicht bei Beisetzungen zugegen waren. Erst nach Wochen fand Emily Wood den Mut, das Grab ihres Mannes aufzusuchen. Ohne die Stelle auf dem weitläufigen Londoner Friedhof von Kensal Green zu kennen, fand sie das Grab auf Anhieb, obwohl es noch keine Inschrift trug. Frei von Ironie oder Skepsis erwähnte Annie Besant diese seltsame Tatsache bereits in ihrer Autobiographie von 1885. Sie bezweifelte auch nicht die Aussage ihrer Mutter, den Trauerzug am Tage der Beerdigung „geistig verfolgt zu haben. Als selbsternannte Atheistin und Materialistin gestand Annie Besant 1885, dass „dieses seltsame psychologische Phänomen mich oft beschäftigt hat. Das Fehlen einer eindeutigen wissenschaftlichen Antwort auf derartige Vorkommnisse, die sie wie viele ihrer Zeit rational zu erforschen suchte, mag zu ihrem Übertritt zur Theosophie beigetragen haben.

    Der Familie Wood widerfuhr bald ein neues Drama. Wahrscheinlich Opfer der Tuberkulose, die seinen Vater dahingerafft hatte, schwand der kleine Alfie im darauffolgenden Winter dahin und starb im März 1853 in den Armen seiner Mutter. Obwohl damals die Sterblichkeitsrate von Kleinkindern selbst in den höheren Schichten zehn Mal höher lag als in unserer heutigen Gesellschaft, wäre es falsch zu glauben, die Menschen der viktorianischen Zeit wären abgestumpft gewesen oder hätten gleichgültig auf den Tod eines Säuglings reagiert. Im Gegenteil, die Kinder nahmen in zunehmendem Maße einen zentralen Platz und einen bis dahin ungekannten symbolischen Wert von Reinheit und Unschuld in der Familie ein. Dies findet seinen Niederschlag in den viktorianischen Romanen, die von einem Oliver Twist oder David Copperfield in Charles Dickens gleichnamigen Erzählungen handeln, aber auch in der reichhaltigen Kinderliteratur mit ihrem berühmtesten Beispiel Alice im Wunderland von Lewis Carroll. Parallel dazu wurde die Mutterschaft zunehmend idealisiert, was zum Teil Annie Besants Betonung der Mutterliebe in ihren Memoiren erklären mag. Zu dem Zeitpunkt, als sie diese verfasste, hatte sie selbst geglaubt, ihre Tochter unter ähnlichen Umständen, die seinerzeit zum Tode des kleinen Alfie führten, zu verlieren. Daher hob sie den unsagbaren Schmerz ihrer Mutter besonders stark hervor und erzählte, dass ihr kleiner Bruder in seinem Sarg noch den Abdruck des letzen Kusses trug, den Emily Wood ihm im Augenblick seines Todes gegeben hatte.

    Harrow

    Neben ihrer Trauer sah sich die Witwe Emily Wood mit ihren beiden kleinen Kindern, dem siebenjährigen Harry und der gerade fünf Jahre alt gewordenen Annie, bald erheblichen finanziellen Schwierigkeiten gegenüber. Trotz der guten Einkünfte ließ William Wood aufgrund von Unvorsichtigkeit oder als Folge spekulativer Kapitalanlage, Annie Besant erwähnte es nicht, seine Familie nahezu mittellos zurück.

    Emily Wood befand sich in einer Situation, die von allen Frauen der Mittelschicht gefürchtet wurde und die die Forderungen des viktorianischen Frauenideals am meisten belasteten. Im Rahmen der stark puritanischen und konservativen Reaktion auf die Sittenfreiheit der aristokratischen Regentschaft und der französischen und amerikanischen Revolution erlebte das Viktorianische Zeitalter ein strenger werdendes Frauenbild. Es entwickelte sich eine traditionsbewusstere Sichtweise der Frau, die, dem Mann untergeben und auf ihre Familie beschränkt, als Eckstein eines gefährdeten sozialen Gebäudes betrachtet wurde. Dennoch vollzog sich eine Verschiebung vom familiären und religiösen Bereich, die die Freiheit der verderbten und verderbenden weiblichen Natur einschränken sollte, hin zu einer spezifischen Lebensaufgabe. Aus der Eva wurde die Maria oder der „Hausengel"⁵. Sie drückte ein Frauenideal aus, das sich auf einem starren Ethikkodex gründete, der aus Vorschriften von Schamgefühl, Keuschheit und der Unterwerfung unter den Ehemann, die Familie und die Gesellschaft als solche bestand. Dieses Ideal passte perfekt in die puritanische Wiederbelebung der Handels- und Industrieklasse, die wirtschaftliche und politische Macht erlangte und ihre Werte der gesamten viktorianischen Gesellschaft aufzwang. Es beschränkte die Frau auf eine häusliche Existenz, wodurch sich die Trennung zwischen öffentlichem und privatem Raum festigte. Das Heim wurde im Wesentlichen zum weiblichen Attribut, zu einem Tempel der Reinheit, einem Hafen des Friedens, theoretisch geschützt vor dem Kontakt mit der Außenwelt. Es war der aktive Mann, der sich außerhalb des Heiligtums wagte und dorthin zurückkehrte, um bei seiner Ehefrau Ruhe und moralische Inspiration zu finden. Die Aufgabe der Frau bestand darin, sich um die Kinder zu kümmern und in ihrem Heim eine Atmosphäre der Ruhe und Reinheit zu schaffen, in der sich der Mann von den weltlichen Belastungen und Kämpfen erholen konnte. Die viktorianische Gesellschaft bot den jungen Mädchen der wohlhabenden Schicht fast keine andere Möglichkeit. Diejenigen, die nicht heirateten oder die ihren Mann verloren, wie Emily Wood, sahen sich in einer tragischen sozialen und moralischen Sackgasse, wenn sie nicht über die entsprechenden Mittel verfügten.

    Emily Wood war nach dem Tod ihres Mannes jedoch nicht völlig mittellos. Sie zog in eine bescheidenere Wohnung nach Clapham, in die Nähe von Annies Großeltern, und der Londoner Familienzweig der Woods sicherte ihr seine Unterstützung zu. Sir William Wood, der spätere Justizminister, bot ihr an, Harrys Erziehung in einer der angesehensten Schulen der Stadt zu finanzieren und ihm später zu helfen, im Geschäftsleben Fuß zu fassen. Dieses durchaus annehmbare Angebot zog aber weder Emily Woods Liebe zu ihrem verstorbenen Mann noch ihren Stolz mit in Betracht.

    Auf seinem Totenbett hatte William Wood ihr das Versprechen abgenommen, Harry „die bestmögliche Erziehung zuteil werden zu lassen. In jener Zeit bedeutete die „bestmögliche Erziehung eine public school, anschließend Oxford oder Cambridge. Die public schools waren – und sind es oft noch – die angesehensten privaten Eliteschulen für Jungen, mit extrem hohen Schulgeld- und Unterbringungskosten. Lord Clarendon, der Anfang der 1860er die neun wichtigsten dieser Schulen inspizierte, berichtete von insgesamt nur etwa 2700 Schülern im Alter von neun bis neunzehn Jahren. Diese Schulen wurden als „öffentlich" bezeichnet, da sie sich zum Ziel setzten, den perfekten Christian Gentleman heranzubilden, angeblich tauglich, mit den höchsten öffentlichen Angelegenheiten betraut zu werden. Emily Wood konnte sich also nicht mit einer einfachen City School für Harry zufriedengeben.

    Es fällt auf, dass sich Emily Wood kaum um die Erziehung ihrer Tochter kümmerte, eine in den 1850ern leider übliche Tatsache. Gleichwohl waren der Mut und der Einfallsreichtum, den Emily Wood nahezu ohne männliche Unterstützung entfaltete, um ihre Ziele zu erreichen, mit Sicherheit ein Beispiel für ihre Tochter. Die angesehene Public School von Harrow nahm würdige Schüler des kleinen Ortes für geringeres Schulgeld auf. Emily beschloss, sich dort niederzulassen. 1855 gelang es ihr, ein altes Pfarrhaus zu mieten, dessen Räumlichkeiten sich in eine Pension für mehrere Jungen umwandeln ließen, die sich mit einem Tutor auf den Eintritt in Harrow vorbereiteten. Vorbereitungen, die Harry ebenfalls zugute kamen. Emily Wood gewann das Vertrauen des Direktors von Harrow, der ihr einige externe Schüler als Pensionsgäste anvertraute und versprach, Harry in der Schule aufzunehmen. So gelang es ihr, eine der für eine junge Witwe der Mittelschicht seltenen akzeptablen Einkommensquellen mit der Möglichkeit zu verbinden, ihrem Sohn die Erziehung eines Gentleman zu bieten. Harry machte das Beste daraus und besuchte zehn Jahre später das Clare College in Cambridge mit einem Stipendium.

    Die kleine Annie Wood wuchs zwischen den Pensionsschülern und deren Tutoren in einem sehr männlichen Umfeld auf, in dem das Studium einen hohen Stellenwert besaß. Sie beschrieb das alte Pfarrhaus mit seinem ausgedehnten Garten als ein verlorenes Paradies der Freiheit und der Unschuld und erinnerte sich daran, just in diesem Garten Paradise Lost von Milton⁶ gelesen zu haben. Amüsiert provozierte sie den viktorianischen Leser ihrer Memoiren mit dem Geständnis, wie gerne sie mit erhobener Stimme die Tiraden Satans deklamiert habe. Es war sicherlich ein verlorenes Paradies, da man dieses Jungenpensionat für die Erziehung eines jungen Mädchens bald als unangemessen betrachtete. Annies Mutter zögerte jedoch, sich von ihrer Tochter zu trennen, zu der sie eine enge Beziehung aufgebaut hatte, um sie in ein Internat zu schicken. Dank ihres Zögerns sollte Annie Besant einer der ersten wichtigen Gestalten auf ihrem außergewöhnlichen Schicksalsweg begegnen: Ellen Marryat.

    Ihre Erziehung: Ellen Marryat

    Ellen Marryat, eine reiche unverheiratete Frau in ihren Vierzigern, lernte Annie Besant in Harrow bei den Nachbarn kennen. Sie war die jüngste Schwester des berühmten Marineoffiziers und Romanciers Frederick Marryat, der ihr bei seinem Tod im Jahre 1848 einen Großteil seines Vermögens hinterließ. Ellen Marryat hatte ihre Nichte Amy in ihre Obhut genommen und beschloss, ihr die kleine Annie Wood als Schulkameradin zur Seite zu stellen, die ihr bei ihrem Besuch in Harrow aufgefallen war.

    Sie bot dem jungen Mädchen die Erziehung zur Lady an, allerdings auf ihrem Grundbesitz Fern Hill in der Nähe von Charmouth in Dorset. Emily Wood begriff, dass dies in Annies Interesse sein würde und ließ sie mit der Frau ziehen, die bald Auntie („Tatie") von ihrer Tochter genannt wurde. Mit Ausnahme der Sommerferien verbrachte Annie Besant zusammen mit einigen anderen kleinen Schützlingen von Ellen Marryat zehn Jahre in Dorset.

    In ihrer Autobiographie geht Annie Besant näher auf die Erziehungsprinzipien ihrer Lehrerin ein, der sie sich zu großem Dank verpflichtet fühlte. Tatsächlich war sie dank Ellen Marryat den Jungmädchen-Internaten entkommen, die in den 1860ern von der parlamentarischen Untersuchungskommission unter Führung des Liberalen Henry Labouchere (Lord Taunton) heftig kritisiert wurden. Jene Einrichtungen – lediglich etwa ein Dutzend von ihnen – wurden von den Kommissionsmitgliedern (übrigens nur Männer) als „unzureichend und wenig praxisbezogen beschrieben. Sie kritisierten ihre „Schlampigkeit und protzige Oberflächlichkeit, die Vernachlässigung der Grundlagen, die zeitaufwendige Ausbildung, die weder intelligent noch wissenschaftlich erfolgte, und die mangelnde Organisation.⁷ Annie Besant entkam auch dem Unterricht einer Hausdame. In jener Zeit waren die Gouvernanten größtenteils angesehene unverheiratete oder verwitwete Frauen aus der Mittelschicht, deren finanzielle Schwierigkeit sie zu einer Anstellung zwangen. Die meisten besaßen keine besondere pädagogische Ausbildung und konnten im Allgemeinen nur das weitergeben, was sie selbst als Heiratsvorbereitung gelernt hatten. Ohne sich der Ironie bewusst zu sein, ein System zu verewigen, das sie in eine soziale Sackgasse getrieben hatte – meisterlich beschrieben von Charlotte Brontë in Jane Eyre – lehrten diese Gouvernanten die jungen Mädchen, die in ihrer Obhut standen, Musik, Malerei, Stickerei, ein wenig Französisch und Italienisch und natürlich Ethik und Religion. Bezeichnenderweise erzogen die Gouvernanten Jungen nur bis zu einem Alter von etwa sieben Jahren, da diese dann, wie die Zöglinge von Emily Wood, bis zum Eintritt in das Gymnasium einem Tutor anvertraut wurden, während ihre Schwestern im Allgemeinen bei den Eltern in einer sehr behüteten Atmosphäre blieben.

    Im Gegensatz zu den Gouvernanten und den meisten viktorianischen Pädagogen förderte Ellen Marryat, eine intelligente und kultivierte Frau, die Kreativität ihrer Schüler. Sie ließ sie Briefe und Ausarbeitungen oder Kurzfassungen des Lesestoffs

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