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Transzendentaler Vertrauensvorschuss: Sozialethik im Entstehen
Transzendentaler Vertrauensvorschuss: Sozialethik im Entstehen
Transzendentaler Vertrauensvorschuss: Sozialethik im Entstehen
eBook315 Seiten3 Stunden

Transzendentaler Vertrauensvorschuss: Sozialethik im Entstehen

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Über dieses E-Book

Christliche Sozialethik muss ihre Grundsätze und Empfehlungen auch für religiös unmusikalische Menschen plausibel formulieren. Sie erwächst jedoch immer wieder neu aus christlich-kommunikativer Praxis, in der Gottes Vertrauensvorschuss – seine Verheißungen – in Wirtschafts- und Sozialpolitik artikuliert werden. So kultiviert sie die Kraft des Mythos in Distanz zu einer vermeintlich rationalen und pluralen Welt. Und liefert zugleich praktikable Orientierungen in den Dilemmata, die unsere Welt heute auszeichnen. Von daher behandelt der Autor Beiträge zu aktuellen Problembereichen wie Gerechtigkeit, Populismus, Gewalt, Familien, Unternehmen, Staat und Religion.

[Transcendental Credit of Trust. Social Ethics in Process]
Christian social ethics have to formulate their principles and recommendations in a way that is also plausible for religiously unmusical people. These ethics emerge always fresh from a communicate Christian practice in which God's credit of trust – his promises – is articulated in the field of economic and social policies. In this way Christian social ethics cultivate a power of the myth in distance to an alleged rational and plural world, at the same time giving practical orientations in regard to the conflicts of our world. From this perspective the author reflects on contributions to current problem areas like justice, populism, violence, families, corporations, state, and religion.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Juni 2019
ISBN9783374058679
Transzendentaler Vertrauensvorschuss: Sozialethik im Entstehen
Autor

Gerhard Wegner

Gerhard Wegner, Dr. theol., Jahrgang 1953, studierte Evangelische Theologie in Göttingen und Nairobi. Er ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD in Hannover und apl. Professor für Praktische Theologie an der Universität Marburg.

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    Buchvorschau

    Transzendentaler Vertrauensvorschuss - Gerhard Wegner

    Gerhard Wegner

    Transzendentaler

    Vertrauensvorschuss

    Sozialethik im Entstehen

    Herausgegeben vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD

    Gerhard Wegner, Dr. theol., Jahrgang 1953, studierte Evangelische Theologie in Göttingen und Nairobi. Er ist Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD in Hannover und apl. Professor für Praktische Theologie an der Universität Marburg.

    Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    © 2019 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Cover: makena plangrafik, Leipzig

    Coverbild: Kirchenruine auf den kapverdischen Inseln © Doris Wegner

    Layout und Satz: Steffi Glauche, Leipzig

    E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

    ISBN 978-3-374-05867-9

    www.eva-leipzig.de

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Über den Autor

    Impressum

    Transzendentaler Vertrauensvorschuss

    Einleitung

    Gerechtigkeit

    Zum Sozialstaat

    Vom Charisma zum Stigma

    Armutsbewältigung und Diakonie aus christlicher Sicht

    Arbeit – die Gabe der Generationen

    Entweder Sozialstaat oder bedingungsloses Grundeinkommen – beides geht nicht!

    Spiritualität des Wirtschaftens

    »Spirituelles Kapital«

    Führungskräfte und ihre Berufung

    Gibt es eine »Theologie des Unternehmens«?

    Einige Suchbewegungen

    Komplexität in Kirche und Diakonie Was macht das Führen schwierig?

    Populismus und Politik

    Braucht der Staat Religion?

    Populismus – gut oder böse?

    Fiktionen der Fülle

    Kraftfelder des Geistes

    Zu Genese und Geltung christlicher Sozialethik

    Kann Luthers Freiheitsverständnis die Barrieren zwischen Kulturen überwinden?

    »Die gute altmodische brutale Gewalt.« (Rocky)

    Soziotheologische Assoziationen zu einer alltäglichen Ressource

    Weitere Bücher

    Endnoten

    Transzendentaler Vertrauensvorschuss

    Einleitung

    In diesem Buch sind eine Reihe von sozialethischen Aufsätzen versammelt, die sich auf soziale Probleme der letzten zehn Jahre beziehen. Ihnen gemeinsam ist die drängende Frage danach, was christliche Sozialethik unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen bewirken kann. Diese Frage ist nicht unabhängig davon zu beantworten, wie sich die christliche Sozialethik selbst begreift – und zwar im Verhältnis zu dem, woher sie kommt: zum christlichen Glauben und seiner Praxis als gelebter religiöser Kommunikation. Insofern ist die Frage nach der Entstehung christlicher Sozialethik an eben diese Praxis gebunden und sie teilt – zumindest in Mitteleuropa – mit ihr das Schicksal des Niedergangs. Zwar lassen sich im wissenschaftlichen Bereich nach wie vor imponierende sozialethische Studien finden. Die reale sozialethische Wirksamkeit der evangelischen Kirche fällt in ihrem tatsächlichen Einfluss auf Wirtschaft und Sozialgestaltung jedoch recht bescheiden aus. Zudem greift an dieser Stelle nicht selten ein bekanntes Paradoxon kirchlicher Wirksamkeit: Je weniger die Kirche ihre eigene religiöse Identität in den Vordergrund stellt, desto wirksamer kann sie agieren; je mehr sie dies tut, desto weniger wird sie wahrgenommen – bis hin zur Marginalisierung. In dieser Zwickmühle, ja in diesem Teufelskreis zu stecken, führt bei den Akteuren nicht selten zu Resignation.

    Angesichts dieser Situation plädiere ich dafür, der Resignation nicht nachzugeben, sondern die sozialethisch konstitutive Bedeutung des christlichen Mythos als Fiktion umfassender Liebe (Agape) wieder stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Diese Fiktion besitzt eine gewaltige soziale Prägekraft. Die Agape bedarf keines Nachweises ihrer Wirksamkeit oder gar ihres funktionalen Nutzens zur Begründung von Sozialkapital. Sie lässt sich nicht als Rezept oder gar als nützliche Ressource von Fall zu Fall einführen. Mit ihr ist vielmehr eine eigene Wirklichkeit der christlich religiösen Kommunikation benannt, ein spezifisches Kraftfeld des Geistes, in das sich Menschen hineinziehen lassen und deswegen die Welt verändern können. Wo dies allerdings nicht mehr erfahren wird, ist auch christliche Sozialethik machtlos. Sie gewinnt ihre Prägekraft aus dem Bezug auf diese fiktive Wirklichkeit.

    Die christliche Liebe ist darin eine äußerst wirksame Fiktion, dass sie die Realität der Liebe nicht erzeugen kann, sondern sie vielmehr stets voraussetzt. Diese Struktur ist in besonders faszinierender Weise von Sören Kierkegaard beschrieben worden: »Der Liebende setzt voraus, daß die Liebe in des andern Menschenherzen ist; und eben durch diese Voraussetzung baut er die Liebe in ihm auf/von Grund aus, sofern er sie ja liebend im Grunde voraussetzt.«¹ Im Hintergrund steht bei Kierkegaard die Vorstellung einer triangulären Struktur der Liebe: »Die weltliche Weisheit meint, die Liebe sei ein Verhältnis zwischen Mensch und Mensch; das Christentum lehrt, daß die Liebe ein Verhältnis zwischen Mensch und Gott und Mensch ist; d. h. daß Gott die Zwischenbestimmung ist. […] Denn Gott lieben heißt, in Wahrheit sich selbst lieben; einem anderen Menschen behilflich sein, daß er Gott liebe, heißt ihn lieben; von einem anderen Menschen darin unterstützt werden, daß man Gott liebe, heißt geliebt werden.«² Sicherlich sind dies unter den Bedingungen des heute herrschenden säkularen und auf Selbstwirksamkeit zielenden Common Senses durchaus erstaunliche und irritierende Beschreibungen. Aber man achte strikt auf die hier herausgearbeitete Struktur der Selbst-Beziehung des Menschen als einem exzentrischen Wesen, das sich selbst nur über den Umweg über eine dritte Instanz, Gott, seines Selbst gewiss werden kann. Um eine Einschreibung in dieses Verhältnis kommt die christliche Sozialethik aus meiner Sicht nicht herum, und auch nach »außen« gilt es, diese trianguläre Struktur stets durchzuhalten. Die »Leistungsfähigkeit« christlicher Sozialethik und ihr besonderer Beitrag zur allgemeinen ethischen Diskussion impliziert ein entsprechendes trianguläres Selbstverhältnis.

    Etwas ›handlicher‹ formuliert, lässt sich die realfiktive Präsenz eben dieses christlichen Verständnisses der Liebe als »transzendentaler Vertrauensvorschuss« bezeichnen. Damit wird auf genau jene Struktur der bedingungslosen Voraussetzung von Liebe angespielt, wie sie bei Kierkegaard durchgespielt wird. Die Idee dazu, einen solchen Begriff zu formulieren, stammt aus einem spezifischen Kontext, nämlich der Diskussion um die Gestaltung von inklusiven Sozialräumen. Prägnant hat Frank Schulz-Nieswandt herausgearbeitet, dass Inklusion nicht die Anpassung der Minderheitskultur der homo patiens an die dominante Mehrheitskultur bedeuten kann, sondern eine radikale Arbeit an den Normalitätskonstruktionen des Lebens als solchen bedeutet.³ »Das ist schmerzlich, verletzt es doch die selektive Bedürftigkeit nach Eindeutigkeit und Abgrenzung des sich evolutionär selbstbehauptenden Individuums in der homogenen Gruppe. Das Fremde ist plötzlich das eigene; das Selbst verdankt sich dem Anderen. Die selbstverständlichen Strukturen der Welt erodieren.«⁴

    Wichtig ist nun, dass es Schulz-Nieswandt an dieser Stelle nicht nur bei einer Forderung belässt, sondern nach der Möglichkeit entsprechender Konversionsprozesse fragt. Das hat zur Folge, dass der Begriff des Vertrauens an Bedeutung gewinnt. Damit reale Transformationsprozesse von Normalitätskonstruktionen in Gang kommen können, braucht es die Erfahrung bzw. die Unterstellung von umfassendem Vertrauen: Es braucht einen Vertrauensvorschuss. »Um den Kreislauf von Vertrauenskapitalbildung und Sozialkapitalgenerierung in Gang zu setzen, benötigt der Prozess somit in der Ausgangslage bereits personale Haltungen, die von einer gelebten positiven Anthropologie des Vertrauensvorschusses, der Geduld, der längeren Zeithorizonte, einer rechten Mischung aus Eifer und Gelassenheit, von Erwartungsanspruch und Vergabe-Bereitschaft im Fall von Scheiternsrisiken und Entwicklungskrisen gekennzeichnet ist.« Genau dies benennt Schulz-Nieswandt mit einer Formulierung von Georg Simmel als transzendental vorgängiges Humanstartkapital. Auf die Haltung kommt es an – so sein Fazit.⁵ An anderen Stellen seiner Schriften stellt Schulz-Nieswandt diese Zusammenhänge in ihrem Kontext der protestantischen Theologie dar, auch wenn er dabei strikt säkularisiert argumentiert.

    Was Schulz-Nieswandt hier darlegt, beschreibt in sozialwissenschaftlicher Terminologie nichts anderes als die Funktionsweise christlicher Sozialgestaltung im Sinne von Nächsten- und Fremdenliebe. Seine Analyse greift über die »weltliche« Struktur dieser Sozialgestalt nicht hinaus – er treibt sie aber bis zu dem Punkt, an dem deutlich wird, dass es ohne einen triangulären Bezug auf eine dritte Dimension, eine Kraft, die ein entsprechendes Geschehen überhaupt erst in Gang setzt, nicht gehen kann. Und genau hier kann der christliche Mythos seine eigene »Leistungsfähigkeit« deutlich machen. In ihm wird einseitige soziale Selbstermächtigung ohne Rücksicht auf andere als »Sünde« gebrandmarkt.⁶ Das Versprechen solcher Ansätze besteht in der Regel darin, Beziehungsformen und Formen von Sozialgestaltung schaffen zu können, in denen ein vollkommen reziprokes Füreinander der Beteiligten in der Form möglich ist, dass alle Beteiligten ihre tatsächlichen Bedürfnisse und Interessen ungehindert artikulieren und realisieren könnten. In allen gesellschaftlichen Handlungsbereichen sei es möglich, Bedingungen eines zwanglosen Füreinander und damit sozialer Freiheit herzustellen.⁷ Die Hoffnung auf derartige soziale Verhältnisse findet sich auch in der christlichen Tradition und hat immer wieder zu gesellschaftlichen Innovationen geführt. Aber – und das ist entscheidend – diese christlich tradierte Hoffnung gewinnt ihre Kraft aus der Präsenz einer dritten Dimension, die letztlich nicht greifbar, geschweige denn bewältigbar ist. Damit wahrt die christliche Erfahrungswelt die fragile menschliche Kraft zu Lieben. Begreift man den Grundimpuls christlicher Sozialethik in dieser Richtung, dann obliegt auch ihr die von Kierkegaard gestellte Grundaufgabe des Christen, seine Liebe darin zu zeigen, dass sie sich bemüht, andere Menschen zur Liebe zu Gott zu befähigen. Eine den Impulsen der Agape folgende Sozialgestaltung ginge dann nicht mit der Selbstermächtigung der Menschen, sondern gerade umgekehrt mit der Liebe zu Gott als Absehung von sich selbst einher. Genauso folgte eine solche Sozialgestaltung der fiktiv realen Grundvoraussetzung von Vertrauen und Liebe.

    Allgemeiner formuliert ist der Bezugspunkt der Sozialethik die Agape und damit die Fülle des Lebens. Darin ist sie funktional vergleichbar mit allen möglichen Repräsentationen von Fülle überhaupt. In dieser Hinsicht hat Ernesto Laclau sein politisches Schlüsselkonzept der Hegemonie mit der fiktiven Herstellung von Fülle in Zusammenhang gebracht: »Ich verstehe unter ›Hegemonie‹ ein Verhältnis, in dem ein partikularer Inhalt in einem bestimmten Kontext die Funktion übernimmt, eine abwesende Fülle zu inkarnieren.«⁸ Das kann z. B. die Nation, der Sozialismus oder die Vielfalt sein. Der christliche Glauben kann in ein Verhältnis zu diesen Größen gesetzt werden. Aber grundsätzlich gesehen geht es hier um einen konstitutiven Mangel, der alle funktionalen Äquivalente relativiert: die Erfahrung der Endlichkeit. »Endlichkeit beinhaltet die Erfahrung der Fülle, des Erhabenen, in Form eines radikalen Mangels – und in diesem Sinne ein notwendiges Jenseits. [. ..] Das Objekt, das ultimative Fülle erzeugen könnte, ist das Jenseits, von dem der Mystiker eine direkte Erfahrung zu haben behauptet.«⁹ Laclau selbst bestreitet die Triftigkeit dieser Erfahrung natürlich und damit den Kontakt zur Gottheit als notwendiger Voraussetzung ernsthaften moralischen Handelns. Was die »richtigen inkarnierenden Inhalte« anbetrifft, so seien wir mit Sicherheit völlig führungslos.¹⁰ Genau hier zweigt der Diskurs der christlichen Sozialethik ab.¹¹

    Die These der lebendigen, triangulären Beziehung bildet die Grundlage dieses Buches, auf welcher der Sinn der zusammengestellten Texte aufbaut. Dabei wird sie im Einzelnen nicht immer wieder expliziert. Vielmehr stellen die Texte in der hier vorgelegten Reihenfolge einen sozialethischen Entwicklungsgang dar, der seinen »Höhepunkt« in dem abgedruckten Text über die Fiktion eines Kraftfeldes des Geistes findet. Wer folglich schnell den Sinn des Ganzen identifizieren will, der mag mit diesem Text die Lektüre beginnen. Die Texte zum Sozialen, zur Wirtschaft und zur Politik sind umrahmt von einem Vortrag zur Frage, was denn heute unter Gerechtigkeit zu begreifen sei, und einer soziotheologischen Analyse zur Frage der Gewalt als einer alltäglichen Ressource. Sie beschreiben in der Gegenüberstellung das gewaltige Spannungsfeld, das sich sozialethisch immer wieder auftut. Keinesfalls sind sie Gegensätze!

    Die Texte sind während meiner Tätigkeit als Direktor des sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD in Hannover entstanden und entstammen vielfältigen Diskussionen aus diesem Zusammenhang. Meist gehen sie auf konkrete Anlässe, wie bspw. auf Vortragsanfragen, zurück. Mein Dank gilt dementsprechend all denen, die mir Gelegenheit zur Darstellung meiner Gedanken gegeben haben, und dem Team des Instituts, das viele der Ideen diskutiert und verbessert hat.

    Gerechtigkeit

    ¹

    »Die Welt ist in ihrem Kern eine Gemeinschaft

    von Schöpfer und Erschaffenen.

    Und sie hat ihren Ursprung in Gott.«

    John Rawls 1942

    Eine Verständigung über Gerechtigkeit steht am Beginn jedes gesellschaftlichen Zusammenlebens. In einer Demokratie befindet sich diese Verständigung permanent im Fluss. Nichts kann Menschen mehr erregen, als wenn sie das Gefühl haben, ungerecht behandelt zu werden. So waren die letzten Jahre und Jahrzehnte in Deutschland immer wieder von Gerechtigkeitsfragen bestimmt. Insbesondere das Thema »Armut als Beeinträchtigung von Gerechtigkeit« – bzw. allgemeiner: der Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gerechtigkeit –, und die Frage der Zuwanderung von geflüchteten Menschen nach Deutschland haben uns alle umgetrieben und nicht zuletzt die Bundestagswahlen 2017 bestimmt. Zudem ist nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa das Phänomen des Rechtspopulismus prominent geworden, von dem her sich noch einmal neue und bisher unbekannte Gerechtigkeitsfragen stellen.

    In diesem Zusammenhang lohnt es sich, nach den Grundlagen unseres Gerechtigkeitsverständnisses zu fragen. Dabei wird schnell deutlich, dass so etwas nicht im luftleeren Raum geschehen kann, sondern immer grundlegende weltanschauliche – und in unserem Fall konfessionelle bzw. religiös christliche – Grundentscheidungen impliziert. Deswegen geht es im Folgenden betont um ein christliches, ja in gewisser Hinsicht sogar um ein protestantisches Verständnis von Gerechtigkeit. Solch ein Verständnis muss der gesamten Gesellschaft, armen und reichen Menschen, ein möglichst plausibles Deutungsangebot ihrer Situation liefern. Dabei ist aber von vornherein davon auszugehen, dass nicht alle Menschen dieses Verständnis teilen werden, da sie von anderen Grundverständnissen ausgehen. Dennoch muss es so dargestellt werden, dass es in seinen Grundlagen und seinen Folgerungen nachvollziehbar ist. Das Ziel muss daher sein, dass auch Menschen, die mit dem christlichen Glauben oder mit Religion überhaupt nichts zu tun haben, prinzipiell verstehen können, worum es den Christen geht – damit sie gegebenenfalls mit ihnen zusammenarbeiten können. Dabei liegt von vornherein deutlich auf der Hand, dass in diesem Zusammenhang Armut ein ganz zentrales Thema ist, da Armut immer einen Verstoß gegen elementare Gerechtigkeitsmaximen darstellt. Aber Armut ist nicht das einzige Thema eines Gerechtigkeitsverständnisses.

    Womit also beginnen? Nicht nur weil wir im Jahr 2017 500 Jahre Reformation gefeiert haben, sondern weil es sachlich angemessen ist, lässt sich sehr gut mit Aussagen von Martin Luther starten. Am Anfang seiner theologischen Wirkung steht die Entdeckung der Zurechnung der Gerechtigkeit Gottes auf den Menschen. Gott macht den Menschen gerecht – nicht die Menschen sich selbst. Von dieser Zurechnung her lebt der Mensch; er kann ihr nichts durch eigene Leistungen hinzufügen und bleibt deswegen ein Leben lang von Gottes Gnade und Vergebung zu seinem Heil und Wohl abhängig. Die letztendliche Gerechtigkeit kann folglich nur Gott selbst verwirklichen – Menschen können sie nicht schaffen und sollten dies auch gar nicht anstreben. Dennoch sind Menschen diejenigen, die eben damit beauftragt und gewürdigt sind, Zeichen der Liebe Gottes in der Welt zu setzen. Weil sie von Gott im Glauben von der Sorge um ihr eigenes Heil fundamental befreit sind, können Sie sich den anderen Menschen und der ganzen Schöpfung vorbehaltlos zuwenden. In dieser Zuwendung in Liebe zu den anderen Menschen sind Menschen, mit Luther gesprochen, gleichsam ein Gefäß, durch das die Liebe Gottes den Mitmenschen zufließt und der Mensch sozusagen zum Gott für andere wird. »Siehe, das sind dann recht gottförmige Menschen, welche von Gott empfangen alles, was er hat, in Christo, und wiederum sich auch, als wären sie der anderen Gott, Wohltaten erweisen.«² Auf dieses Grundverständnis der menschlichen Existenz zu rekurrieren, ist deswegen wichtig, weil hieran deutlich wird, dass jeder Mensch in eben diesen christlichen Grunderkenntnissen eine göttliche Bestimmung hat. Und ausgesprochen spannend ist zu sehen, dass diese Bestimmung von Luther in der Dialektik von Berufung und Beruf bzw. in seinem Arbeitsverständnis weiter präzisiert wird.

    Anders gesagt: Am Beginn eines christlichen Diskurses über das Thema Gerechtigkeit steht die Berufung des Einzelnen in einen Beruf bzw. die Berufung zur Arbeit und damit die von Gott her kommende Einweisung der Menschen in eine Rolle und einen Platz in der Gesellschaft. Gott beruft einen jeden und eine jede in den Dienst am Nächsten: Das ist der Kern einer gerechten Gesellschaft aus christlicher Sicht. Jeder und Jede gehört dazu; jeder kann etwas beitragen; keiner kann alles. Nun kann man an dieser Stelle lange weiter über Luthers Berufsverständnis nachdenken und ihm Engführungen in seiner Sakralisierung der damaligen Ständegesellschaft durch den Berufungsgedanken nachweisen. Interessanter ist es aber, diesen Gedanken von der Berufung eines jeden Einzelnen zum konstitutiven Ausgangspunkt der Gerechtigkeit zu machen. Wenn jeder Mensch eine transzendentale, von Gott herkommende Beauftragung hat, dann ist es die logische Aufgabe einer jeden Gesellschaft, dieser Beauftragung gerecht zu werden. Das bedeutet nun nichts anderes, als eine christliche Fundamentalanforderung an eine gerechte Gesellschaft formulieren zu können: Gerecht ist eine Gesellschaft (oder eine Gemeinschaft, eine Organisation oder welche Sozialform auch immer) immer dann, wenn in ihr jeder Mensch seiner Bestimmung gemäß leben kann oder anders gesagt: wo jeder gemäß seiner Berufung den anderen zum Christus werden kann. Genau in dieser Möglichkeit besteht christliche Freiheit. »Selbstverwirklichung« ist in dieser Sichtweise die Verwirklichung des Christus als meines Selbst in der Gesellschaft. Und andersherum und auch viel säkularer gesagt, ist damit auf einer ganz fundamentalen Ebene die freie Entfaltung aller in Teilhabe an der Gesellschaft als Grundelement von Gerechtigkeit definiert.

    Überträgt man dieses Verständnis auf die grundlegenden Regelungen der deutschen Gesellschaft, so wird schnell deutlich, dass es der Art. 2 des Grundgesetzes ist, auf den es hier ganz besonders ankommt: Das Grundgesetz der Bundesrepublik garantiert die freie Entfaltung eines jeden Menschen, und genau daran muss ein christliches Gerechtigkeitsverständnis von der erwähnten Grundhaltung her ein elementares Interesse haben. Die Würde des Menschen aus Art.1 des Grundgesetzes realisiert sich fundamental in dieser freien Entfaltungsmöglichkeit. Wie ein jeder sich dann entfaltet, unterliegt seinen jeweiligen Entscheidungen bzw. seinen weltanschaulichen Bindungen und ist deswegen notwendigerweise plural. Aber dass die Chance bestehen muss, seiner eigenen Bestimmung zu folgen bzw. die einem selbst einleuchtende Berufung auch ausleben zu können, ist für ein christliches Gerechtigkeitsverständnis von schlichtweg entscheidender Bedeutung. (Und es wird bereits an dieser Stelle deutlich, dass Armut als Beeinträchtigung eigener Selbstentfaltung einen elementaren Störfaktor solcher Gerechtigkeit darstellt.) Ganz grundsätzlich gesagt, sind in der modernen Gesellschaft die Möglichkeiten, sich selbst zu entfalten, förmlich explodiert. Jede Einschränkung dieser Möglichkeiten wird deswegen zu Recht als Beeinträchtigung von Gerechtigkeit und damit als legitimationsbedürftig verstanden, und ein völliger Ausschluss aus der Gesellschaft gilt in jedem Fall als ungerecht und darf nicht sein. Als Voraussetzung dafür ist das Recht auf die Sicherung des Existenznotwendigen (wozu auch ein Anspruch auf Teilhabe gehört) in den modernen Staaten, insbesondere auch in Deutschland, fest verankert, wenn auch in der genauen Ausgestaltung immer wieder umkämpft.

    In Hinsicht auf ein reformiertes Verständnis von Berufung erscheint die Engführung der deutschen Gerechtigkeitsdiskussion, nämlich das ganz schnelle Abheben auf die Beteiligung aller an bezahlter Erwerbsarbeit, problematisch. Denn es ist ja deutlich, dass die Entfaltung der eigenen Bestimmung und Berufung, auch dann, wenn man sie von vornherein als Dienst am Nächsten und damit prinzipiell gemeinwohlorientiert versteht, zunächst einmal im Miteinander der Gemeinschaftsformen des Lebens vollzogen wird. Sie realisiert sich ganz elementar in der Weitergabe des Lebens: in der Sorge für und in der Erziehung von Kindern sowie ebenso in der Pflege Anderer und insbesondere der Älteren. Also dort, wo der Mensch, wenn man so sagen kann, überhaupt erst einmal zum Menschen wird – und dann dort, wo seine Menschlichkeit besonders gefordert ist. So sehr also Berufung natürlich mit Beruf verknüpft bleibt, so stark muss doch immer wieder daran erinnert werden, dass sich die Gerechtigkeit einer Gesellschaft nicht in der Privilegierung von Tätigkeiten bezahlter Erwerbsarbeit und schon gar nicht von entsprechenden Tätigkeiten in der Sachgutproduktion realisiert, sondern in der dem allen vorgeordneten und das alles erst ermöglichenden prinzipiellen Koproduktion der Menschen miteinander. Und es liegt auf der Hand, dass an dieser Stelle, weit über die Reformatoren hinaus, auch die Koexistenz mit der Natur bzw. den natürlichen Lebensgrundlagen in der Schöpfung Gottes benannt werden muss. Meine Berufung erfolgt in der Schöpfung Gottes – nicht gegen sie.

    Es muss aber auch betont werden, dass das Recht auf Selbstentfaltung, gerade im Sinne eines reformatorischen Berufungsverständnisses, nichts mit einem Recht auf Passivität zu tun hat. Es impliziert eine Pflicht zum Einbringen der eigenen Fähigkeiten in die gesellschaftliche Kooperation und nötigt jeden, seinen – wiewohl unterschiedlichen – Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten. Wer sich dem, ohne dazu gezwungen zu sein, entzieht, schließt sich selbst aus der Gesellschaft aus und verleugnet damit gleichzeitig seine Berufung. Selbstentfaltung ist nur dann produktiv, wenn sie in Reziprozität, in Gegenseitigkeit und Kooperation, erfolgt. Dem kann man sich nicht entziehen – und faktisch ist es diese, nicht immer bequeme Nötigung zur Gegenseitigkeit, die auch die Gesellschaft integriert. Das bedeutet, dass zum Leitbild einer gerechten Gesellschaft ein Menschenbild gehört, dass die beständige Sorge für die eigene Unterhaltung, bzw. für den Kreis der Anvertrauten beinhaltet. Anders gesagt: In der Erfahrung, für sich selbst durch den Dienst an anderen sorgen zu können, realisiert sich christliche Existenzerfahrung (und wird möglicherweise der Segen Gottes erfahren).

    Im Hintergrund dieser Überlegung steht eine wichtige Neuinterpretation des Berufungsverständnisses. Niemand kann die reformatorisch noch vollzogene statische Verknüpfung von Berufung und Beruf heute noch ernsthaft vertreten. Berufung kann heute natürlich nicht mehr bedeuten, ein Leben

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