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Nahe bei den Menschen: Theologisch-praktische Quartalschrift 4/2021
Nahe bei den Menschen: Theologisch-praktische Quartalschrift 4/2021
Nahe bei den Menschen: Theologisch-praktische Quartalschrift 4/2021
eBook254 Seiten3 Stunden

Nahe bei den Menschen: Theologisch-praktische Quartalschrift 4/2021

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Über dieses E-Book

Wenn heute in der Öffentlichkeit von "Kirche" gesprochen wird, dann geschieht dies in der Regel vor der Folie einer wie auch immer gearteten (männlich dominierten) Amtskirche. Was Kirche wirklich meint, vor allem in welchen Bereichen Christinnen und Christen selbstverständlich Tag für Tag engagiert sind, gerät dabei vielfach aus dem Blick. Heft 4/2021 möchte dieses Kirche-Sein explizit ins Wort heben: Kirche – nahe bei den Menschen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Okt. 2021
ISBN9783791762012
Nahe bei den Menschen: Theologisch-praktische Quartalschrift 4/2021

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    Buchvorschau

    Nahe bei den Menschen - Verlag Friedrich Pustet

    Cover.jpg

    Inhaltsverzeichnis

    ThPQ 169 (2021), Heft 4

    Schwerpunktthema:

    Nahe bei den Menschen

    Ines Weber

    Liebe Leserinnen, liebe Leser!

    Katja Boehme

    Sakramentalität der Laien. Das Beispiel Madeleine Delbrêl

    1 Zur Biografie Madeleine Delbrêls

    2 Laien als ‚Art Sakrament‘

    Stefanie Hinterleitner

    #TeamNächstenliebe. Diakonische Jugendarbeit im Lockdown

    Ralph Rebholz

    „Mittendrin". Schulpastoral in der Erzdiözese Freiburg

    Gabriela Sonnleitner

    magdas HOTEL in Wien. Wo Gäste zu Gastgeber*innen werden

    1 Eine gute Ausbildung erleichtert die Integration in den Arbeitsmarkt

    2 Wir machen das Beste daraus. Nur besser.

    Christian Winkler

    Solidarität und Nächstenliebe

    1 Arbeit und Arbeitslosigkeit als Herausforderung christlicher Praxis

    2 Die Bischöfliche Arbeitslosenstiftung der Diözese Linz

    Herbert Haslinger

    Diakonisch Kirche sein

    1 „Diakonische Kirche" – eine trügerische Formel

    2 Diakonisch-Sein unter Berufung auf den Unendlichen

    3 Diakonisch-Sein unter Berufung auf Jesus Christus

    4 Kennzeichen einer – wirklich – diakonischen Kirche

    Jürgen Werbick

    Für eine menschenfreundliche Kirche. Fundamentaltheologische Vorüberlegungen zur ekklesiologischen Option „Nahe bei den Menschen"

    1 Zwiespältige Nähe

    2 Nähe und Ferne

    3 Teilnehmen

    4 Selbstvergessen?

    5 Diakonisch und solidarisch

    Sabine Demel

    „Durch solches Handeln hast du dein Volk gelehrt, dass der Gerechte menschenfreundlich sein muss" (Weish 12,19). Zu einem Kirchenrecht nahe bei den Menschen

    1 Recht als notwendiger Schutz der Liebe und Barmherzigkeit

    2 Kirchliche Strafen als äußerstes Schutzmittel und Appell an die Gesinnung

    3 Die Liebe und Barmherzigkeit Gottes als Letztkriterium für das kirchliche Recht

    Christian Spieß / Katja Winkler

    Die „Nähe zu den Menschen" als theologisch-sozialethische Programmatik bei Papst Franziskus? Spurensuche zwischen Machtkritik und Inklusion

    1 Neuer Papst – neue Soziallehre?

    2 Machtkritik

    3 Inklusion

    4 Inklusion und Machtkritik als Elemente einer neuen sozialethischen Programmatik?

    Abhandlungen

    Predrag Bukovec

    Das Hochgebet für Gehörlose

    1 Entstehung des Eucharistischen Hochgebets

    2 Änderung der gesellschaftlichen Kontexte und Desiderat einer reflektierten Anthropologie

    3 Textanalyse des Hochgebets für Gehörlose

    4 Die Rezeption des Hochgebets und pastorale Errungenschaften

    5 Künftige Herausforderungen

    Literatur

    Das aktuelle theologische Buch

    Das aktuelle theologische Buch

    Besprechungen

    Eingesandte Schriften

    Katholische Privat-Universität Linz. Studienjahr 2020/21

    Register (Printausgabe). Theologisch-praktische Quartalschrift – 169. Jahr – 1. – 4. Heft

    Aus dem Inhalt des nächsten Heftes

    Redaktion

    Kontakt

    Anschriften der Mitarbeiter

    Impressum

    Liebe Leserinnen, liebe Leser!

    Altarretabeln und Deckenfresken, figürliche Darstellungen innerhalb der Kirchen oder an Kirchenportalen, Bebilderungen in Handschriften und Drucken sowie Kunstwerke aller Art zeigen sie über die Jahrhunderte hinweg zuhauf: Menschen – einfache Christinnen und Christen genauso wie professionalisierte Personen und Institutionen –, die sich ihrer Nächsten annehmen, Armen Kleidung, Nahrung oder Geld als Almosen spenden, Kranke versorgen, Obdachlose aufnehmen, Gefangene befreien, Tote bestatten. In Anlehnung an die sieben Werke der Barmherzigkeit ist solches Handeln, das wir heute als caritativ, als diakonisch bezeichnen, Ausdruck eines Lebens in der Nachfolge Jesu und Mitwirken an der Auferbauung des Reiches Gottes. Indem sich Menschen helfend denen zuwenden, die Not leiden, die außerhalb der Gesellschaft stehen oder marginalisiert sind, die nicht zu Wort kommen, keine Beachtung finden, sich selbst nicht oder nur bedingt Recht verschaffen können, wird Nächstenliebe mit Gottesliebe verbunden. Bei einem solchen Nahe-bei-den-Menschen-Sein geht es jedoch nicht einfach um Mitleid, um herzloses Geben und schon gar nicht um das Ansammeln von Verdiensten. Im Gegenteil ist allein die selbstlose Hingabe um der anderen willen, das sich ganz und gar Einlassen, das sich Hinwenden von ganzem Herzen Ausdruck des Bekenntnisses zu Christus.

    Mag diese innere Haltung auch in den bildlichen Darstellungen nur bedingt zum Ausdruck kommen, so spiegeln sie auf jeden Fall Predigten, Tugendkataloge, Stunden-, Haus- und Andachtsbücher. Wie voraussetzungsreich also und selbstreflexiv, wie radikal, weitreichend und konsequent ein solches Nahe-bei-den-Menschen-Sein verstanden und gelebt werden kann, ja vielleicht muss, wie mühselig und kräftezehrend, nicht selten verbunden mit einem Schwimmen gegen den Strom es ist, aber auch welche Gratwanderung diakonisches Handeln in sich birgt, damit es nicht selbstausbeuterisch oder den anderen vereinnahmend wird, will unser Heft in gewohnt vielfältiger Weise beleuchten.

    Insoweit führt uns die Heidelberger Religionspädagogin Katja Boehme im ersten Beitrag mitten ins Thema hinein. Mit Madeleine Delbrêl bringt sie uns eine Frau nahe, die als Laie inmitten der marxistischen Umgebung des französischen Arbeiterpriestertums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Gott selbst so ergriffen war, dass sie sich außerhalb jeglichen institutionalisierten Rahmens, ohne spezifische Beauftragung oder ein entsprechendes Amt liebe- und hingebungsvoll jedem Menschen unabhängig von seinem Glauben zuwenden konnte, weil ihr in ihm Gott selbst begegnete. An wie vielen Orten und in welch unterschiedlichen Kontexten sich auch heute Menschen in diesem Geist mit Herzblut – ehrenamtlich oder von Berufs wegen – für die Nächsten engagieren, zeigen vier eindrucksvolle Praxisbeispiele, die durchaus unter die Haut gehen: eine besondere Form des Krisenmanagements durch Jugendliche und junge Erwachsene, ein Schulseelsorgekonzept, das auch staatlich angestellte Lehrkräfte anzieht, ein Hotelbetrieb, der auf die Fähigkeiten und Talente von Flüchtlingen setzt, sowie eine ganzheitliche Form der Erwerbslosenhilfe. Dass ein solches Handeln schon allein aufgrund der dem Christentum zugrundeliegenden Anthropologie bedingungslos und zweckfrei, ja absichtslos geschehen muss, zeigt der Paderborner Pastoraltheologe Herbert Haslinger im darauffolgenden Beitrag. Die institutionalisierte Caritas und die kirchlichen Amtsträger durchaus kritisch in den Blick nehmend, benennt er letztlich vier Kriterien, die für ein diakonisches Handeln leitend sein müssen. Diesen Faden nimmt der ehemalige Münsteraner Fundamentaltheologe Jürgen Werbick insoweit auf, als auch er betont, dass Menschen sich ganz und gar in ihrer Einzigartigkeit annehmen und herausfordern lassen sollten. Zugleich räumt er ein, welch fordernde Spannung zwischen der hingebungsvollen Begegnung und der überfordernden Nähe zu den Nächsten besteht, um die befreiende Botschaft des Evangeliums erfahrbar zu machen. Dass selbst das Kirchenrecht nahe beim Menschen sein kann, zeigt die Regensburger Fachvertreterin Sabine Demel, wenn sie konstatiert, dass selbiges als von Liebe und Barmherzigkeit getragene Einzelfallentscheidungen erfordert sowie der Heilung und Rettung der und des Einzelnen in der Gemeinschaft dient. Die Linzer Christian Spieß und Katja Winkler führen schließlich vor dem Hintergrund der Analyse von Äußerungen Papst Franziskus’ aus der Perspektive der Christlichen Sozialwissenschaften inspirierend vor Augen, dass ein Eintreten für die Armen und Marginalisierten Dekonstruktion von Machtverhältnissen und Inklusion sein muss, jedoch im Sinne der Konstruktion eines Gesellschaftssystems, das nicht einfach einbezieht, sondern von den Bedürfnissen der Ohnmächtigen her geschieht.

    Das Heft wird mit einem Beitrag von Predrag Bukovec abgeschlossen, der angesichts einer veränderten Anthropologie und Pastoral dringend eine Überarbeitung des Hochgebets für Gehörlose anregt.

    Geschätzte Leserinnen und Leser!

    Nahe bei den Menschen zu sein, erscheint nur auf den ersten Blick als leicht. Darin sind sich unsere Autorinnen und Autoren einig. Vielmehr fordert es die Handelnden in besonderer Weise heraus. Soll nämlich diakonisches Handeln auf der einen Seite nicht einfach Vereinnahmung oder Überformung sein und auf der anderen Seite zur Selbstausbeutung führen, bedarf es eines hohen Maßes an Selbstreflexion sowie Selbst- und Fremdwahrnehmung, eines beständigen Hinterfragens der eigenen Handlungsmuster und der zugrundeliegenden Wertmaßstäbe, verbunden mit einem immer neuen Ausloten der Grenzen zum Gegenüber als Abbild Gottes.

    Eine spannungsreiche Lektüre wünscht Ihnen

    Ihre

    Ines Weber

    (Chefredakteurin)

    Katja Boehme

    Sakramentalität der Laien

    Das Beispiel Madeleine Delbrêl

    ♦ Madeleine Delbrêl dürfte zu den eindrucksvollsten Gestalten der Christentumsgeschichte zählen, die ihr Christsein um Gottes und der Nächsten willen konsequent aus dem Herzen der Kirche und aus einer tief verwurzelten Spiritualität heraus bedingungslos gelebt hat. Inmitten des kommunistischen Arbeitermilieus Frankreichs der 1930er- bis 1960er-Jahre wandte sie sich als Frau allen Menschen unabhängig von Glauben bzw. Nicht-Glauben und bekennendem Atheismus zu. Im einfachen Dasein, in jeder noch so unbedeutend erscheinenden Handlung und jedem Gedanken bringt sie Gott konsequent in die Welt, in der er schon immer ist, weil er im Gegenüber begegnet. Wie sie selber Gottes-Dienst, Sakramentalität und Kirche-Sein in Worte fasst, berührt, geht unter die Haut, verändert. (Redaktion)

    „Du hast uns heute Nacht

    in dieses Café Le Clair de Lune geführt.

    Du hattest das Verlangen danach, hier zu sein, Du, in uns,

    für ein paar Stunden in dieser Nacht.

    Durch unsere armselige Erscheinung,

    durch unsere kurzsichtigen Augen

    durch unsere liebeleeren Herzen

    wolltest Du all diesen Leuten begegnen,

    die gekommen sind, die Zeit totzuschlagen.

    Und weil deine Augen in den unsern erwachen,

    weil dein Herz sich in unserm Herzen öffnet,

    fühlen wir,

    wie unsere schwächliche Liebe in uns aufblüht wie eine ausladende Rose, sich vertieft wie eine grenzenlose und zärtliche Zuflucht für all die Menschen, deren Leben um uns herum pulsiert.

    Das Café ist nun kein profaner Ort mehr,

    dieses Stückchen Erde,

    das dir den Rücken zuzukehren schien.

    Wir wissen, dass wir durch dich

    ein Scharnier aus Fleisch geworden sind,

    ein Scharnier der Gnade …"¹

    Hier schildert Madeleine Delbrêl, eine einfache Christin, ihren nächtlichen Besuch in einem Pariser Vorstadtcafé. In diesem meditativen Text, den sie zwischen 1945 und 1950 verfasste,² fährt sie damit fort, die Leute, die mit ihr diesen nächtlichen Ort teilen, zu beschreiben: den alten Pianisten, die geldgierige Geigerin, den die Treppe heruntertorkelnden Säufer und all die gelangweilt herumsitzenden Leute, die ihre Zeit totschlagen – und sie sitzt mitten unter ihnen. Näher kann diese Christin wohl kaum den Menschen sein, denen „Leid und Sünde […] unentwirrbar ins Gesicht geprägt"³ sind, als dadurch, dass sie dort ist, wo sie sind.

    1 Zur Biografie Madeleine Delbrêls

    Obwohl Sozialarbeiterin von Beruf, meint Madeleine Delbrêl keine caritative oder diakonische Nähe. Sie wird diesen Menschen, die sich am Rande der Gesellschaft in diesem Café der Pariser Banlieu aufhalten, keine sozialen Hilfestellungen anbieten. Ein Oben und Unten zwischen ihr und den Leuten gibt es für sie, die posthum als „Modell des Christen der Zukunft"⁴ bezeichnet werden sollte, nicht.⁵ Sich Gott hinzugeben und ihm nahe zu sein, ist für sie gleichbedeutend dafür, auf „Tuchfühlung"⁶ mit den Mitmenschen zu gehen.

    „Die wahre Weltoffenheit, die darauf beruht, die Welt zu kennen, weil man voll und ganz in ihr gelebt hat, die Augen und das Herz weit geöffnet: ich glaube, dass niemand sie jemals mutiger und ganzheitlicher gelebt hat."⁷ – Mit diesen Worten beschreibt der zeitgenössische Theologe Louis Bouyer das Lebenszeugnis von Madeleine Delbrêl (1904–1964), die bis zu ihrem Tod über dreißig Jahre lang in Ivry, einem südöstlich von Paris gelegenen kommunistischen Industrievorort zusammen mit ebenso engagierten Frauen wie sie ein Leben nach dem Evangelium geführt hatte. Für ihr aufopferndes soziales Engagement unter der von den Kriegswirren erschütterten Bevölkerung während der deutschen Besatzung sollte sie mit dem Orden der Résistance ausgezeichnet werden. Diesen lehnte sie ab mit der Begründung, allein aus christlichen Motiven gehandelt zu haben.⁸

    1.1 Lernort Atheismus

    Doch in jungen Jahren deutete nichts darauf hin, dass die in einem gutbürgerlichen Milieu als einziges Kind ihrer Eltern aufgewachsene Madeleine, die sich für Kunst und Philosophie interessierte und schon in ihrer Jugend für einen Gedichtband einen hochdotierten französischen Literaturpreis erhielt, ihr Leben in einem militant marxistischen Arbeitermilieu verbringen werde.⁹ Als junge Frau durchlebte und durchdachte sie scharf und in aller Konsequenz den neuzeitlichen Atheismus: „Gott ist tot, es lebe der Tod …¹⁰ – so heißt ein Text, den sie als Siebzehnjährige im Jahr 1922 schrieb. Doch aufgerüttelt durch die ‚Tatsache‘ von Kommilitonen, denen sie während ihres Literatur- und Geschichtsstudiums an der Sorbonne begegnete, die genauso lebten, arbeiteten, tanzten und diskutieren wie sie, aber die Existenz Gottes im 20. Jahrhundert durchaus nicht für absurd hielten, wurde in ihr die Frage nach Gott brennend.¹¹ „Wenn ich aufrichtig sein wollte, durfte Gott, der nicht mehr strikt unmöglich war, nicht mehr so behandelt werden, als gäbe es ihn sicher nicht. Ich wählte deshalb, was mir am meisten meiner veränderten Perspektive zu entsprechen schien: Ich entschloss mich zu beten …¹² Und sie fährt fort:

    „Lesend und nachdenkend habe ich Gott gefunden; aber indem ich betete, habe ich geglaubt, dass Gott mich findet und dass er die lebendige Wahrheit ist und dass man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt."¹³

    Von diesem Moment an war Madeleine von einem lebendigen, alle Bereiche ihrer Existenz umfassenden Glauben an einen Gott erfüllt, der den Menschen nahe sein will. Dem Zeugnis Jacques Loews zufolge – einem Arbeiterpriester, dem Madeleine nahestand –, bleibt „dieses unerhörte bestürzende Glück […] dreißig Jahre nach ihrer Bekehrung ebenso kostbar wie am ersten Tag"¹⁴. Sie selbst bekannte noch in ihrem letzten Vortrag kurz vor ihrem plötzlichen Tod im Jahr 1964 gegenüber ihren Zuhörerinnen und ihren Zuhörern: „Ich bin von Gott überwältigt worden und bin es immer noch."¹⁵

    1.2 Lernort Bekehrung

    Ebenso wie von ihrer Bekehrungserfahrung, die sie an anderer Stelle sogar als ‚gewaltsam‘ bezeichnet, bleibt Madeleine Delbrêl von einer weiteren Erfahrung aus ihrer Jugendzeit ihr Leben lang geprägt: von der Tragik eines Lebens ohne Gott. Noch Jahrzehnte später wird sie von Christen das Bewusstsein verlangen,

    „dass für den Ungläubigen schon das Leben selber vom Tod erschlagen wird. […] Der innere Halt des Seins stürzt in allem, was lebt, zusammen. Was immer man lieben mag, man liebt etwas, das sterben muss. Das Leben wird zur Vollendung des Todes, alles ist vom Nichts und von der Absurdität befallen."¹⁶

    Diese Dialektik zwischen dem bedrückenden Dunkel des Atheismus, den sie in ihren Jugendjahren existenziell durchlebt und durchlitten hatte, und dem Dunkel eines von der Gegenwart Gottes Geblendetseins, durchzieht wie ein roter Faden das Denken und Leben Madeleine Delbrêls und bleibt Zeit ihres Lebens Motivation ihres christlichen Zeugnisses.

    Um den Glauben an Gott als „ungeheures, umwerfendes Glück"¹⁷ und als „Befreiung von der Sinnlosigkeit einer Welt ohne Gott"¹⁸ zu vermitteln, setzt Madeleine Delbrêl weder auf pastorale Methoden oder Konzepte, noch geht sie über institutionelle Einrichtungen oder kirchliche Verbände, auch engagiert sie sich nicht in entsprechenden kirchlichen Gremien. Der Glaube an Gott kann ihr zufolge letztlich nicht durch Methoden vermittelt werden, sondern wird an Menschen sichtbar, an denen die ‚Tatsache‘ der Existenz Gottes abgelesen werden kann:¹⁹

    „Die Tatsache und Wirklichkeit des Glaubens – das sind die Christen, die durch ein unerschütterlich treues alltägliches Handeln dieses ‚Phänomen‘ in ihrem Leben sichtbar machen."²⁰

    1.3 Ort der doppelten Liebe

    Als „Scharnier aus Fleisch und zugleich als „Scharnier der Gnade²¹ bilden die Gläubigen ein lebendiges Bindeglied zwischen göttlicher Gegenwart und der menschengemachten Ablehnung Gottes – und das mit einer Nähe, die Madeleine Delbrêl in ihrer Meditation als hautnahe, als haftende²² Bindung beschreibt:

    „Wir binden uns an dich

    mit der ganzen Kraft unseres dunklen Glaubens,

    wir binden uns an sie

    mit der Kraft eines Herzens, das für dich schlägt,

    wir lieben dich und sie,

    auf dass mit uns allen ein Einziges geschehe. Durch uns zieh alles zu dir …"²³

    Diese doppelte Nähe des Christen zu Gott und zum Nächsten ist für Madeleine Delbrêl untrennbar, sie ist die „indivisible amour"²⁴. Da ‚Welt‘ für Madeleine Delbrêl den im Sinne der johanneischen Theologie den Gott abgewandten, Gott ablehnenden und daher sündigen Ort menschlicher Existenz bezeichnet (vgl. 1 Joh 1,16), während ‚Himmel‘ für sie die im Hier und Jetzt präsentische Gegenwart Gottes charakterisiert, verortet sie die Christen als lebendige Scharniere genau zwischen diesen beiden Wirklichkeiten:

    „Im sündigen Abgrund der Welt hast du mit ihnen ein Rendezvous abgemacht;

    Angeheftet an die Sünde erleben sie mit dir einen Himmel, der sie an sich zieht, was sie zerreißt."²⁵

    2 Laien als ‚Art Sakrament‘

    Als solch existenzielle ‚Scharniere aus Fleisch und der Gnade‘ spricht sie den Christen, die in der Welt leben, sakramentalen Charakter zu. In einem ihrer bekanntesten Texte ‚Missionnaires sans bateaux‘, mit dem sie – und das als Frau und als Laie! – bereits Anfang der 1940er-Jahre einen wesentlichen Einfluss auf die Arbeiterpriesterbewegung nehmen sollte, schreibt sie von den Laien, dass „wir Missionare ohne Priestertum wie eine Art Sakrament" sind.²⁶ In ihrer Meditation greift sie diesen Gedanken wieder auf und betont: „In uns vollzieht sich das Sakrament deiner Liebe."²⁷

    Es ist erstaunlich, wie sehr das poetische Talent Madeleine Delbrêls die klassisch-theologische Definition von Sakrament in meditativen Bildern wiederzugeben und zugleich auf die Christinnen und Christen zu deuten vermag. Die Begriffsbestimmung von Sakrament hatte sie vermutlich während ihres autodidaktischen Theologiestudiums in den 1920er-Jahren dem Werk des – von Johann Adam Möhler beeinflussten – Jesuiten Jean Baptiste Terrien SJ entnommen.²⁸ Hier wird Sakrament als materiales Handlungselement definiert, das die innere Gnade der wirksamen Nähe

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