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Stimmt so!
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eBook243 Seiten3 Stunden

Stimmt so!

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Über dieses E-Book

Geschichten verschönern die Welt, findet Merle. Sie hat viel Phantasie und Schreibtalent, allerdings auch zwei Deutschlehrer als Eltern … und eine recht üppige Figur. So schwebt sie lieber in Traumwelten und jobbt im Supermarkt hinter der Kasse. Dort ist ihre Bühne, da lässt sie die Leute an sich vorüberziehen, und am laufenden Band rollen neue Inspirationen auf sie zu: Weshalb Taxifahrer Hansen regelmäßig Flachmänner kauft? Was für eine Vergangenheit die alte Frau mit dem Katzenfutter wohl hat? Und wieso die kleine Lilofee Schokoriegel klaut? Merle schreibt alles auf. Doch ihr Kassenthron wird zum Schleudersitz …
Katrin von Consbruchs wunderbar skurriler, lebensfroher Roman erzählt von einer jungen Frau, die es lernt, zu sich selbst zu stehen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Aug. 2019
ISBN9783897419452
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    Buchvorschau

    Stimmt so! - Katrin von Consbruch

    Autorin

    Katrin von Consbruch

    Stimmt so!

    Roman

    ULRIKE HELMER VERLAG

    ISBN (eBook) 978-3-89741-943-8

    ISBN (Print) 978-3-89741-436-5

    © 2019 eBook nach der Originalausgabe

    © 2019 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf b. Darmstadt

    Alle Rechte vorbehalten

    Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NL

    unter Verwendung der Fotografie »Beautiful plus size woman with

    blue dyed hair«, © Copyright topvectors / Adobe Stock

    www.ulrike-helmer-verlag.de

    Bewegungslos, die stillen Zeiger.

    Selten im Einklang

    kommt ihr Moment,

    weil Zeit vergeht.

    Verlässlich.

    Vergänglich.

    Bewegung im Stillstand.

    Im Stillen bewegt.

    1

    Es ist ein wunderschönes Bild.

    Nichts von dem, was man sieht, ist außergewöhnlich, aber gerade deshalb wirkt es so harmonisch und bedeutungsvoll. Genau wie die farbenkräftigen Bilder im französischen Film:

    Eine Frau liegt nackt in einer Badewanne.

    Um die Wanne herum Gegenstände, denen man ansieht, dass sie liebevoll zusammengestellt wurden.

    Ein altmodisches Bonbonglas voller Badekugeln. Ein hölzernes Apothekerschränkchen mit kleinen Schubfächern. Eine aus winzigen Perlen gefertigte flache Schale, in der selbstgemachte Broschen und Haarspangen liegen. Birnchen, die rund um einen brüchigen Spiegel zwischen Papierblumen hervorleuchten, tauchen den Raum in ein warmes Rosa.

    Die Frau in diesem atemberaubend alltäglichen Badewannenbild bin ich. Merle. Mit ungewöhnlicher Wachheit nehme ich mich selbst in diesem Bild wahr. Spüre die Konturen meines Leibes, die Enge der Wanne, den Verlauf der Grenze, die markiert, bis wohin ich reiche und wo die übrige Welt beginnt.

    Ich liege da und fülle die Wanne. Fast jedenfalls. Und die Wanne liegt im Bad und füllt das rosawarme Zimmer. Und das Zimmer liegt in der Wohnung. Und die Wohnung im Haus. Das Haus in der Straße. In der Stadt, in der Gegend, im Land, Welt, Himmel – Universum! Als würde der französische Kameramann langsam aus der Szene herauszoomen, entferne ich mich immer weiter und weiter und nehme aus immer größerem Abstand wahr, wie ich in der Wanne liege. Ich spüre mich in Relation zum Zimmer, zum Haus, zur Stadt, bis hin zum Universum und wundere mich. Wie winzig ich bin! Wie begrenzt. Wie wenig zu mir gehört, gemessen an dieser Weite! Während ich mich so mit der Welt ins Verhältnis setze, staune ich darüber, dass es mich trotzdem überhaupt gibt, Tag für Tag, wo meine relative Masse doch so unglaublich gering ist.

    Als ich aus dem Universum zurück ins abgestandene Nass komme und auf meine wasserschrumpeligen Fingerspitzen sehe, wundere ich mich einen Augenblick lang, dass ausgerechnet ich so empfinde. Denn in Wahrheit bin ich riesig. Meine Wanne ist randvoll, sobald ich darin Platz nehme. Die meisten Speckrollen meines Bauches und meine irrsinnig großen Brüste ragen weit aus dem Wasser. Und auch meine Arme ruhen im Trockenen, weil sie nur auf dem Wannenrand Platz finden. Ich könnte mich darüber ärgern, weil ich auf diese Weise schnell anfange zu frieren, aber ich habe aufgehört, mich wegen meiner Körperfülle zu bedauern. Immerhin spare ich dadurch Wasser. Passt ja nicht viel rein, wenn ich schon drin bin.

    Das heißt, ich könnte Wasser sparen. Stattdessen ziehe ich den Stopfen nun mit dem Zeh. Das kühl gewordene Bad fließt ab, während ich mit dem Knie den Griff über dem Hahn nach oben schiebe und heißes Wasser nachlaufen lasse.

    Als es die richtige Temperatur hat, lege ich das linke Bein hoch. Jetzt ist zwischen meinen Schenkeln genau so viel Platz, dass ich den festen Strahl der Dusche dorthin richten kann.

    Mich hat noch nie ein Mann berührt. Aber ich stelle mir vor, dass sich eine begehrliche Zunge ebenso wundervoll anfühlt wie das drängende Wasser aus dem Duschkopf. Es dauert nicht lange, ehe ich meine Erschöpfung genießen kann.

    Ich warte, bis der letzte Wassertropfen im Abfluss verschwunden ist, dann hieve ich mich aus der Wanne. An einem Haken neben der Tür hängt ein riesiges, weiches Saunatuch, in das ich mich einhülle. Ein kleineres Tuch schlinge ich über meinen Haaren zu einem Turban.

    Natürlich! Natürlich könnte ich permanent unglücklich darüber sein, dass mir Badetücher im Standardformat nichts nutzen, weil sie mich nicht annähernd bedecken. Dass mich schon kleinste Bewegungen fürchterlich anstrengen. Dass ich schwitze, sobald ich ein paar Stufen hoch muss. Dass meine Oberschenkel sich selbst dann noch berühren, wenn ich im Grätschstand bin, und meine Arme schlabbern, wenn ich winke. Ich könnte gekränkt sein über die abschätzigen Blicke, die mich seit der Kindergartenzeit verfolgen, und eine ganze Buchreihe über Situationen schreiben, die zeigen, dass die Welt für meinen Körper nicht gebaut ist. Ich könnte weinen über die abwertenden Kommentare meiner Mitmenschen und verzweifeln über den fehlenden Rückhalt meiner Eltern, die sich für ihre dicke Tochter immer nur geschämt haben.

    Doch ich verziehe nur kurz den Mund und vertreibe die trüben Gedanken mit einem Kopfschütteln. Denn statt mich mit meiner Vergangenheit zu quälen, verschönere ich mir lieber die Gegenwart! Stolz lasse ich meine Finger über das schmucke Waschbecken gleiten, das ich letzte Woche aus dem Keramikladen abgeholt habe.

    Im französischen Film würde jetzt eine leichte Melodie eingespielt. Ein beschwingter Schifferklavierwalzer, oder ein unbekümmertes Chanson …

    Ich habe das Waschbecken selbst bemalt, und nach dem Brennen sieht es noch viel hübscher aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Die meisten Menschen dekorieren ihre Badezimmer mit Strand- und Meermotiven, sodass man sich beim Klogang zwischen Fischen, Muscheln und Seepferdchen wiederfindet. Mein Waschbecken dagegen sieht aus wie die Seerosenbilder von Monet! Wenn ich mal Zeit habe, dann möchte ich auch die Kloschüssel noch passend bemalen.

    Mir ist völlig klar, dass die meisten Menschen meine Wohnung überladen und geschmacklos finden würden. Aber irgendeinen Vorteil muss es ja haben, dass ich alleine lebe und so gut wie nie Besuch bekomme. Da brauche ich keine Rücksicht auf Stilfragen zu nehmen und kann meine Vorliebe für Kitsch und Selbstgebasteltes in vollen Zügen ausleben.

    Überhaupt habe ich entschieden, dass mein Leben zu kurz ist, um es mit Grübeln und Trübsal zu vergeuden. Das Leben hat doch viel mehr zu bieten als die Auseinandersetzung mit Körperfett und wundgeriebenen Hautfalten, denke ich voll Überzeugung, drücke eine Bepanthen-Wurst aus der Tube und creme die schmerzenden Stellen unter der Brust und zwischen den Schenkeln großzügig ein. »Jedenfalls meins«, sage ich laut und nicke meinem Spiegelbild selbstbewusst zu.

    Immerhin habe ich eine Beschäftigung gefunden, die mir wertvoll und wichtig erscheint. Das kann nicht jeder von sich behaupten.

    Dabei denke ich jetzt nicht in erster Linie an meine alltäglichen Pflichten im EMMA. Obwohl ich wirklich gerne dort arbeite. Als ich vor zehn Jahren die Stellenausschreibung »EMMA sucht engagierte Mitarbeiterin« las, dachte ich unwillkürlich an einen gemütlichen, engen Laden mit einem Tresen vor dunklen Regalen, die nach einem undurchschaubaren System vollgestopft sind mit Dosensuppe, Spülmittel, Keksen und Klorollen in Plastikfolie, verwaltet von einer Frau, die mit altersfleckigen Händen die Registrierkasse bedient.

    Ein Tante-Emma-Laden eben, in dem der Kunde, ein schrulliger Nachbar oder gelegentlich auch ein Unbekannter, beim Warten an der Kasse viel Zeit findet, der Schülerin, die in den Sommerferien ihr Taschengeld auf einer Leiter mit dem Beräumen aufbessert, unter den kurzen Supermarktkittel zu schauen. Ein Laden, in dem die Schülerin, verwirrt von den Blicken des Mannes, die Dose fallen lässt, die sie gerade wegstellen wollte, worauf diese an seinem Kopf für eine Platzwunde sorgt, ehe sie mit einem dumpfen Schmatzen am Boden zerplatzt. Ein Laden, in dem die grummelige Alte erst die Tomaten mit einem Lappen vom Boden aufwischt und dann die Kopfverletzung mit einem Steak kühlt, während die Schülerin verzweifelt versucht, den bewusstlosen Fremden ins Leben zurückzureden.

    Ich wasche mir die Wundcreme mit selbstgeschöpfter Pfirsichseife von den Fingern und schenke meinem Spiegelbild ein spöttisches Lächeln.

    Nachdem ich am Tag meines Bewerbungsgespräches das erste Mal in den Regalgängen die psychologisch erforschte Idealreihenfolge von Gütern des täglichen Bedarfs abgelaufen hatte, während Supermarkt-Pingelmusik meine Willenskraft lahmlegen sollte, war mir natürlich sofort klar, dass es sich beim EMMA nicht im Entferntesten um das von mir phantasierte Lädchen handelte. Mein Spiegelbild lächelt spöttisch zurück.

    Ich nehme das Nachthemd von der Heizung und tauche zwischen die Stoffbahnen. Dabei stoße ich erst mit der Hüfte die Seifenschale von den Seerosen und dann einen wütenden Fluch aus: »Verdammt! Schon wieder!« Mein schmales Bad und mein breites Becken sind einfach nicht füreinander bestimmt. »Völlig falsch lag ich trotzdem nicht«, versichere ich mir, als ich den Kopf wieder frei habe, und strecke dem Spiegel die Zunge raus. »Immerhin ist das EMMA auch kein ganz gewöhnlicher Supermarkt!«

    Das EMMA ist nämlich insofern eine Seltenheit, als es nicht einer Handelskette gehört, sondern Herrn Behnke, unserem Chef. Die Töchter von Herrn Behnke heißen Emilia und Maria, und weil ihm der Laden genauso sehr ans Herz gewachsen ist wie seine beiden Mädchen, hat er das Geschäft nach ihren Anfangsbuchstaben benannt: Em-Ma. Jedenfalls baut er diese Anekdote zu jeder Weihnachtsfeier und jedem Firmenjubiläum in die feierlichen Ansprachen an seine Mitarbeiter ein.

    Ich habe seine Töchter noch nie gesehen, falls er denn überhaupt welche hat, und weiß nicht, ob die Geschichte stimmt. Aber ich finde die Vorstellung wunderbar, dass Herr Behnke die Namen seiner Töchter als Talisman für das Gelingen seines kaufmännischen Schicksals verwendet.

    Ich stelle mir vor, wie er Emilia und Maria, die mittlerweile erwachsene Frauen sein müssen, eines Morgens kurz nach der Firmengründung mit einem Küsschen weckt. Dabei ahme ich vor dem Spiegel seinen Gesichtsausdruck nach, hebe die Augenbrauen, dehne meine Mundwinkel übertrieben und beobachte, wie sich auf meinem Gesicht ein spitzbübisches Grinsen breitmacht. Herr Behnke ist viel aufgeregter als seine Zwillinge, denn zu ihrem heutigen sechsten Geburtstag hat er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht: Er hat über dem neu eröffneten Laden einen leuchtenden Schriftzug mit ihren Initialen anbringen lassen. Noch verhängt ein Bettlaken die vier Buchstaben. Aber wenn er gleich mit seinen beiden Geburtstagskindern vor der automatischen Schiebetür stehen wird, dürfen sie an einer Kordel ziehen und den Schriftzug enthüllen. Ja, dann werden die Mädchen sehen, wie viel sie ihrem Vater bedeuten! Ergriffen wird er die Kinder im Arm halten … Meinem Spiegelbild zittert die Unterlippe und mit flatternden Lidern vertreibe ich gekonnt ein paar Tränen.

    Ich seufze vor Rührung.

    Dann stütze ich meine Arme auf den Waschbeckenrand und nicke mir zufrieden zu. Doch. Genau so könnte es gewesen sein. Das würde zu Herrn Behnke passen. Er ist so ein stolzer Mensch. Voller Begeisterung für die Dinge, die er tut. Ich arbeite sehr gerne für ihn.

    Natürlich erwartet er, dass wir unsere Arbeit erledigen. Aber er verlangt nichts Unmögliches und er hat einen guten Blick für die Stärken und Schwächen seiner Mitarbeiter. Das Einräumen der Regale während der Öffnungszeiten überlässt er möglichst nicht mir. Schließlich passt kein Kunde mehr vorbei, wenn ich im Gang stehe, um Äpfel und Bananen aufzustocken.

    Dafür bin ich unschlagbar an der Kasse. Die Kunden mögen mich und ich mag die Kunden. Die Wünsche und Nöte der Stammkunden kenne ich in- und auswendig. Ich weiß, wer Hilfe beim Geldabzählen benötigt, wer unbedingt den Beleg mitnehmen möchte, wer schnell fertig werden will und für wen das kurze Gespräch beim Bezahlen der einzige Sozialkontakt und Höhepunkt des Tages ist. Ich weiß, wer seinen Autoschlüssel liegen gelassen hat und wer immer vergisst, Obst und Gemüse zu wiegen. Wer eine Tüte braucht und für wen ich die Zigaretten freischalten muss. Eine Kundin, die regelmäßig in der Mittagspause vorbeigeeilt kommt, um eine Salatbox und einen Joghurt zu kaufen, hat mir trotz ihrer knapp bemessenen Zeit mal zugerufen: »Ich freue mich immer, wenn Sie an der Kasse sitzen! Sie strahlen so gute Laune aus, das färbt richtig ab.« Seitdem finde ich meine Arbeit im Supermarkt wichtig und wertvoll.

    Dass ich stundenlang an der Kasse sitzen kann, ohne mich zu langweilen, hat aber auch noch einen anderen Grund: Während ich die Waren über den Scanner ziehe, erfinde ich Geschichten. Die Kunden liefern mir von früh bis spät die Ideen dazu. Ich sehe die Ware, die sie auf das Einkaufsband legen, sehe den Menschen, der den Einkauf tätigt, und sofort stelle ich die Verbindung her. Das ist meine Lieblingsbeschäftigung. Und sie ist deshalb so wichtig und wertvoll, weil meine Geschichten die Welt verschönern. Einfach, weil ich die Geschichten so erzähle, dass sie mir guttun.

    »Geschichten verschönern die Welt!«, rufe ich ins Bad hinein, während ich den Bademantel überziehe und eine grünlich schimmernde Gesichtsmaske auftrage.

    Jeden Tag denke ich mir Hunderte von Geschichten aus. Unter der Kasse habe ich neben dem Stapel mit den Papiertüten ein Büchlein versteckt. Dort trage ich zwischendurch Stichworte ein. Meistens reicht es schon, die Ware zu notieren, damit mir die Idee später wieder einfällt. Abends schaue ich dann in mein Büchlein und halte die besten Storys auf meinem Laptop fest.

    Der Gedanke an mein Geschichtenbüchlein bringt mich in Schwung. Ich schlüpfe in Hauspantoffeln, die ich vor zwei Jahren mit Pailletten bestickt habe, ziehe den Gürtel meines Bademantels enger und schlittere hinüber ins Wohnzimmer. Die Kombination aus den Dielen meiner Altbauwohnung und dem Filz an meinen Sohlen verpflichtet mich jeden Abend zu dieser albernen Sporteinheit. Mittlerweile habe ich ein gewisses Schlittergeschick entwickelt. An guten Tagen gelingt es mir, mit dem richtigen Schwung aus dem Badezimmer durch den Flur bis direkt vor die Wohnzimmercouch zu rutschen. Heute schaffe ich nicht mal den halben Weg, was vorherzusehen war, weil die Hausschuhe feucht geworden sind und nicht gut gleiten. Ich nutze die ungewollte Bremsung für einen Umweg in die Küche, wo ich ein Gläschen Aperol mit Sekt aufgieße, ehe ich mich ächzend auf dem Sofa niederlasse und den Laptop hochfahre.

    Von dem Büchlein und meinen Geschichten habe ich noch nie jemandem erzählt. Wem auch? Meinen Kollegen? Die würden eh nicht verstehen, weshalb ich mich in meiner Freizeit freiwillig mit Kundschaft beschäftige. Meinen Eltern? Immerhin sind sie beide Deutschlehrer. Aber ich fürchte den vorwurfsvollen Blick meiner Mutter, wenn sie zum Angriff übergeht und mir einen Vortrag darüber hält, dass ich nichts Ordentliches aus meinem Leben mache. Dass sie es mir schon immer gesagt hat und dass ich mit ein bisschen Mühe viel mehr erreichen könnte als einen Sitzplatz im Supermarkt.

    Mein Vater würde mich behandeln wie damals, als ich das erste Mal mit Wasserfarben gemalt habe. Er würde »Merle, meine Perle« murmeln, beiläufig nicken und sich wichtigeren Dingen zuwenden.

    Meiner Schwester mag ich auch nichts erzählen. Wir haben ohnehin seit Ewigkeiten keinen Kontakt mehr. Sie würde wahrscheinlich denken, dass ich die Geschichten irgendwo abgeschrieben habe, um mich wichtigzumachen. Und das bloß, weil ich in der achten Klasse mal einen Sommer lang vorgegeben habe, an einer Kreativwerkstatt teilzunehmen, wo angeblich selbstgeschriebene Texte für einen landesweiten Literaturwettbewerb ausgewählt würden. In Wirklichkeit hatte ich mich jeden Mittwochnachmittag unter einer Autobahnbrücke verkrochen, in der Hoffnung, dort von niemandem entdeckt zu werden. Das Ganze flog auf, als es kühler wurde. Ich hatte mich eine gefühlte Ewigkeit draußen herumgedrückt und war, als ich schließlich klitschnass zu Hause ankam, nur noch ein Häufchen Elend. Zitternd, frierend, heulend und mit einer heftigen Erkältung gestand ich meiner Mutter, dass es gar keine Kreativwerkstatt gegeben hatte. Sie hat mich damals ins Bett geschickt und nie wieder ein Wort darüber verloren. Aber die mütterliche Enttäuschung stand ihr tagelang dermaßen ins Gesicht geschrieben, dass mich auch der letzte Funken Selbstwertgefühl für lange Zeit verließ.

    Wie um eine neuerliche Erkältung abzuwenden, ziehe ich den Kragen meines Bademantels enger. Ich gönne mir einen Schluck vom gespritzten Aperol und schlage in meinem Büchlein die Stichwörter des Tages auf. Einwegrasierer steht ganz oben auf der Liste, und ich erinnere mich sofort an den nervösen Geschäftsmann, der außer den Rasierern nichts weiter aufs Band gelegt hat. Dabei hat er sich so sehr bemüht, nicht aufzufallen, wie sonst nur die Kunden, die ihre Kondome unter einer Schachtel Schoko-Herzen verstecken. Ich öffne den Ordner Eintagsfliegen, in dem ich meine Kurzgeschichten ablege, und versuche mich an Marc Seltner, den verschämten Rasur-Einkäufer, zu erinnern. Herr Seltner und seine Rasierer kommen mir gerade recht. Sie sind prädestiniert für eine Hannah-Geschichte!

    Hannah ist eine von meinen Strickfrauen. Streng genommen müssten die Strickfrauen Kochfrauen heißen, denn ich habe sie vor acht Jahren bei Mittag machen mit Molligen kennengelernt. Hinter diesem verboten blöden Titel verbirgt sich ein von den Krankenkassen finanzierter Präventionskochkurs, der dazu anregen sollte, dysfunktionale Essgewohnheiten zu identifizieren, um gesunde Mahlzeiten gemeinsam mit anderen Betroffenen zuzubereiten und bewusst zu genießen. Zwar hat der Kurs bei keiner von uns dazu geführt, den BMI nennenswert in gesellschaftlich akzeptierte Bereiche zu senken, trotzdem würde ich sagen, dass es die erste und einzige meiner zahlreichen Kampfansagen ans Übergewicht war, die für irgendetwas taugte. Immerhin habe ich dabei Hannah, Jasemin und Carola kennengelernt. Blitzschnell haben wir uns wortlos und vermutlich dysfunktional darauf geeinigt, die gesundheitsbewussten Vorsätze rund ums gemeinschaftliche Kochen den angeregter Betroffenen zu überlassen und uns stattdessen auf das Genießen zu konzentrieren.

    Bei einer dieser Gelegenheiten identifizierten wir das Stricken als ein von uns allen geteiltes Hobby und funktionalisierten es zu einem wöchentlichen Treff. Jeden Mittwoch. Wirklich. Richtig schön und ganz ohne Autobahnbrücke! Und als uns nach ein paar Jahren beim besten Willen nichts mehr einfiel, was sich noch stricken ließe, haben wir das anfängliche Strick- in ein allgemeines Bastelkonzept umgewandelt.

    Nur schade, dass die Finanzierung unserer Gruppe nicht über den Präventionsetat der Krankenkassen läuft! Wolle ist teuer. Genau wie selbsthärtende Knetmasse. Oder Schmelzgranulat. Auch Kleber gibt es nicht umsonst und winzige Glasperlen, ja, sogar alte Papierreste kosten einen Haufen Geld. Wenn ich ein Bastelgeschäft betrete, verabschiede ich mich innerlich gleich von der Hälfte meines Monatsgehalts, obwohl das Material, das ich dafür aus dem Laden tragen darf, nur die Hälfte meines Einkaufkörbchens füllt. Wenn’s hochkommt.

    Zur Wertschätzung der in Knete & Co. investierten Geldsummen habe ich irgendwann angefangen, meine Bastelgeschäft-Kassenbelege aufzubewahren. Etwas später habe ich sogar die Belege selbst verbastelt. Sozusagen als stille Rebellion gegen überteuerte Bastelpreise. Getreu dem Motto Lieber die Wohnung verschandelt, als schlecht gehandelt! habe ich damals die Wand hinter meinem Bett weinrot angestrichen, zwei pummelige Putten darauf projiziert und ihre Umrisse mit Bleistift nachgezogen. Das Malen der Engel ist mir recht gut gelungen, aber um alles schön plastisch wirken zu lassen, mache ich seither das, was früher wohl vor allem gelangweilte englische Damen der gehobenen Gesellschaft getan haben: Ich quille. Erst schneide ich alle Bastelbelege in schmale Streifen, dann wickele ich sie auf einen Zahnstocher und klebe die so entstandenen Kassenbelegkringel (natürlich ohne den Zahnstocher) auf. Der rechte Engel ist schon fertig und sieht richtig kunstvoll aus mit seinen vielen geschwungenen Streifchen. Ich nenne ihn KaBeQue. Kassenbeleg-Quillengel. Wie ich den linken nennen werde, wenn

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