Giftglobuli
Von Wolfgang Jezek
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Buchvorschau
Giftglobuli - Wolfgang Jezek
Zum Buch
Kontroversen Kann man mit Globuli jemanden vergiften? Wo doch in diesen – laut Lehrmeinung – nichts enthalten ist? Eine Chemieprofessorin und fanatische Homöopathiegegnerin wird in Wien tot aufgefunden. Alles spricht dafür, dass sie an einer Tollkirschenvergiftung gestorben ist. Doch wie ist das Gift in ihren Körper gelangt? Die Journalistin Elvira Sommerauer ist zufällig in der Nähe des Tatorts. Sie beginnt, zusammen mit dem desillusionierten Kommissar Manfred Zapletal, zu ermitteln. Schnell gerät sie in die Kampfzone zwischen Homöopathen und deren Gegnern. Die beiden Parteien stehen sich unversöhnlich gegenüber, jede Seite beharrt auf ihren Argumenten. Hüben wie drüben lernt Elvira skurrile, arrogante, verbohrte, aber auch ehrlich bemühte Menschen kennen. Sie kommt zum Verdacht, dass der Professorin ihr Hass gegen die umstrittene Heilmethode zum Verhängnis geworden ist. Und schließlich muss sie um ihr eigenes Leben kämpfen …
Wolfgang Jezek wurde in Wien geboren und ist ein kritischer Liebhaber dieser Stadt. Er hat – abgesehen von einem dreijährigen Intermezzo in der Schweiz – immer dort gelebt. Seit 20 Jahren arbeitet er als niedergelassener Psychiater und Homöopath. Seine heimliche Liebe gilt seit seiner Jugend dem Schreiben, vor allem von Lyrik und Prosatexten. Vor einigen Jahren hat sich Wolfgang Jezek dem Krimigenre zugewandt. Im Jahr 2017 ist sein literarischer Kärnten-Krimi „Rachemond" im Gmeiner-Verlag erschienen.
Wolfgang Jezek ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. In seiner spärlichen Freizeit hält er sich gern in der „Kaiserstadt" Bad Ischl im Salzkammergut auf, geht in die Natur, beschäftigt sich mit Spiritualität und Bogenschießen.
Impressum
Sämtliche Figuren dieses Romans sind meiner Fantasie entsprungen. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Bru-nO / pixabay
ISBN 978-3-8392-6594-9
Widmung
Dieses Buch widme ich meinen Eltern,
die mich von Anfang an gefördert und geliebt haben.
Zitat
»One can’t believe impossible things,« Alice said. »I daresay you haven’t had much practice,« said the Queen. »When I was your age, I always did it for half an hour a day. Why, sometimes I’ve believed as many as six impossible things before breakfast.«
Lewis Carroll
(Alice in Wonderland)
Prolog
(Leipzig, 1821)
Aude Sapere1
(Horaz)
Das Königlich-Sächsische Gericht in Leipzig. Auf der Anklagebank sitzt Doctor Samuel Hahnemann, Arzt, Arzneimittelhersteller und Schriftsteller. Hahnemann ist 66 Jahre alt, trägt einen schäbigen Gehrock und Glatze, ist von vitaler und hitziger Konstitution. Auf der Zeugenbank haben Doctor Eugenius Hüllmeyer, Vertreter der Leipziger Ärzteschaft, und Magister Lambertus Primus, Vertreter der Apotheker Leipzigs, Platz genommen. Hüllmeyer trägt feines Tuch und eine ungerührte Miene zur Schau, ist dabei aber sichtlich erregt. Bei besonderer Anspannung verstärkt sich ein Tic, der seine linke Gesichtshälfte zucken lässt. Primus ist ein kleines Männchen mit hoher Stimme, auch in feines Tuch gekleidet. Er ist ebenso aufgebracht, nimmt öfter eine Prise Schnupftabak, welches ihn zu lautem und heftigem Niesen nötigt. Zwischen Hahnemann und seinen Kontrahenten sitzt etwas erhöht Richter Matthäus Altglauber, sichtlich enerviert von der bisherigen Sitzung. Die Flöhe unter seiner weißen Perücke lassen ihn immer wieder verzweifelt sein Haupt kratzen. Im Gerichtssaal herrscht große Unruhe, welche sich von stetigem Murmeln bis zu lautem Schreien steigern kann.
Altglauber: Ruhe im Gerichtssaal, Ruhe! (schlägt mit seinem Hammer auf eine ambossähnliche lederne Fläche auf dem Pult vor ihm). Wenn keine Ruh hier herrscht, kann man nichts aushandeln! Also, Doctor Hahnemann, erklär Er nochmals Seine Method, sodass ein jeder es versteht, sollt er auch kein Medicus seyn!
Hahnemann: Euer Ehren, habs schon probirt, aber kein passend Gehör gefunden. Also nochmals, der erste Grundsatz lauthet: Des Artztes höchster und einziger Beruf ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man Heilen nennt2.
Altglauber: Aber was ist da dran neu an der Lehr? Was Er da vermeldt, versteht sich doch von selbst!
Hahnemann: Gantz und gar nicht, Euer Ehren! Ich versuch, die Menschen zu heilen, indess die andern Ärtzt versuchet, sie z’ Grund zu richten!
Hüllmeyer (bekommt einen Wutausbruch, starke Zuckungen im Gesicht): Selb ist doch der Gipfel der Impertinenz, Euer Ehren! Was erdreistet sich der Kerle da, der Hahnemann!
Altglauber (kratzt sich am Kopf, dann zu Hüllmeyer): Mäßig Er sich, Er scheint ja dem Apoplex3 schon nahe! Jetzt ist der Hahnemann am Wort! Er bekommt noch sein Glegenheit sich zu explizirn! (Zu diesem): Nun setz Er fort, auf dass man Ihm folgen könnt!
Hahnemann (mit einem giftigen Blick zu Hüllmeyer): Nun, was ich mein, ist dies: Die Cur sollt so beschaffen seyn, dass sie dem Kranken mehr nutzt als schadt. So selbstredend ist das nicht. Die Ärtzt von der alten Schul setzet Artzneyn ein, die mehr von Schaden als von Nutzen seyn. So werdet bei manch Gebrechen heftige Purgantien4 verwendt, die eher für ein Ross als für ein Menschen passend seyn. Aber das Ross scheißt ganz von allein …
(Laute Rufe im Saal, Gelächter. Richter Altglauber versucht, wieder Ruhe herzustellen): Mäßig auch Er sich, Hahnemann! Ihr seynd doch Ärtzt, und redt wie die Fuhrknecht!
Hahnemann: Die starken Purgantien also, die bringet d’ Leut um, wenn sie ohnedies schon schwach von Konstitution seyn! Das Purgans verbringt den Kranken erst ins Purgatorium5, dann geradewegs in d’ Höll!
(Wieder Tumult im Gerichtssaal, der Richter zunehmend verzweifelt): Dies seyn aber schwere Gschütz, mit denen Er auffahret, Hahnemann! Will Er sich denn alle Ärtzt der Stadt zum Feind machen? Hat Er noch nicht Feind gnug?
Hahnemann (wird immer lauter und leidenschaftlicher): Oder die Aderläss, Euer Ehren! Hab schon abglassen zu zählen, wie viel Leut mit Aderläss das Lebenslicht ausglöscht worden ist! Anno Domini 1792 hab ich zu Wien practicirt, da ist der Kaiser Leopoldus von seine Leibärtzt mit Aderläss zu Thode curirt worden. Mal um Mal haben sie ihn zur Ader glassen, obwohl die Lebenskräft des Monarchen schon ganz und gar dahin gschwunden seyn … Wenn die Lebenskraft dahinschwindt, muss ich sie stärken und darf ihr doch nicht mit ärtztlicher Hülf – so man selbige auf diese Weis benennen wollt – weiter zum Schwinden Anlass geben!
Altglauber: Und wie curirt Er die Kranken, was ist anders bei seiner Lehr?
Hahnemann: Durch kleine Gaben der Artzneyn, Euer Ehren! Und indess ich das Gleiche mit Gleichem curir. Similia similibus curentur6! Findt Er also beschriben in mein größten Werk, dem Organon!
Hüllmeyer (kann nicht mehr an sich halten): Das ist doch der allergrößt Galimathias, Euer Ehren! Das ist doch widrig jedem wohlbeschaffnen Menschenverstand! Verbiet Er doch dem Hahnemann, solchen Unsinn zu distribuirn7! Und der Mensch da redt von sein größten Werk! Ein Machwerk ist selbiges, ein Machwerk. Mag der Leibhaftige es holen!
Altglauber (kratzt sich am Kopf, schlägt verzweifelt auf das Leder): Mäßig Er sich doch, mäßig Er sich! Und bericht Er nun in wohlgesetzter Weis, was Er gen den Hahnemann vorzubringen hätt!
Hüllmeyer (ringt um Contenance): Euer Ehren, selten noch musst ich mich wegen der Impertinenz von einer Person derart echauffirn8! Er hat selbig ghört, dass der Hahnemann uns Ärtzt vorwirft, wir bringet d’ Leut um! Und er selber ist der ärgst Quacksalber unter Gottes erhabner Sonn! Per exemplum Seine Durchlaucht, der allgerühmt Generalfeldmarschall Fürst von Schwarzenberg, Überwinder des Diktators Napoleon bei der allhiesigen Völkerschlacht …
Altglauber (unterbricht ihn): Wir all wisseten, wer der Schwarzenberg gwest ist!
Hüllmeyer: Also, Seine Durchlaucht Fürst von Schwarzenberg, hat sich zur Cur zum Hahnemann begeben. Man beacht auch die Impertinenz: Nicht der Artzt geht zum Fürst, sondern der Fürst musst sich beim Artzt zur Cur einfinden …
Altglauber (ungeduldig): So komm Er doch zur Sach!
Hüllmeyer (ungeduldig): Also, der Fürst von Schwarzenberg ergibt sich dem Hahnemann voll Gottvertraun zur Cur, und was passirt: Er muss viel Monat leydn und stirbt erst recht an den Artzneyn!
Hahnemann (unterbricht): Weil seine Durchlaucht, der Fürst, nicht dem Branntwein entsagen wollt! Sein Leber war ruinirt und hat zuletzt den Dinst versagt …
Hüllmeyer (wird laut): Was für ein unverschämte Person er doch ist, der Hahnemann! Solch Lügen über Sein Durchlaucht zu explizirn! Wohlgemerkt redt da eine Person von niedrem Stand über ein Fürsten!
Hahnemann (mit geschwollener Zornesader an der Schläfe): Mein Herr Vatter ist ein wohlangsehner Porzellanmaler zu Meissen gwen! Und woher will Er wissen, dass meine Wort Lügen seyn? Bei wem war der Schwarzenberg zur Cur, bei Ihm oder bei mir?!?
Richter (kratzt sich am Kopf, lässt wieder den Hammer niedersausen): Schluss, vermaledeit noch mal, Schluss damit! Kennet Ihr Ärzt denn gar kein Disciplin vor Gericht? (an Magister Primus gewandt): Was hat denn Er, Primus, Magister der Pharmazie, gegen den Hahnemann vorzubringen?
Primus (nimmt, bevor er antwortet, noch eine Prise Schnupftabak, niest dann kräftig): Euer Ehren, der Doctor Hahnemann vermeint, er hätt die Heilkunst völlig neu invenirt! Hör Er sich an, was in sein Pamphlet, dem Organon, gschrieben steht. (Zieht theatralisch ein Buch aus seinem Umhang hervor, hält es voll sichtlicher Abscheu in der Hand) Lass Er mich zitirn: Soviel warne ich im Voraus, dass Indolenz, Gemächlichkeit und Starrsinn vom Dienst am Altare der Wahrheit ausschließt, und nur Unbefangenheit und unermüdeter Eifer zur heiligsten aller menschlichen Arbeiten fähigt, zur Ausübung der wahren Heilkunde. Der Heilkünstler in diesem Geiste aber schließt sich unmittelbar an die Gottheit, an den Weltschöpfer an, dessen Menschen er erhalten hilft und dessen Beifall sein Herz dreimal beseligt. (Er lässt das Buch theatralisch sinken.) Hier erhebt sich der Sohn von ein Porzellanmaler zum Herrgott. Welchene Hybris ist nicht das!
Altglauber: Mag der Doctor Hahnemann auch ein sich selbst überhebender und schlecht verträglicher Mensch sein. Aber das ist nichts, was nach der Justitia verlangt. Was für eine Klag führt Er gegen ihn? Was will Er vom Hohen Gericht?
Primus: Der Hahnemann ist Artzt und erdreist sich, Artzneyn herzustelln und an die Kranken zu distribuirn. Das ist Sach der Apotheker und nicht der Ärtzt. Hahnemann maßt sich ungenirt an, was ihm nicht gebürt.
Altglauber (zu Hahnemann): Hat Er das Fabrizirn von Artzneyn denn studirt, dass Er sie distribuirt?
Hahnemann: Viel Jahr lang und mit größter Obacht, Euer Ehren! Viel Kranke hab ich auf die Weis curirt, der Geheilten Schar ist groß!
Primus: Er, Hahnemann, verletzt das Gsetz, dass das Fabrizirn und Distribuirn von Artzneyn Sach der Apotheker ist! Kennt Er das Gsetz oder nicht?
Hahnemann: Wohl, ich kenns! Aber kein Gsetz der Welt kann mich obstruirn, die einzig wahre Heilmethod zum Sieg zu führn!
Primus (aufgeregt, mit sehr dünner Stimme): So hat Er denn die Veritas9 mit güldnem Löffel in sich inkorporirt? Glaubt Er denn, dass Er alle Freiheit dieser Welt bsitzt wie unser allmächtger Herr Jesus Christ?
Altglauber (schlägt wieder heftig mit dem Hammer auf die Unterlage): So mäßig Er sich auch! Möcht wer glauben, dass hier Studirte versammelt seyn? Mit manch Fuhrwerkern oder Dirnen ist leichter die Verhandlung zu führn als mit Euch! (wieder zu Hahnemann): Was kann Er zu seiner Defensio10 vortragen, wenn Er sich nicht ans Gsetz hält?
Hahnemann starrt vor sich hin, sagt nichts.
Altglauber (sehr ungeduldig, kratzt sich heftig am Kopf): Er, Hahnemann, mag Er nichts sagen zu dem Betreff?
Hahnemann (scheint wie aus einer Trance zu erwachen): Euer Ehren, Euer Hammer und der Amboss … Ich mein, ich hätt grad eine Invention ghabt. Wie kommt noch mehr Dynamis in die Artzney …? Möglicherweis durch Schütteln, Verschütteln, auf einer harten Unterlag … Dann könnt man den Effect potenzirn …
Hüllmeyer (triumphierend): Euer Ehren, braucht es noch ein Beweis, dass der Mann toll gworden ist? Den Verstand verloren hätt? Ins Tollhaus11 mit ihm! So einer kann doch kein Medicus mehr seyn! Ins Tollhaus oder hinweg aus der Stadt! (Großer Tumult im Saal. Gegner und Befürworter Hahnemanns beginnen, aufeinander loszugehen. Wütende Stimmen wogen hin und her)
Altglauber (am Ende seiner Geduld, die Perücke beginnt ihm herunterzurutschen): Ruhe alle miteinand, sapristi und vermaledeyt, Ruhe! Wenn nicht alsbaldigst Ruh herrscht, lass ich den Saal räumen! Schergen, aufmarschirt! (uniformierte Gerichtsdiener pflanzen sich vor der Menge auf) Das Hohe Gericht zieht sich zu einer Berathung zurück. Dann wird das Urtheil verkündet. Und bis dahin herrscht eine Ruh! (verschwindet mit seinen Beisitzern durch eine Tür in der Wand)
Nach etwa einer Viertelstunde erscheint der Richter. Alle Anwesenden haben sich erhoben. Im Saal herrscht weiterhin eine gewisse Unruhe.
Altglauber (setzt sich): Alles setzen! (kleine Pause, einer der Gerichtsdiener lässt einen Trommelwirbel ertönen) Im Namen Seiner Majesthät, Friedrich August des Ersthen, des allmächtigen und güthigen Königs von Sachsen, ergeht folgender Richtspruch: Dem Doctor Samuel Hahnemann, geboren am 10. April 1755 zu Meissen, Doctor der gesamten Heilkunde, wird bei Strafe untersagt, in eigener Macht Artzneyn zu fabrizirn und an Kranke zu distribuirn. Diese Regel gilt für die Reichsstädt Leipzig und Dresden, auf dem freien Land kann er weiterhin und wie gehabt frei praktizirn, sofern keine Apothek in der Näh sich findet. In der Causa der Freiheit, als Medicus zu practizirn, ergeht noch kein Beschluss. Andre Zeugen müssen zu der Sach inquirirt werden. Die Verhandlung wird auf ungwisse Zeit vertagt. Ende des Richtspruchs (verlässt eilig und sichtlich erleichtert den Saal).
Hahnemann steht auf und wirft dem Apotheker einen hasserfüllten Blick zu. Dieser schaut ihn höhnisch an, ebenso der Doktor Hüllmeyer. Die Anwesenden verlassen der Reihe nach den Gerichtssaal, kommentieren lautstark das Urteil.
Hahnemann (wütend, laut zu den Anwesenden): Und auch wenn wir allesamt nicht mehr auf Erden wandeln, mein Method wird auch in 200 Jahr noch practicirt wern und an der Zeiten End den Sieg davontragen! Der allmächtge Gott wird kämpfen an meiner Seit! Aude sapere!
1 Wage zu wissen (Wahlspruch Hahnemanns, seinem Hauptwerk Organon der Heilkunst vorangestellt)
2 § 1 des »Organon«
3 Schlaganfall
4 Abführmittel (wörtlich Reinigungsmittel)
5 Fegefeuer
6 Ähnliches soll mit Ähnlichem geheilt werden (= Ähnlichkeitsgesetz, Grundlage der Homöopathie)
7 verbreiten
8 erregen
9 Wahrheit
10 Verteidigung
11 Irrenhaus
1. Kapitel
(Wien, im Frühjahr 2016)
Im Tod wird das Viele eins,
im Leben wird das Eine zur Vielfalt.
(Rabindranath Tagore)
»Elvira, was machst denn du da?«
Diese schaute in das unrasierte Gesicht eines attraktiven, aber verlebt wirkenden Mannes, der sie erstaunt musterte. Sie wusste im Moment nicht, mit wem sie es zu tun hatte. Seine Haare waren grau, die Augen ebenso, auch das Gesicht wies eine gräuliche Färbung auf. Starke Raucher sehen so aus, ging es Elvira durch den Kopf. Die relativ große Erscheinung war mit einer braunen Lederjacke und blauen Jeans bekleidet. Dazu trug der Mann braune Halbschuhe, die deutliche Gebrauchsspuren aufwiesen.
»Kennst mich nimmer? Der Manfred!«
Sie kramte in ihrer Erinnerung herum. Endlich tauchte eine Gestalt auf: Manfred Zapletal, Kriminalbeamter am Kommissariat Döbling. Sie hatte den Beamten kennengelernt, als sie noch in Wien als Journalistin aktiv war. Er war einer der wenigen bei der Polizei gewesen, der sich der Presse gegenüber auskunftsfreudig gezeigt hatte. Besonders ihr gegenüber. Manfred hatte es sichtlich auf sie abgesehen gehabt, und er hatte ihr auch gefallen. Seine Zurückhaltung und ihre Schüchternheit hatten verhindert, dass es zu einer näheren Begegnung gekommen war. »Manfred, ja, jetzt kenn ich dich wieder!«, antwortete sie etwas verlegen. »Du schaust so … so anders aus.«
»Alt, willst sagen, nicht? Sprich’s nur aus, es stimmt ja!«
»Ja, älter geworden … wir alle werden älter. Aber was Jugendliches … hast dir schon noch bewahrt, in deinen Augen!« Elvira suchte nach Worten, um den Beamten nicht zu kränken. Manfred sah merklich gealtert aus. Müde wirkte er, die ganze Körperhaltung drückte Schwermut, fast Resignation aus. »Bist du immer noch bei der Kriminalpolizei?«, wollte Elvira wissen. »Wie hältst du das aus auf die Dauer?«
»Mit viel Zigaretten und Alkohol«, erwiderte Manfred augenzwinkernd. »Man macht halt seinen Job und am Abend geht man nach Haus. Und wie geht’s dir so?«
»Ich leb jetzt in Kärnten, bin verheiratet. Nach Wien verschlägt’s mich nur alle heiligen Zeiten. Wenn ich auf Besuch hier bin, komm ich mir richtig fremd vor.«
»Die Elvira als Landpomeranze? Na geh! Und grad bei den Kärntnern, den Narren? Wie haltst du’s bei denen aus?«
»Sind ganz gute Menschen, wenn man sie näher kennenlernt. Politisch waren’s halt ein bissel verwirrt mit dem Haider. Aber Narren gibt’s in Wien ja auch genug!«
Manfred nickte seufzend und wendete sich zum Gehen. »Elvira, darüber müssen wir uns einmal in Ruhe unterhalten. Würd mich echt interessieren, was du in Kärnten so machst. Aber jetzt muss ich in den oberen Stock, da liegt a Leich.«
Das darf doch nicht wahr sein, dachte Elvira. Schon wieder wurde sie mit einem Toten oder einer Toten konfrontiert! Nach der Katastrophe im Kärntner Lavanttal, bei der sie fast ums Leben gekommen war, hatte sie allen kriminalistischen Ambitionen abgeschworen. Nie wieder wollte sie sich in Gefahr begeben, nie wieder ihren Gerechtigkeitssinn vor das Eigenwohl stellen!
Sie war vorgestern gekommen, um ihre Freundin Malgorzata zu besuchen, die in der Pokornygasse im 19. Bezirk nahe der Döblinger Hauptstraße wohnte. Der »Neunzehnte« galt in Wien immer noch als Nobelbezirk, die Preise für Miete und Eigentum waren dementsprechend. In den vergangenen Jahren hatten der zunehmende Verkehr und die starke Verbauung dem Bezirk allerdings viel an Reiz genommen.
Die Wohnung Malgorzatas war Elviras Bleibe geworden, wenn sie sich in Wien aufhielt. Deren Tochter Danuta war mit 18 Jahren in eine WG gezogen, ihr Zimmer stand nun leer. Dieses durfte Elvira bewohnen, nachdem sie vor Jahren ihre Wohnung in Wien aufgegeben hatte. Sie fühlte sich seltsam im Jugendzimmer Danutas, zwischen all den Plakaten mit Popstars, von denen sie die meisten nicht einmal beim Namen kannte.
Malgorzata war eine 50-jährige geschiedene, immer noch attraktive Polin, die sich wegen ihrer kontrollierten Lebensweise eine straffe Figur bewahrt hatte. Elvira, die in den letzten Jahren etwas in die Breite gegangen war, beneidete sie darum. Und Malgorzata neidete Elvira wiederum ihre Ehe, ihre stabile Beziehung. Die Polin wirkte sexy auf Männer, aber auch abweisend. Bei der Partnerwahl war sie anspruchsvoll. Und im Grunde, was Sexualität anbelangte, sehr katholisch. An diesem Vormittag war sie – wie jeden Werktag – als Chefsekretärin einer großen Rechtsanwaltskanzlei tätig. Gestern Abend hatten die beiden Frauen noch lange geplaudert und gelacht.
Elvira hatte vorhin am Gang lautes Rumoren gehört, schwere Schritte und Stimmen von mehreren Männern. Das ist doch seltsam, hatte sie gedacht und die Tür aufgemacht, um gleich darauf in das Gesicht von Manfred zu blicken.
»Also bist du beruflich da, in unserem Haus! Darf ich mit hinaufschauen?«, fragte sie spontan, als der Inspektor sich zum Gehen anschickte. Gleich bereute sie die Frage wieder. Was machte sie oben, was erwartete sie da? Aber sie merkte das Kribbeln in der Magengegend, das ihr von früher vertraut war.
»Bist verrückt, Elvira?« Manfred schaute sie entgeistert an.
»Manfred, ich werd da oben schon nicht umfallen!«, hörte sich Elvira sagen. »Bitte!«
»Na gut.« Der Inspektor zuckte mit den Achseln. »Muss ja sonst keiner wissen, dass du da warst, und du rührst eh nichts an!«
»Natürlich, versprochen!«
Beide stiegen einen Stock höher. Die Feuerwehr war anwesend, die Tür war aufgebrochen worden. Beim Betreten der Wohnung schlug ihnen ein übler Geruch entgegen. Elvira hielt sich ein Taschentuch vor die Nase, ihr wurde schwindlig. Nur ja nicht kollabieren!
Die Wohnung war voller Männer. Hinter der Verkleidung der Spurensicherung, die an Raumanzüge erinnerte, war auch das Gesicht einer Frau zu erkennen.
»Weibliche Leiche, fast unbekleidet, circa 60 Jahre alt.« Ein junger Beamter trat auf Manfred zu. Er war blond, hatte ein