Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Tod im Gleisdreieck: Rhein-Main-Krimi
Tod im Gleisdreieck: Rhein-Main-Krimi
Tod im Gleisdreieck: Rhein-Main-Krimi
eBook260 Seiten3 Stunden

Tod im Gleisdreieck: Rhein-Main-Krimi

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Groß-Gerau in den 80ern:
Die drei Außenseiter Sebastian, Klaus und Olli könnten unterschiedlicher nicht sein und sind doch seit der Grundschule miteinander befreundet. Sie treffen sich regelmäßig in einer Schrebergartenhütte im Gleisdreieck. Der perfekte Ort zum Abhängen und Feiern, aber in einer Nacht läuft dort alles aus dem Ruder und die Teenager werden in etwas verwickelt, was sie den Rest ihres Lebens prägen wird.

Frankfurt 2014:
Als Sebastian, mittlerweile ein erfolgreicher Geschäftsmann, schwer erkrankt und erfährt, dass er nicht mehr lange zu leben hat, möchte er sein Gewissen erleichtern und endlich nicht mehr schweigen müssen.
Er lädt seine beiden Jugendfreunde nach Frankfurt ein, um reinen Tisch zu machen. Doch bei dem Treffen auf dem Main Tower brechen die alten Konflikte wieder auf. Können die damaligen Geschehnisse im Gleisdreieck für immer begraben werden?
SpracheDeutsch
Herausgebermainbook Verlag
Erscheinungsdatum22. Jan. 2020
ISBN9783947612673
Tod im Gleisdreieck: Rhein-Main-Krimi

Mehr von Ralf Schwob lesen

Ähnlich wie Tod im Gleisdreieck

Ähnliche E-Books

Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Tod im Gleisdreieck

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Tod im Gleisdreieck - Ralf Schwob

    Danksagung

    Erstes Kapitel

    Winter 2014

    Stimmen unten im Hausflur. Dann das Geräusch von Sarahs Stöckelschuhen auf dem Parkett. Sebastian ließ das Foto, das er eben noch betrachtet hatte, in der obersten Schublade seines Schreibtischs verschwinden. Sarah öffnete die Tür zu seinem Arbeitszimmer und steckte den Kopf herein.

    „Kommst du?"

    „Gleich."

    „Der Fahrer sagt …"

    „Ich weiß."

    Sarah legte die Stirn in Falten. „Sag mal … ist alles in Ordnung?"

    Sebastian lächelte gequält. „Kopfschmerzen, das ist alles …"

    „Schon wieder?"

    „Nein. Immer noch."

    Er spürte, wie sie einen Moment lang zögerte, dann kam sie doch ins Zimmer und legte ihm die Hände in den Nacken. Sebastian schloss die Augen.

    „Du bist bestimmt nur verspannt", sagte sie und begann, zärtlich seine Schultern zu massieren.

    Verspannt, dachte Sebastian, wenn es das nur wäre. Er spürte, wie sie sich zu ihm beugte und ihn auf den Mundwinkel küsste. „Ich warte unten."

    Sebastian nickte. Als er die Augen öffnete, überfiel ihn das mittlerweile schon bekannte Schwindelgefühl derart heftig, dass er die Augen sofort wieder schließen musste. Er hörte, wie sich Sarahs Schritte draußen auf dem Flur entfernten. Ein Hauch ihres Parfums war im Zimmer zurückgeblieben und lag noch in der Luft. Er musste sich zusammenreißen.

    Langsam, wie aus tiefem Schlaf erwachend, öffnete er erneut die Augen. Diesmal ging es besser. Die Kopfschmerzen waren zwar noch da, aber der Schwindel und die Übelkeit waren weg. Na also. Geht doch.

    Sebastian holte das Foto wieder hervor. Es war eine verblichene Polaroid-Aufnahme aus den frühen 80er Jahren. Das Bild war mit einer der damals beliebten Sofortbildkameras gemacht worden. Drei Teenager in Jeans und Adidas-Allround-Turnschuhen, die sich die Arme um die Schultern gelegt hatten. Links Olli Baumann, in der Mitte Klaus Schreiner und rechts er selbst. Seit damals hatte er fast alle Haare eingebüßt, dafür aber etliche Kilo an Bauch und Hüfte hinzugewonnen.

    Wann hatte er die beiden anderen eigentlich das letzte Mal gesehen? Er erinnerte sich an ein Klassentreffen vor etlichen Jahren. Olli war tatsächlich Berufsmusiker geworden. Er hatte ihm einen Flyer mit den Tourneedaten eines etwas abgehalfterten Sängers, in dessen Begleitband er damals spielte, gegeben, und Sebastian hatte versprochen, zu einem der Auftritte zu kommen, was er natürlich nie getan hatte. Klaus Schreiner war damals nicht zum Klassentreffen gekommen, er saß zu der Zeit gerade mal wieder im Knast.

    Sebastian sah noch einmal in die blutjungen Gesichter der drei Teenager auf dem Foto. Wo und wann war das Bild eigentlich aufgenommen worden? Er hatte keine Ahnung. Im Hintergrund verschwammen Grün- und Brauntöne zu einer undefinierbaren Melange. Auf der Rückseite von Polaroid-Bildern gab es keinen Datumsaufdruck. Die drei Teenager darauf mochten 15, 16 Jahre alt sein. Konnte das sein? Sebastian wollte sich gerade die Vorderseite noch einmal genauer ansehen, als es unten klingelte. Er fuhr so heftig zusammen, dass ihm das Foto aus der Hand fiel und auf dem glatten Parkettboden unter den Schreibtisch rutschte. Er hörte Sarah zur Vordertür stöckeln, öffnen und mit dem Fahrer reden, der lamentierte, dass sie den vorgegebenen Zeitplan nicht würden einhalten können.

    Sebastian sprang auf. Mit wenigen Schritten war er auf dem großzügig angelegten Umlauf, der das gesamte obere Stockwerk umgab, und schrie: „Wenn Sie auch morgen noch einen Job haben wollen, hören Sie jetzt sofort auf, meine Assistentin zu nerven und warten draußen, bis ich fertig bin. Ist das klar?"

    Der Fahrer erstarrte und sah mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen zu ihm herauf.

    „Ob das klar ist, will ich wissen!"

    „Ja, Herr Doktor Blank, natürlich, es ist nur …"

    „Verschwinden Sie!"

    Der Fahrer nickte und eilte nach draußen. Sarah verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn entgeistert an. Sebastians Hände umklammerten das kühle Stahlgeländer. Die Welt vor seinen Augen drehte sich.

    Später, als sie alle im Wagen saßen, tat es ihm leid. Aber er konnte sich unmöglich bei dem Mann entschuldigen. Am Anfang seiner Karriere hatte er sich ständig entschuldigt. Bei Sekretärinnen, die er Kaffee holen schickte. Bei ihm untergeordneten Mitarbeitern, denen er Arbeit mit ins Wochenende gab. Bei Kellnern, die den falschen Wein oder lauwarmes Essen serviert hatten. Es war Sarah, die ihm damals erklärt hatte, dass es ihm als Schwäche ausgelegt wurde, wenn er sich für gerechtfertigte Anweisungen und Reklamationen entschuldigte. In diesem Fall aber hatte der Fahrer nur seinen Job gemacht und er, Sebastian, war ausgerastet und hatte sich wie ein Idiot benommen. Er würde sich trotzdem nicht dafür entschuldigen, er wollte jetzt auch nicht mehr darüber nachdenken. Das Nachdenken machte seine ohnehin schon unerträglichen Kopfschmerzen nur noch schlimmer. Bevor sie aufgebrochen waren, hatte er im Bad zwei Schmerztabletten geschluckt, obwohl er nicht glaubte, dass sie ihm wirklich helfen würden. Am liebsten hätte er den Abend abgesagt und wäre zu Hause geblieben. Aber wenn er abgesagt hätte, hätte er sich Sarah erklären müssen. Und das wollte und konnte er nicht. Noch nicht.

    Sie hatten das Villenviertel auf dem Lerchesberg verlassen und passierten die Sachsenhäuser Warte und den Südfriedhof. Auf der unteren Darmstädter Landstraße staute sich stadteinwärts zum Main hin der Verkehr und es ging nur im Schritttempo vorwärts. Der Fahrer fluchte leise und schlug aufs Lenkrad. Sarah tippte eine Nachricht in ihr Smartphone. Sebastian lehnte sich zurück und schloss die Augen. Für einen Moment ließ der bohrende Schmerz hinter seiner Stirn nach, kehrte dann jedoch in langsam ansteigenden Intervallen wieder zurück.

    Er dachte an Olli und Klaus. Er würde Sarah morgen damit beauftragen, die Adressen seiner beiden alten Schulfreunde ausfindig zu machen, und dann … ja, was dann? Er wusste es nicht, aber dafür wusste er auf einmal wieder, wo das Foto aufgenommen worden war. Im Gleisdreieck hinter Meusels Hütte. Dort hatten sie sich oft rumgetrieben, weil man ungestört war und einem keiner in die Quere kam. Als Kinder hatten sie dort Lagerfeuer gemacht und als Jugendliche heimlich die ersten Zigaretten geraucht. Sebastian sah sich an einem windschiefen Tisch in der Schrebergartensiedlung im Gleisdreieck sitzen, über ihm die Sterne am sommerlichen Nachthimmel und vor ihm die immer noch halbvolle Flasche Schnaps. Du bist dran, sagte Klausi Schreiner mit glasigem Blick und schob ihm den Whisky rüber. Er nahm die Flasche, lehnte sich in dem alten Campingstuhl zurück, legte den Kopf in den Nacken, trank und sah die Sterne über sich tanzen. Jemand lachte kehlig. Jemand würgte. Gleich würde er nach hinten wegkippen und im Gras landen, aber bevor das geschah, fasste ihn jemand am Arm und sagte: „Wir sind da."

    „Was?", fragte Sebastian.

    „Wir sind da", wiederholte Sarah und stieg aus.

    Sebastian blieb noch einen Moment benommen im Fond des Wagens sitzen, dann folgte er ihr.

    Das Weihnachtsgansessen im Ratskeller des Frankfurter Römers war jedes Jahr Anfang Dezember eine ganz besondere Veranstaltung. Nicht weil sich dort Prominente aus Politik, Sport und Showbusiness von anderen bewirten ließen, sondern weil – umgekehrt – die Prominenz kellnerte und den Obdachlosen der Stadt Gänsekeule mit Klößen und Rotkraut servierte. Nun gehörte Sebastian nicht gerade zur sichtbaren Prominenz der Stadt, war aber seit 2012, als der ehemalige Manager des FSV, Bernd Reisig, das Weihnachtsessen zum ersten Mal organisiert hatte, einer der wenigen privaten Hauptsponsoren der Veranstaltung. Und dieses Jahr sollte er neben so prominenten Persönlichkeiten wie Sonya Kraus und Sabrina Setlur ein bisschen mitkellnern. Er hatte die Anfrage mit einem freundlichen Brief ablehnen und anderweitige Verpflichtungen vorschützen wollen, aber Sarah hatte ihn überredet. Aus Imagegründen. Und nun hatte er keine Ahnung, wie er den Abend überstehen sollte.

    Weihnachtslieder und Stimmengewirr, Gänsekeulenaroma und leichter Schweißgeruch. Der Ratskeller war proppenvoll. Sebastians Kopf dröhnte, sein Magen rebellierte. Gottseidank war er zum Kellnern und nicht zum Essen hier. Er hätte keinen Bissen herunterbekommen.

    Unter dem historischen Netzgewölbe des Kellers saßen Männer, Frauen und sogar ein paar Kinder an den langen Tischen zwischen den Sandsteinsäulen. Einigen sah man sofort an, dass sie schon länger auf der Straße lebten: Männer mit struppigen Bärten und wettergegerbten Gesichtern, die beim Lachen Zahnlücken entblößten. Andere schienen auf den ersten Blick gar nicht hierher zu gehören, wie die Frau mit der Brosche auf der eleganten Bluse oder der Mann mit dem schwarzen Sakko über dem weißen Hemd. Wenn man aber genauer hinsah, erkannte man, dass die Festtagsgarderobe abgetragen und an vielen Stellen bereits geflickt oder fadenscheinig geworden war. Manche saßen in dicken Anoraks, Schals und Mützen am Tisch.

    Sarah dirigierte ihn sanft durch die Menge, vorbei an umhereilenden Journalisten, aufgeregt plappernden Promis und den Kameras der Hessenschau. Jemand rempelte ihn grob an und entschuldigte sich nicht, sondern fauchte nur: „Vorsicht bitte!"

    Dann grelles Scheinwerferlicht. Volker Bouffier sprach in ein Mikrofon, seine Mimik wie immer aufs Wesentliche reduziert, als hätte er gerade einen Schlaganfall erlitten. Im Hintergrund posierte Oberbürgermeister Feldmann gerade mit zwei vollbeladenen Tellern für die Fotografen der Frankfurter Rundschau.

    Ein untersetzter Herr in Nadelstreifen stand plötzlich vor Sebastian und streckte ihm erwartungsfroh die Hand entgegen.

    „Herr Dr. Blank! Schön, Sie hier zu sehen!"

    Sebastian bemerkte den feinen Schweißfilm auf der geröteten Stirn seines Gegenübers. Das Doppelkinn über dem Krawattenknoten. Er schüttelte die feuchtwarme Hand des Mannes, lächelte unverbindlich und suchte den Blick seiner Assistentin.

    „Entschuldigen Sie, sagte Sarah, „aber wir müssen weiter. Wir sind spät dran.

    Der Herr nickte wissend und gab den Weg frei.

    Sebastian wartete, bis sie sich ein paar Schritte entfernt hatten, dann fragte er: „Wer war das denn?"

    Sarah sah ihn überrascht und ein bisschen besorgt an und nannte einen Namen, der ihm absolut nichts sagte. Trotzdem nickte er.

    Vor der Essensausgabe herrschte reges Treiben, Bernd Reisig gab letzte Anweisungen. „Immer außenherum gehen beim Bedienen, sonst gibt es Chaos!"

    Er begrüßte erst Sarah und dann Sebastian, band ihm eine Schürze mit dem Logo der Organisation „helfen helfen" um und dirigierte ihn zu den vollbeladenen Tellern.

    „Ach, der Herr Doktor Blank, sind wir auch schon da, ja?", schnauzte ihn ein aufgetakelter Mann in Frauenkleidern an.

    Reisig fing Sebastians irritierten Blick auf und sagte: „Gerda von der Travestiebühne in Mühlheim."

    „Ah ja, natürlich", sagte er lächelnd, obwohl er keine Ahnung hatte, wer diese Gerda von der Travestiebühne war und woher sie seinen Namen kannte.

    Sebastian nahm den ersten Teller entgegen, dann den zweiten. Er hatte das komische Gefühl, als seien seine Hände viel zu klein für die Teller oder die Teller zu groß für seine Hände. Der aufsteigende Dampf duftete nach Rotkraut und ließ seine Brille beschlagen. Trotzdem setzte er sich sogleich in Bewegung, folgte einfach dem Kellner vor ihm, von dem er nur den breiten Rücken sah. Langsam kehrte die Sicht durch die Brillengläser zurück, jemand dirigierte ihn nach rechts, seinen Vordermann nach links, immer außenherum gehen, immer außenherum, und Sebastian ging außenherum, servierte einen Teller und wünschte guten Appetit, lächelte und servierte auch den zweiten. Eine Frau im Norwegerpulli lächelte dankbar zurück, sie hatte roten Lippenstift aufgetragen und ein bisschen davon hing auch an ihren Schneidezähnen. Sebastian hielt einen Moment inne und stand sofort im Weg. Eintracht-Präsident Peter Fischer schob sich mit zwei Flaschen an ihm vorbei und füllte Gläser mit Cola und Fanta auf.

    Sebastian musste sich unbedingt einen Moment ausruhen, er steuerte einen Tisch an, an dem bereits komplett serviert worden war, und lehnte sich mit dem Rücken an eine Sandsteinsäule. Stimmengewirr und Besteckklappern, Lachen, Singen, Oh du Fröhliche. Er hatte erst zwei Teller verteilt und war schon fix und fertig. Wo war Sarah? Sie musste ihn hier rausbringen. Unbedingt. Dann fiel ihm etwas auf.

    Ganz am Ende des Tisches saß ein Mann tief über seinen Teller gebeugt. Er trug einen grünen Bundeswehr-Parka, seine langen schmutzig blonden Haare hatte er zu einem Zopf gebunden, damit sie ihm beim Essen nicht in die Soße fallen konnten. Der Typ war höchstens 30 Jahre alt. Es war also ganz unmöglich. Es war auch aus anderen Gründen unmöglich, aber trotzdem begann Sebastians Herz zu rasen und der Schweiß brach ihm aus. Der Mann war voll und ganz damit beschäftigt, mit einem großen Stück Knödel auf der Gabel dunkle Soße aufzusaugen.

    Als Sebastian auf dem freien Platz ihm gegenüber niedersank, hob er kurz den Kopf und nickte. Die Pockennarben im Gesicht, der Dreitagebart, das schiefe Lächeln. Der Mann wandte sich wieder seiner Mahlzeit zu, ließ aber kurz darauf das Besteck sinken, weil er spürte, dass Sebastian ihn unverhohlen anstarrte.

    „Na? Hast auch Hunger, was?", fragte er freundlich.

    Die weiche Stimme mit der rheinischen Sprachfärbung. Die himmelblauen Augen. Sebastian zitterte. Seine Lippen formten Worte. Der Mann runzelte die Stirn.

    „Das …, krächzte Sebastian, „das ist nicht möglich.

    Der Mann nickte erneut.

    „Ganz unmöglich." Sebastians Stimme brach. Jemand hämmerte unsichtbare Nägel in seine Stirn. Tränen traten ihm in die Augen.

    „Hömma, du …", sagte der Mann mitfühlend, griff über den Tisch und wollte ihn am Arm berühren, aber Sebastian wich erschrocken zurück, stieß dabei seinen Stuhl um und stürzte rücklings zu Boden. Kurz vor dem Aufprall hörte er jemanden schreien, das Licht der Kronleuchter über ihm flammte noch einmal ganz hell auf, dann war alles dunkel und still.

    Klaus Schreiner stand leicht verkatert an der Fußgängerampel, die über die Hanauer Landstraße runter zum Osthafen führte. Wie zum Hohn auf das bisschen Schwarzgeld, das er gestern beim Ausräumen eines Containers im Hafen verdient hatte, ragte in der Nähe der Glaspalast der EZB auf und funkelte im Morgenlicht.

    Klaus zwängte die Hände in die vorderen Jeanstaschen und zog die Schultern hoch, die Wintersonne stand hell am fast wolkenlosen Himmel, aber sie wärmte nicht. Sein Kopf dröhnte von den Bieren und dem Billigschnaps, den er sich gestern Abend allein vor dem Fernseher genehmigt hatte.

    Im Hof hinter dem heruntergekommenen Wohnblock in Offenbach Bieber, in dem er seit ein paar Monaten auf knappen 30 Quadratmetern hauste, hatte Afrim, ein Albaner, einen illegalen Autohandel aufgezogen. Seit Klaus ihm einmal geholfen hatte, einen Mercedes zu verchecken, konnte er dort immer auf ein Bier vorbeischauen. Problematisch war nur, dass früher oder später meistens irgendwelche Möchtegern-Gangster auftauchten und Ärger suchten, und wenn es eines gab, was Klaus Schreiner nicht gebrauchen konnte, dann war es Ärger. Also war er am Samstagabend gleich zu Hause geblieben, außerdem hatte er üble Kreuzschmerzen von der Plackerei am Containerhafen. Die Zeit hatte gehörig an seiner Konstitution genagt. Den untersetzten aber muskulösen jungen Mann, der er einmal gewesen war, konnte man zwar noch unter dem Körper des überspeckten 49-Jährigen erahnen, aber etwas Fantasie war dafür schon vonnöten. Er hatte fast keine Haare mehr auf dem Kopf, seine Bartstoppeln waren grau und die Ringe unter seinen Augen sahen aus, als hätte man sie ihm tätowiert. Klaus Schreiner sah nicht gern in den Spiegel.

    Als er bei dem improvisierten Büro im Hafen ankam, saß der alte Willy zwischen zwei Containertürmen auf dem kalten Boden und drückte sich ein schmutziges Taschentuch auf die Nase. Hier unten am Wasser war es noch kälter als oben auf der Straße, vom Main wehte eine ständige Brise herüber.

    „Was ist denn mit dir passiert?", fragte er den alten Stadtstreicher, der sich immer mal wieder für ein paar Euro und eine Flasche Schnaps am Hafen als billige Arbeitskraft verdingte. Gestern hatte er ihm geholfen, den Container auszuräumen, und Klaus hatte ein Auge zugedrückt, wenn er zwischendurch immer mal wieder ausruhen und einen Schluck aus dem Flachmann nehmen musste.

    Willy hob den Kopf und blinzelte in die Sonne. „Die wollen nix bezahlen."

    Klaus schüttelte den Kopf und sah rüber zu dem Bretterbüdchen, das der Firma als Büro diente. Durch das verdreckte Fensterglas konnte er schemenhaft zwei Personen erkennen, wahrscheinlich der Chef und die Bayernsau.

    „Das gibt’s doch gar nicht. Was hast du denn zu kriegen, Willy?"

    Der Berber nahm das Taschentuch von der Nase, in seinem grauen Bart hingen Blut und kleine gelbe Bröckchen, über deren Herkunft Klaus nicht weiter nachdenken wollte.

    „Patte für den ganzen Tag gestern! Fast 30 Euro schulden die mir!"

    Klaus nickte. Das war noch nicht mal ein Drittel dessen, was man ihm fürs Umladen der Container versprochen hatte.

    „Ich red mal mit dem Chef, Willy, das wird schon."

    „Hab ich auch schon, siehst ja, was dabei rausgekommen ist."

    Klaus ging auf die windschiefe Büro-Hütte zu, vor der Tür hielt er kurz inne, drinnen lachte jemand. Er betrat den Raum ohne anzuklopfen.

    Der Chef saß hinter seinem Schreibtisch zurückgelehnt im Sessel, die Hände im Nacken verschränkt. Ein Mann Ende 50 mit enormem Bauch und angestrengtem Lächeln im Gesicht. Vielleicht, dachte Klaus, rührte die gestresste Grimasse daher, dass er seinen XXL-Körper immer in viel zu enge italienische Anzüge zwängte, in denen er aussah wie eine graue Presswurst.

    „Ach, Kläuschen?", sagte der Chef, als sei er aufrichtig erstaunt, ihn zu sehen.

    „Was habt ihr denn mit dem armen Willy gemacht?", fragte Klaus.

    In der Ecke lief ein Elektroofen auf maximaler Stufe. Der kleine Raum war total überheizt, die stickige Luft roch scharf nach Zigarettenrauch und altem Schweiß.

    „Der ist frech geworden." Die Bayernsau stieß sich von der Wand ab und stellte sich zwischen Klaus und den Chef.

    Die Bayernsau hieß eigentlich Bodo, aber wegen seiner Vorliebe für einen gewissen Fußballverein aus dem Alpenvorland nannten ihn alle hinter seinem Rücken nur Bayernsau. Ins Gesicht gesagt hätte ihm das aber kaum jemand, Bodo war bekannt dafür, nicht lange zu fackeln. Er war fast 1,90 Meter groß und hatte früher mal semiprofessionell geboxt.

    „Willy sagt, ihr wollt nicht zahlen."

    Der Chef winkte Bodo beiseite, damit er Klaus besser sehen konnte, und runzelte die Stirn. „Bezahlen? Für was denn, Kläuschen? Für was denn? Hast du einen Vertrag?"

    „Ich krieg einen Hunderter von dir. Für den Container gestern. So war es abgemacht."

    Der Chef kratzte sich am Kopf. „Ein Container? Gestern? Am Samstag? Hier?"

    Klaus ballte die Fäuste.

    Die Bayernsau sah es und pfiff durch die Zähne. „Da wird aber einer sauer."

    „Also, Klaus, du weißt doch, ich mag dich. Wirklich. Aber samstags arbeiten wir hier doch gar nicht." Der Chef lächelte milde und schüttelte den Kopf.

    Natürlich nicht, dachte Klaus, zumindest nicht offiziell. Und die Containerladung von gestern, die gab es offiziell auch nicht. Und ihn und den alten Willy da draußen gab es auf den offiziellen Lohnlisten des Chefs schon mal gar nicht.

    „Ich lass mich nicht verarschen, ich will meine Kohle und die paar mickrigen Kröten für Willy auch."

    „Für einen, der grad wieder aus dem Knast ist, willste aber ganz schön viel. Die Bayernsau lehnte an der Wand und musterte Klaus abschätzig. „Und ne große Fresse haste auch.

    „Deine besten Zeiten sind schon lange vorbei, Bodo, zischte Klaus, „leg dich nicht mit mir an.

    „Holla, holla, holla!" Der Chef erhob sich aus seinem Sessel und hob die Arme, als bedrohe in jemand mit einer Waffe. „Wir sind doch vernünftige Menschen, oder? Da muss man doch

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1