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Krieg und Liebe: Erich Maria Remarque und die Frauen
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Krieg und Liebe: Erich Maria Remarque und die Frauen
eBook314 Seiten4 Stunden

Krieg und Liebe: Erich Maria Remarque und die Frauen

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Über dieses E-Book

Das außergewöhnliche Porträt eines Jahrhundertschriftstellers Mit »Im Westen nichts Neues« schrieb Erich Maria Remarque einen der berühmtesten und erfolgreichsten Romane des 20. Jahrhunderts. Fernab der Literatur war er ein Trinker und Liebhaber der Frauen: die Tänzerin Ilse Jutta Zambona heiratete er gleich zweimal; zu seinen Affären zählten Marlene Dietrich, die »göttliche« Greta Garbo und die Zarennichte Natasha Paley; zuletzt Paulette Goddard, die er an der Seite von Charlie Chaplin kennenlernte und mit der er eine befreiend glückliche Zeit verbrachte. Ein faszinierendes literarisches Porträt des Schriftstellers – und eine außergewöhnliche Würdigung hundert Jahre nach dem Ende des von Remarque so eindringlich beschriebenen Ersten Weltkriegs.
SpracheDeutsch
HerausgeberBenevento
Erscheinungsdatum22. Feb. 2018
ISBN9783710950506
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    Buchvorschau

    Krieg und Liebe - Hans Boeters

    Rechtenachweis

    1

    Er war nie bei Kosenamen gerufen worden. Derartige Zärtlichkeiten hatte die Mutter dem älteren, kränkelnden Bruder vorbehalten. Und diese frühe Armut machte, dass er Namen der Unredlichkeit verdächtigte. Namen waren so gut wie unverbindlich. Es sei denn, die Mutter hatte nach ihm gerufen, so wie sie ihn stets rief. Er war der »Erich, hörst du!«. Alle anderen Behauptungen hätte er bestritten. Im Übrigen galten ihm Namen als frei verfügbar. Vielleicht nie notwendiger als in dieser Nacht.

    Unschlüssig saß er vor einem Haufen aufgestapelten, noch kaum beschriebenen Papiers, der ihm augenfällig den Umfang seines ersten großen Romans vorgeben sollte. Weitgehend ohne Plan, wie er mit der Niederschrift fortfahren solle, rollte er mit seinem frisch gespitzten Stift mehrere abgebrochene Spitzen unschlüssig hin und her. Dieser Haufen Papier entmutigte eher, als dass er ein gewaltiges Vorhaben förderte! Zuunterst aller noch zu beschreibenden, aller noch zu verwerfenden Seiten lag unerreichbar das Blatt, das er als erstes beschrieben hatte. Mit nicht mehr als seinem Namenszug. Einer der vorwärts stürmenden, stockenden Hand wie eine Fahne weit voraus flatternden Unterschrift! Doch war er sich nicht mehr sicher. Was hatte er eigentlich, als er die Niederschrift begann, dort am Grunde des Stapels hingesetzt? Vor Tagen, Wochen, vor Monaten, ein Erich Paul Remark?

    So wie er getauft, firmiert, fast noch milchgesichtig für den Schlamm der Westfront auserkoren worden war? Und wenn bereits mit gekünsteltem Einschlag, den Paul für Maria eingetauscht, ein Erich Maria Remark?

    Weil ihm allein schon der Name Maria anders als Paulette, wenn nicht zwingend verehrungswürdiger, zumindest bekennender, zwielichtig scheinheiliger klang?

    Remarque lehnte sich müde zurück. Doch dann zog er das signierte zuunterst versteckte Blatt mit seiner Unterschrift unbesehen hervor, stand auf und zerriss es. Nahm aber gleich wieder Platz, um ein frisches Blatt zu signieren. Diesmal als Deckblatt, Vorspann aller darunter auf ihn wartenden Leere. Schrieb, und nicht einmal zögerlich, Erich Maria Remarque.

    Doch so lange er auch vor dem Deckblatt verharrte, ein griffiger Titel wollte sich für den Roman nicht einstellen.

    Es war kurz nach Mitternacht, als er schließlich die Wohnung verließ, um mit Freunden den Jahreswechsel zu begehen. Er zählte das zweite Jahr, seitdem er in Hannover begonnen hatte, einer publizistischen Tätigkeit nachzugehen – 1923, fünf Jahre nach dem Krieg. Zeitlebens war er Nachtschwärmer und Nachtarbeiter oder, zeitversetzt, Spätaufsteher. Er frühstückte meist erst gegen Mittag und lebte in die Nacht hinein auf.

    Es ist nicht bekannt, von wem er eingeladen worden war. Vorstellbar wäre, dass ihn Mitglieder des Schauspielensembles angesprochen hatten, die von ihm wiederholt mit freundlichen Rezensionen bedacht worden waren.

    Es hätte ihn nicht überraschen können, bei der geselligen Feier auch Ida-Lotte Preuß anzutreffen, Lolott, wie er diese Geliebte unter Geliebten aus seiner Osnabrücker Zeit gern nannte. Mit ihr hatte er einmal schon zuvor unter ihren Hannoveraner Kollegen den Jahresausklang gefeiert. Denkbar wäre allerdings auch, dass sich für ihn in dieser Silvesternacht eine andere Frauenbekanntschaft ergab. Er musste dem Schirmherrn des Abends noch nicht einmal seine Aufwartung gemacht haben, als ihm bereits aufgefallen sein konnte, dass eine der anwesenden Frauen, er hatte sie bisher noch nie gesehen, Aufsehen erregte. Dass sie von Männern seines Alters mit verschiedenen Namen gerufen und angesprochen wurde: Ilse, Jutta, Jeanne, Jeanette und wie sie sonst noch heißen mochte. Als ob jeder von ihnen und nur er allein sie mit dem Namen zu rufen wusste, bei dem man sie herzlich in die Arme schließen konnte. Es hieß, sie sei Anfang zwanzig. Verheiratet. Geschieden. Solle wählerisch sein. Was wenig besagen musste. Sie sei oder solle – aber was sollte sie nicht! So wurde behauptet, sie habe einen Schönheitswettbewerb gewonnen, was sich später als Vorgriff erwies. Wie er außerdem hörte, war sie kürzlich erst zum Ensemble des Schauspielhauses hinzugekommen. Andere Gäste hingegen meinten, wenn auch nicht Schauspielerin, so sei sie Tänzerin, sei nichts dergleichen, sie sei für die Presse tätig. Remarque entschied sich, sie als Journalistin anzusprechen.

    Johannes oder auch Peter, wie er sie später rufen sollte, war eine auffallend schöne, kühl anmutende Frau von geschmeidigem, schlankem Wuchs. Ihre spielerische Art, den Blick gesenkt zu halten, dann wieder aus den Winkeln ihrer großen, samtenen Augen unverblümt her zu lächeln, machte Remarque, er war noch nicht einmal mit ihr ins Gespräch gekommen, unvermittelt eifersüchtig.

    Er war verspätet gekommen. Hatte zuerst verschiedene Bekannte und deren Frauen begrüßt. Hatte sich unter den dargereichten Getränken für Sekt entschieden. Stand bald mit seinem Glas neben einem Kollegen, mit dem er als Redakteur bei Echo Continental in Berührung gekommen war und den er hier nicht erwartet hatte. So stand er denn unaufgefordert neben Jutta, Jeanne, Jeanette und, wie er vermuten konnte, ihrem gegenwärtigen Begleiter. Oder, wie er sich spöttisch sagte, einem ihrer »Ständigen«. Einem unter dergleichen! Sie schien von Remarque nur so lange Notiz nehmen zu wollen, wie ihr Freund sie miteinander bekannt gemacht hatte. Als die Männer nach der Begrüßung die Kelche hoben, sich und der jungen Frau zunickten und die Gläser behutsam klirren ließen, stieß sie auch nicht mit ihm an, nur mit ihrem Begleiter.

    Oft und nicht ungern hatte er den überstürzten Berichten seines Kollegen zugehört, wenn sie in der Kantine zusammengetroffen und auf den Rennsport zu sprechen gekommen waren, auf große oder lokale Ereignisse, an denen der andere aktiv teilzunehmen pflegte. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie sich beiderseitig zu schmeicheln verstanden. Remarque, wenn er von den Erfolgen seines Kollegen im Echo Continental berichtete, auch Blessuren nicht ausließ, die Geschichte einer Narbe, die dem leidenschaftlichen Motorsportler leicht versetzt die Lippen kreuzte. Remarque wiederum war eitel genug, sich gern als Publizist und Redakteur ansprechen zu lassen.

    »Ich hatte nicht mehr mit dir gerechnet, Erich! Ich hatte gedacht, du bist wieder mal noch mit dem Stift in der Hand ins Bett gegangen!«

    »Ich lass mich auch gern unterhalten«, gab er gelassen zurück und suchte erneut vergebens den Blick der jungen Frau neben ihm.

    »Und wie verträgt sich das? Wo nimmst du die Zeit dann eigentlich her?«

    »Die Zeit? Für was?«

    »Na komm! Na, zum Schreiben.«

    »Also, du nimmst die Kurve wieder mal zu schnell! An Abenden wie heute findet sich immer auch Gelegenheit, frühzeitig wegzugehen.«

    »Klingt sehr enthaltsam!«

    Remarque lachte.

    »Nicht ganz! Gegenwärtig täte mir jemand gut, der mir den Bleistift aus der Hand nähme …«

    »… spätestens wenn du in irgendein vorgewärmtes Bett gezogen wirst!«, fuhr der andere fort.

    »… dass ich mal unter Leute gehe!«, ergänzte Remarque unbeirrt.

    Frühzeitig wegzugehen! Und dann: unter Leute! Wie kam er dazu, sich fast noch im selben Atemzug zu widersprechen? Er hätte gerne einen Blick mit der jungen Frau neben ihm getauscht! Hatte sie überhaupt zugehört? Hörte sie überhaupt auch nur irgendjemand zu, wenn sie hierhin und dorthin grüßte und ihr Glas winkend hob, über die Schultern anderer, lärmender Gäste hinweg? Mehrfach schon hatte er seinen Kelch ihrem Glas entgegengehalten. Noch jedes Mal gab sie sich abgelenkt. Wie von anderen Gästen fasziniert und angesprochen. Und doch, plötzlich, unerwartet sollten sich ihre Handrücken streifen. Nicht einmal flüchtig. Bei einer lebhaften Geste mit ihrem Glas hatte sie fahrig ausgeholt. Hatte Remarque derart getroffen, dass sich die Asche von seiner Zigarette löste und auf den Boden stäubte. Sie gab sich bestürzt.

    »Habe ich Sie getroffen?«

    »Ja!«, beteuerte er.

    »Mit Sekt?«

    »Ja! Schon!« Er lachte. War sich jedoch keinesfalls sicher.

    »Ein Glück! Nicht das Kleid!«, prustete ihr Begleiter und bedrängte sie mit dem Zeigefinger im Halsausschnitt. »Johannas Kleid, das Kleid hier, das war von mir ursprünglich als Parisreise gedacht. Aber so einfach ist das. Sie glaubt, mich trösten zu können: Besser die Taube im Kleid als irgendein Paradiesvogel auf Montmartre!«

    Sie protestierte.

    »Das sagst du!«

    Er gab sich erheitert, zog sie zu sich heran und küsste sie auf den missmutig verzogenen Mund. Remarque war überrascht: Sie ließ sich küssen, geziert und auffällig hinhaltend! Dabei hielt sie ihr Glas steif mit ausgestrecktem Arm schräg von sich weg, dass sie erneut andere Gäste hätte streifen können. Doch indem sie sich langsam aus der Umarmung ihres Begleiters löste, blickte sie unvermittelt Remarque wie sich versichernd an. Und da sich nach einem feinen verfliegenden Lächeln auch ihre Unterlippe erneut belebte, als ob auch er sich eher auf eine Reise nach Paris als auf einen Einkaufsbummel durch Hannovers Modehäuser einlassen würde, stieß er jäh seine Zigarette in sein Glas, dass der Sekt nur so schäumte, nahm Jutta, Jeanne, Jeanette und wie sie sonst noch heißen mochte am Arm, lehnte sich in den Duft ihres schwach parfümierten Haares und küsste sie wie beiläufig auf ihren weichen Mund, nicht ohne den strengen Geschmack ihres Rouges mitzunehmen. Sie wich nicht einmal aus. Hatte sogar ihr Glas sinken lassen. Doch gab sie sich wie unbeteiligt, als er zurücktrat und sein Glas mit der erloschenen Glut wie grüßend gegen sie erhob.

    »Wo hab ich Sie eigentlich getroffen? Mein Kleid jedenfalls hier unten am Saum …«

    Sie sprach nicht weiter. Drückte vielmehr ihrem Begleiter ihr Glas in die Hand, stützte sich auf Remarques Unterarm ab, griff nach dem Saum ihres Kleides, hob den Rock bis knapp unter das Knie und blickte von einem der beiden Männer zum anderen.

    »Nein! Entschuldigt mich bitte für einen Moment! Nein, es hat wirklich etwas gelitten!«

    Unverwandt, noch immer die Gläser in Händen, sahen sie zu, wie die schlanke Frau sich ihren Weg durch die Gäste bahnte. Obgleich ihr Schritt federnd und sicher wirkte, schwankten die Fesseln der langen Beine, wie Remarque es immer wieder amüsierte, wenn sich Frauen mit überhohen Absätzen versuchten. War er sich sicher? Sicher allein in dem, was er von ihr hatte sehen wollen, als sie sich rasch unter den dicht beieinanderstehenden Gästen verlor: ein tiefes Rückendekolleté, das die Schultern hob, das Gesäß betonte!

    »Warte mal kurz!«, meinte Remarques Kollege. »Ich stell die Gläser mal weg und hol uns was Besseres.«

    »Nein!«, wehrte er ab. »Ich wollte sowieso schon gehen.«

    »Ah! Frühzeitig weg! Darf ich noch fragen: also enthaltsam unter die Bettdecke, so mit Papier und Stift?«

    Als Remarque den Fahrstuhl verließ, sah er die junge Frau im Mantel am Ausgang stehen.

    »Haben Sie Zeit?«, begrüßte er sie.

    Sie lachte.

    »Ja!«, sagte sie und ließ ihre großen, durch das Dunkel schwärmenden Augen auf ihm ruhen. »Jetzt habe ich Zeit!«

    2

    Ilse Jutta Zambona und Erich Maria Remarque, sie sollten sich lieben! Sie sollten sich quälen! Doch schon lange bevor sich ein strenger Hauch von Verwesung auf ihre Liebe legte, war Remarque dem Verdacht verfallen, dass ein Grund, sich nicht nur als Liebhaber begehrter Frauen, sich auch als Schriftsteller immer von Neuem schinden zu müssen, in ferner Kindheit zu suchen sein könnte. Alle Mühsal seiner Ehe konnte diesen Verdacht nur verstärken.

    Wenn er in weiter fortgeschrittenem Alter wiederholt von »zweibeinigem Aas« und »Verhinderung« sprechen sollte, spiegelte sich darin eine Erfahrung wider, die er zum ersten und dann bald wiederholten Mal hatte machen müssen, als er noch lange nicht schreiben, immerhin schon Strichmenschlein hinkritzeln konnte. Dazu hätte er gern in unbedachtem Trotz, wenn er denn damals schon hätte angemessen urteilen können, so etwas zu Papier bringen mögen wie dieses Arsch…! Was das mir angetan hat, das soll mich und ich schwör’s! – für den Rest des Lebens davor warnen, mich abzuquälen!

    Allein bereits die Frau, der sein allererster Schrei, sein erster Augen- und Zungenschlag gegolten hatte, sollte es ihm für ein liebebedürftiges Leben und damit für immer schwer machen.

    »Ich kann mich um dich jetzt nicht kümmern! Du siehst doch, dein Bruder ist krank!«

    Nein, man musste wirklich nicht näher hinsehen. Denn seit der Stunde, in der er schreiend, er, Erich Paul, der spätere Erich Maria, die Augen aufgeschlagen, seit er den zwei Jahre älteren Bruder wahrgenommen hatte, saß Theodor Arthur, dieses kraftlose Arthurchen, auf dem Arm der Mutter und war krank. Für ihn, den kleinen, den unauffällig gesunden Erich, saß er auch dann noch heimelig an den Brüsten jener Frau, als dieser Gnom ihr längst und dann spreizbeinig auf der Hüfte hockte.

    »Jetzt komm, jetzt stell dich nicht so an! Mal doch mal was! Ja, hier, mit den schönen Buntstiften deines Bruders. Und bedank dich bei ihm! Arthur, der Erich darf doch mit deinen Stiften malen?«

    Erich, als die Mutter ihn kurz aus den Augen ließ, hatte sich zornig weggerissen. Zur kalkweiß getünchten Wand hin die Zunge rausgestreckt. Doch die Mutter hatte nicht erst das Schattenspiel wahrnehmen müssen, um ihrem zweitgeborenen Sohn, dem zweiten unter bis dahin drei Kindern, eine gerechte Ohrfeige zu geben.

    »Du sollst malen! Was habe ich gesagt!«

    Gesagt? Geschrien.

    »Mal! Du sollst malen!«

    Er hatte nicht mehr geantwortet. Hatte sich langsam abgewandt. War aus dem Zimmer gegangen. Hatte die Tür zum Treppenhaus geöffnet und hinter sich zugezogen. War drei, vier Stufen hinabgestiegen. Hatte sich auf die Stiege gesetzt und mit der Verzweiflung eines kindlich brüchigen Herzens geweint.

    Er hatte sehr lange warten müssen, bis die Mutter dann doch noch auf dem Treppenpodest erschien und ihn zurückrief.

    »Ja, wie schaust du denn aus! Schäm dich! Das ganze Gesicht mit den fettigen Buntstiften verschmiert! Wasch dich, bevor du dich wieder sehen lässt!«

    3

    Eigentlich waren sie beide krank. Jeder auf seine Weise. Das Leiden des Älteren, Arthurs Verfall, war unaufhaltbar. Erich allerdings gestand man nicht einmal zu, sich leidend zu geben. Wenn man Eifersucht als Leiden sehen will. Als Krankheit, die sich einhauchen sowie austreiben ließe wie einen bösen Geist. Der ältere der Brüder jedoch war unleugbar krank. Er kränkelte dahin. Er war für ein Leben auf eigenen Beinen, ein Dasein, anders als das auf Hüfte und damit Füßen der Mutter, nicht recht geschaffen. Doch gegen Ende seiner Zeit ging es ihm nicht mehr so, wie es ihm sonst, wie es ihm alle Tage ging, an denen er blass, mit hoher Stimme hohl dahinkümmerte. Seit er vor gut fünf Jahren Licht und Dunkel der Welt erblickt hatte. Er war schlechter dran, als sich behütet, umkümmert und umsorgt von einem unglücklichen Geschick auszehren zu lassen. Matt und reglos lag er in seinem Kinderbett. Ließ sich geduldig und ergeben die glühenden Waden in kühle, wasserschwere Tücher verpacken. Feucht und schwitzig schob sich der kleine, magere Körper immer wieder aus der Bettdecke frei. Und wenn die Mutter den nässenden Kopf hin und wieder abgerubbelt hatte, standen die Haare wirr, wie verfilzt um den kindlich fahlen, weichlichen Schädel.

    Erich hingegen, zwei Jahre jünger, hatte die Mutter, wenn er sich unverstanden schlaff an das Fußende ihres Bettes legte, bisher noch nie mit einer brustwarmen Brühe gefüttert, aus der ihm blässliche Fettaugen entgegenblickten. Sie hatte ihn nie aufgehalten, wenn er die Bettdecke zur Nacht bis unter das Kinn und höher, über den Mund, vor die Nase, bis knapp vor die Augen gezogen hatte, dass er sie eben noch einen letzten Blick auf den Älteren, ihren Verzug, ihr schwächliches Sorgenkind werfen sah. Sie hatte ihn nie abgehalten, das Laken auch ganz über den Kopf zu werfen. Er wollte sich nie anders erinnern. Noch rückschauend hätte er jede beschwichtigende Hand weggeschlagen.

    Nein, nichts anderes war ihm in den Sinn gekommen, als dem verschwitzten Bruder das zipfelnde Haar zu stutzen. Doch da war die Schere mit einem ihrer Flügel dem anderen bereits in die Schläfe gefahren!

    Er hätte sich nicht verkrochen, wenn nicht der andere brüchig aufgeschrien hätte! Er verkroch sich unter dem muffig durchgesessenen Sofa. Umso größer das Erschrecken, als ihn die Mutter nicht bei den Füßen nahm, dass sie ihn vielmehr durch Staub und Bordüre, dass sie nach einem seiner Arme suchte, dass sie ihn bei der Linken nahm. So ging es hin zur Tür. Zur Treppe. Zum tränentiefen Stiegenhaus.

    Später sollte sie sagen, jedenfalls wurde ihr das nachgesagt, zumindest einmal habe sie bekannt, ihr jüngerer Sohn sei ein ausgesprochen zärtliches Kind gewesen. Dass sie aber keinen rechten Platz auf Arm oder Hüfte frei machen konnte. Nicht dass sie gesagt hätte, dass ihr nicht danach gewesen sei! Sie sagte, wenn der ältere Bruder über die kurze gemeinsame Zeit hinweg, diese kranken Jahre kläglich dahinstarb, dass sie nicht ausreichend Zeit gehabt hätte für ihren Kleineren. Den Pumperlgesunden, den Erich. Kräftig genug für ein junges Leben in Treppenhäusern.

    Es war ein trüber, regenreicher Tag im Oktober 1901, als der Bruder in einer Zeit tiefen Friedens nicht mehr die Augen aufschlagen wollte. Erich war im Sommer drei Jahre alt geworden. Die Schwester Erna noch nicht einmal ein Dutzend Monate.

    Die Mutter nahm ihren quicklebendigen Sohn nicht mit zur Beerdigung. Er wäre mitgegangen, allein schon, wie er sich später klarzumachen versuchte, um dem Bruder die Schere in die Grube nachzuwerfen.

    Er hatte ausgestreckt unter dem Sofa auf die Mutter gewartet. Doch war sie nicht allein zurückgekommen. Die Tante hatte ihn unter dem Sofa vorgezogen. Sie hatte auf ihn herabgeschaut und zugleich etwas geflüstert, was weniger ihm als der Mutter zugedacht war. Etwas Tröstliches. Etwas Besänftigendes hatte sie ihr gesagt. Vielleicht würde sich der kleine Erich ja noch auswachsen!

    Die Tante wenigstens hatte gezweifelt. Sie hatte ihn, vielleicht ahnungslos, geschützt, als die Mutter ihn längst genötigt, längst über ihn verfügt hatte – »jetzt!« – ja, was jetzt? – Wort für Wort, wie harte Regentropfen auf einen spröden Sarg, »jetzt musst du unser Bester sein!«

    Als sie das sagte, und sie hatte es für ein ganzes verzweifeltes Menschenleben so gesagt, hätte er schreien können! Wen denn hielt sie jetzt wieder auf dem Arm! Die Jüngste, die Nachgeborene, die zwei Jahre jüngere Schwester!

    Nicht dass es der Vater gewesen wäre. Schlimmer! Es war die Mutter, der jenes »Du! Du musst!« verhängnisvoll über die Lippen gekommen war. Dabei war die dunkle Tönung dieser Worte eher die Welt des Vaters. Wenn der Vater etwa von »tumbem Unsinn!« sprach, war das der Mutter »schierer Irrsinn«.

    Er war der Mutter nicht zuvorgekommen. Er hatte nicht gesagt, von jetzt an ich! Von jetzt an, gut! – Von jetzt an also werde ich! Er hatte nicht nach ihrem Arm gegriffen. Nach ihrer Hüfte getastet. Vielleicht war er schon zu groß, zu ungelenk, ihr von dort in den Bauch treten zu können. Er hatte sie mit der Gewalt eines Scherenstoßes getroffen. Eines »du musst!« Mit kindlicher Faust knapp unter dem Auge.

    Hatte sie sich zu ihm herabgebückt? Hatte sie wirklich gehofft, dass er ihr etwas zuflüstern, dass er ihr sagen würde, »sei getrost!«?

    Etwas ganz anderes hätte er sagen wollen. Leise. Aus einem flüchtenden, kindlichen, zeit seines Lebens unsteten Augenaufschlag. Und mit denselben Worten, so wie später, wenn sie ihm damals schon zu Gebot gestanden hätten: Sag mir, dass du mich liebst!

    Als der Bruder, als Arthur starb, wohnte die Familie Remark in der Möserstraße. Zwei Monate nach dem Begräbnis zog sie von dort in die Schinkelstraße. Für den nun vierjährigen Erich war das bereits der dritte Umzug im Herzen Osnabrücks, und bevor er sechsjährig in die Volksschule eintreten sollte, die Schule des Doms, hatte er noch zwei weitere Umzüge vor sich.

    Er war zehn Jahre alt, als man ihn die Volksschule wechseln und in die Johannisschule gehen ließ. Für höhere Lehranstalten mit Abitur als Abschluss der Schulzeit fehlte das Geld.

    Zwei weitere Umzüge lagen hinter ihm: erst in die Kloster-, danach in die Jahnstraße. Feuchte Neubauten wurden billiger vermietet. Bereits für den jungen Erich Paul Remark war die Unrast aller Ortswechsel Lebensart.

    Peter Franz Remark, der Vater, schien eher in den stillen Stunden einer Osnabrücker Druckerei aufzuleben als zu Hause, wenn er abends von der Arbeit kam. Selbst wenn er dem Sohn immer fremd bleiben sollte, war es für den Lebensweg des jungen Erich nicht unbedeutend, dass jener wortkarge Fremde den Buchdruck erlernt hatte. Denn Peter Franz brachte immer wieder Bücher mit nach Hause, die ihm sein Sohn einzubinden hatte. Der junge Remark begann zu lesen. Doch selbst belesen, als Volksschulabsolvent, sollte er zeit seines Lebens mit seinem begrenzten Wissen hadern. Als Erich Paul Remark, dann schon Erich Maria Remarque, längst berühmt, stets misstrauisch gegen sich selbst, ein Konversations-Lexikon erwarb, hielt er den Kauf für den äußersten Ausdruck von Bürgerlichkeit. Im Tagebuch bestätigt er sich lückenhaft schwache Bildung.

    Aus seiner Zeit an der Johannisschule sollte er nie vergessen, dass er bereits als Schüler für wenig glaubwürdig gehalten worden war. Der Lehrer hatte der Klasse aus einem Aufsatz vorgelesen, mit dem die Schüler von ihren Sommerferien berichteten. »Stolz …«, schon bei diesem Wort hatte er Erich erregt angeschaut, »und erhaben durchschneidet das weiße Segelschiff …« Der Lehrer hatte das Heft gebeutelt, war auf Erich zugegangen, hatte ihn aus der Bank gezerrt und ihm das vermeintliche Machwerk vor aller Augen erregt um die Ohren geschlagen.

    »Du Lump! Wo hast du das abgeschrieben?«

    Was sich der abgestrafte Schüler ein Leben lang fragen würde: Wie hätte ich mich aufführen, wie stilisieren, wie kostümieren müssen, damit mir jene Zeilen abgenommen worden wären? Und wenn ich maskiert im Gewand der Glaubwürdigkeit vor ihn hingetreten wäre, hätte er dann mir jene Zeilen nicht ebenso zugetraut, wenn ich sie – in der Tat! – abgeschrieben hätte? Er nicht! Ich

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