Doktor Finns Fall: Erlangen-Krimi
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Buchvorschau
Doktor Finns Fall - Werner Nürnberger
Info
Werner Nürnberger
Doktor Finns Fall
Erlangen-Krimi
Prolibris Verlag
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.
Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Personen der Zeitgeschichte, die im Roman erwähnt werden, sowie Institutionen, Straßen und Schauplätze in Erlangen.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2020
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto © losonsky, adobe stock
skyline Erlangen © Instantly, adobe stock
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-213-3
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-202-7
www.prolibris-verlag.de
Der Autor
Werner Nürnberger lebt mit seiner Frau nahe Erlangen. Viele Jahre war er in der Universitätsstadt als Hausarzt tätig und als Sportmediziner. Nicht nur viele Sportarten gehören zu seinen Hobbys (Tennis, Reiten und viele mehr), auch das Reisen (mit Reinhold Messner war er am Mount Everest, eine wissenschaftliche Expedition führte ihn in die Ostsahara), das Malen (seine Bilder hat er bereits in kleineren Ausstellungen präsentiert), das Musizieren (er spielt Klavier, Gitarre, Keyboard und singt) und nicht zuletzt: das Schreiben.
Zu Nürnbergers ersten Veröffentlichung im Alter von 16 Jahren kamen zahlreiche Kurzgeschichten und Erzählungen in Zeitschriften und Anthologien hinzu, Features im Bayerischen Rundfunk, zwei Gedichtbände und schließlich auch ein Roman: »Finns Welt«. Dem Protagonisten, Gero Finn, begegnet der Leser nun in dem Kriminalroman »Doktor Finns Fall« wieder.
Werner Nürnberger ist seit mehr als zwanzig Jahren Mitglied bei der NGL (Neue Gesellschaft für Literatur Erlangen).
Für Simona
Prolog
Schweißperlen rinnen über ihr Gesicht. Sie schwitzt, obwohl es kalt ist. Fast am Gefrierpunkt liegen die Temperaturen. Ihr blonder Pferdeschwanz hüpft hin und her zwischen ihren Schulterblättern über der blauen Trainingsjacke, die die Nässe von oben halbwegs abwehrt. Noch eine halbe Runde, dann hat sie es geschafft.
Ihr Parcours beginnt am nordwestlichen Rand von Spardorf, führt den Anstieg hinauf zur Marloffsteiner Höhe, nach Westen, am Waldrand entlang, wieder hinunter in den Wald, bis zu einer Wegkreuzung, wo sie links abbiegt. Ein anspruchsvoller Rundkurs, den sie sich vor Jahren ausgesucht hat.
Sandra ist siebzehn Jahre alt, fast. Montag-, Dienstag- und Donnerstagabend hat sie Handballtraining in ihrem Verein, zweimal in der Woche joggt sie. Jahraus, jahrein. Mittwochs und freitags, obwohl sie da bis fünfzehn Uhr dreißig Biologie hat. Deshalb kommt sie so spät raus.
Lockeres Traben. Am Samstag ist Punktspiel. Jetzt, Ende November, ist die Saison auf Hochtouren. Morgen in Schweinfurt. Ein wichtiges Spiel gegen den Tabellendritten. Nur nicht zu hart trainieren, hat der Coach gemahnt, damit sie morgen nicht ausgepowert ist. Heute Abend wäre noch mal Besprechung, doch sie hat den Termin bereits gecancelt. Damit sie bis morgen topfit sei, müsse sie lang schlafen. Das wüssten alle. Morgen fahren sie um zehn Uhr los. Da werde sie wieder in Form sein. Bombig in Form. Sie muss lächeln. Schließlich ist sie der Star der Mannschaft. Da kann sie sich so etwas erlauben. Und sehen wird sie hier beim Joggen keiner an diesem Abend. Dafür sorgt das miserable Wetter. Sie wird die Nacht vor dem Spiel bei Ilka verbringen – hat sie zu Hause gesagt. Ilka, ihre beste Freundin. Die weiß viel, aber nicht alles.
Von den Nadelbäumen fallen Tropfen herunter, dicke Tropfen, die sich mit dem Nieselregen mischen. Ab und zu fällt einer in ihr Auge und sie kneift die Lider zusammen. Allerdings nur kurz. Sie will über keine Wurzel stolpern. Es ist bereits ziemlich düster. Sie muss nur noch über den Reitweg zurücklaufen bis dorthin, wo der schmale Pfad in den Sandschotterweg mündet. Von hier geht es bergab bis zur Spardorfer Schotterstraße. Dort endet der Wald, es wird heller werden und die Lichter von Alt-Spardorf heraufleuchten. Unten, bei den ersten Häusern, hat sie ihr Rad abgestellt.
Die Bäume rücken dichter zusammen. Es wird rasch dunkler. Kurz vor fünf Uhr, Ende November. Sie hätte vielleicht eine Stirnlampe aufsetzen sollen. Aber sie hat nur die Ohrstöpsel ihres iPhones in den Ohren. Musik wirkt beruhigend. Ihr Daddy sagt immer, sie soll wenigstens ihr Handy mitnehmen, wenn sie schon so spät allein in den Wald geht, um zu joggen. Und jetzt gibt es ihr auch wirklich Sicherheit.
In der Schule haben sie gelernt, die Bäume des Mischwaldes hier zu unterscheiden. Die Wipfel der Kiefern, Eichen und Buchen neigen ihre Köpfe im Wind fast zärtlich aneinander und wispern freundlich, als wollten sie ihr etwas zuflüstern. Sie denkt daran, wie sie später ihren Kopf genauso zärtlich gegen seine Brust lehnen wird. Sie beschleunigt ihren Schritt. Freitags läuft sie immer allein. Das ist ihr wichtig, um runterzukommen. Wegen der inneren Spannung vor einem Spiel. Und heute wegen der anderen Sache. Sie muss innerlich schmunzeln.
Sandra denkt an den Ball. Sie liebt den Ball, das Harte, das Runde, das genau in ihre rechte Wurfhand passt. »Du musst den rechten Arm kräftigen«, sagt ihr Daddy. Deshalb trainiert sie viel mit Hanteln. Daddy war ein großer Handballer im selben Verein, in dem sie heute spielt. Im bekannten Handball-Club-Erlangen. Er hat es bis zur Zweiten Bundesliga gebracht. Sie ist jetzt schon weiter. Nationalkader. Ihr Daddy war ein Held, aber leider ist seine rechte Schulter ziemlich im Arsch. Und seine Knie. Trotzdem, sagt er, möchte er keinen Tag missen aus seiner aktiven Zeit.
Und das Tollste ist, wenn du den harten Ball am Wurfkreis fängst, umringt von gegnerischen Spielerinnen. Eine kleine Drehung, und aus vollem Sprungflug wirfst du den Ball vorbei an der riesigen Torfrau, und der Ball spannt für einen winzigen Moment das Netz, eine hundertstel Sekunde, bevor du den Boden im Wurfkreis mit dem Bauch oder der Schulter berührst. Das ist Glück. Das wahre kurze Glück.
Sie will in zwei Jahren Abitur machen und dann Sport studieren und eine berühmte Handballerin werden. Nationalmannschaft. Das ist es. Sie ist auf dem besten Weg dahin.
Der Reitweg wird enger und matschiger. Es ist, als würden ihre Schuhe an dem Matsch kleben bleiben. Sie legt einen Zahn zu. Heute geht es leicht. Natürlich. Sie pumpt ihre Lungen richtig voll. Schnell an der Bank vorbei, die da an der kleinen Wegkreuzung steht und an dem winzigen Teich mit der riesigen Wurzel darin, in die jemand zwei gelbe Augen gesetzt hat. Sie blitzen in der Dunkelheit. Ein Troll, so nennt ihn Daddy. Sie schaut kurz hin. Er hat die riesigen Backen aufgeblasen, und darunter ist ein schwarzes Loch in dem Wurzelkopf. Ein Mund, der bläst oder pfeift. Wurzelhaare stehen vom Kopf ab wie bei Max und Moritz, das wirkt so echt. Die mächtigen Arme verschwinden in dem kleinen Teich, der um ihn herum ist und in dem er für immer und ewig sein Spiegelbild betrachtet. Eigentlich ist es unheimlich, findet sie, aber heute könnte sie über alles lachen. Eine letzte Biegung und dann geradeaus. Sie nimmt Tempo auf. Schaut nach oben zu dem schmalen tiefgrauen Streifen des Himmels, der sich auf die Baumwipfel niederzudrücken scheint. Sie kann das Glück fühlen, das sie durchströmt, obwohl es nach modrigen Blättern und Nässe riecht. Sie blickt auf ihre Füße, die im schlammigen Boden schmatzen wie Hunde beim Fressen und lauter als Shakira in ihren Kopfhörern.
Sie hat einen Hund, einen Australian Shepherd. Donut. So hat sie ihn getauft. Fand sie lustig. Geschenk von Daddy zu ihrem vierzehnten Geburtstag. Sie liebt ihn über alles. Ein prima Hund, den sie gern zum Joggen mitnimmt. Nur heute nicht, weil sie hinterher bei Ilka schlafen will, hat sie Mam gesagt. Und das war gelogen. Sie hat Mam und Paps nie angelogen. Höchstens angeschwindelt. Ein bisschen. Diesmal hat sie lügen müssen. Eine Notlüge. Papa hätte es auf keinen Fall verstanden. Deshalb musste sie sagen, sie sei über Nacht bei Ilka. Sie ist die Einzige, die sie in ihr großes Geheimnis eingeweiht hat. Nur das Nötigste. Sie ist ihre beste Freundin und sie spielen in derselben Mannschaft. Sie werden vom Mannschaftsbus morgen Vormittag um zehn Uhr abgeholt. Am Emil-von-Behring-Gymnasium. Nicht weit von Ilka. Aber Ilka ist krank. Grippe oder so was. Die kann nicht mit. Und Mam und Paps können auch nicht zuschauen. Oma-Besuch.
Sie ist so aufgeregt, dass sie ohne eine Joggingrunde geplatzt wäre vor Spannung. Ab morgen ist Schluss mit der Geheimniskrämerei, und sie darf es sogar in Facebook posten. Ab morgen.
Sie zieht das Tempo auf der Geraden noch mal an. Jetzt wird es heller, freier. Die Bäume treten auseinander. Sie atmet tief aus und wieder ein und läuft noch einen Tick schneller. Keine dreihundert Meter mehr. Der Reitpfad mündet auf den breiten Schotterweg.
Sie sieht nicht den Schlag, der mit ungeheurer Wucht seitlich von unten kommt und ihren Gesichtsschädel zertrümmert. Sie hört ihn auch nicht. Sie merkt auch nicht, wie sie der Schlag von den Füßen reißt, als hätte sie eine Lokomotive erwischt. Sie sieht auch nicht die große Gestalt in ihrem schwarzen Overall, mit der schwarzen Sturmmaske, die rasch eine dunkle Plastiktüte über Sandras Gesicht stülpt und mit Klebeband lose befestigt.
Sie soll nicht ersticken, aber er will ihren zerstörten Kopf verbergen. Der Schlag hat gesessen. Perfekt, denkt er. Hat sich ausgezahlt, dass er seit seiner Jugend Baseball gespielt hat und ein Jahr in Chicago war.
Der Mann hebt sie auf wie eine Puppe und trägt sie zurück zu der Bank an der kleinen Wegkreuzung. Er legt sie auf die nass gesogenen, dunklen, kalten Bretter. Zieht das Mädchen aus.
Entblößt liegt sie vor ihm. Im heißen Schweiß vom Laufen. Er kann es riechen. Sie dampft. Er muss aufpassen wegen der DNA. Große Wassertropfen fallen von den Ästen auf das Mädchen hinab und vermischen sich mit ihrem Schweiß.
Mittlerweile ist es stockdunkel geworden. Seine Augen haben sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Schließlich hat er fast zwei Stunden in der nassen Kälte gewartet. Sie war heute später dran. Jetzt kommt ganz sicher niemand mehr den Weg herauf. Durch ihre zerschlagene Nase und das, was von der Mundhöhle übrig geblieben ist, saugt sie Luft ein und stöhnt leise. Es klingt nicht menschlich, eher wie ein waidwundes Tier.
Dann öffnet er langsam den Reißverschluss seines Overalls.
»Ein fantastisches Geburtstagsgeschenk«, flüstert er vor sich hin. »Schade, dass es nicht ewig dauern kann. Wie gewonnen, so zerronnen.«
Er zieht eine Schnute. Wollust und der erste Teil der Vergeltung. Denkt er.
1
Kriminalhauptkommissar Jens Jendrich vom Erlanger K1, dem Dezernat für Gewaltverbrechen, schießt mit dem silbergrauen 3er-BMW um eine Linkskurve in die Kurt-Schumacher-Straße. Mit Blaulicht, ohne Sirene. Eisiger Regen prasselt gegen die Frontscheibe und hämmert auf das Dach. Ein Schwall Wasser aus einer öligen Pfütze klatscht an die Sandsteinmauer eines Vorgartens jenseits des Bürgersteigs. Ein Fußgänger dürfte nicht am Straßenrand stehen, der wäre nass bis auf die Knochen, denkt Jendrich. Doch da steht an einem Samstagmorgen kein Fußgänger um diese Zeit – die Digitaluhr zeigt acht Uhr fünfunddreißig. Der Wagen schlingert kurz, dann hat er ihn wieder im Griff. Kommissarin Katrin Ebert, seit zwei Jahren seine Partnerin, sitzt auf dem Beifahrersitz und krallt sich in das Polster.
Das GPS führt sie durch die Vorortstraßen und Sträßchen. Vorbei am Klinkerbau der evangelischen Markuskirche.
»Kannst du bitte langsamer fahren!«, sagt Katrin Ebert ziemlich laut, um das Motorengeräusch zu übertönen. »Die Leiche läuft uns nicht weg.«
Jendrich zögert einen Augenblick. Dann nimmt er den Fuß vom Gas und schaltet runter.
»So besser?« Er fährt ruhiger Richtung Sieglitzhof, wo bereits ein Ausläufer des Waldes die Straße von beiden Seiten zusammendrückt. Es wird noch dunkler.
»Hm.« Die Kommissarin legt ihre Hände in den Schoß, atmet tief durch. Er spürt ihren Blick von der Seite. Sie sieht sein scharf geschnittenes Gesicht mit der Hakennase. Die kurzen braunen Haare, den grauen Schimmer an den Schläfen. Den graublauen Mantel mit übergroßem Revers und breitem Stoffgürtel mit Schnalle, der aussieht, als hätte er zwei Weltkriege überstanden. Old Fashion. Jendrich presst die Backenzähne rhythmisch aufeinander. Er ist unrasiert. Dafür war keine Zeit.
Vor knapp einer halben Stunde, genau sechs Minuten nach acht Uhr, hat sein Smartphone geläutet. Für gewöhnlich döst er nur, wenn er Bereitschaft hat, und ist froh, die Nacht zu überstehen. Aber gerade heute, gegen Morgen, war er in traumlosen Tiefschlaf gefallen. Schlaftrunken hat er auf dem Nachttisch nach seinem Handy getastet, das einen schlafenden Löwen wachgerüttelt hätte.
Chris Hohlberg, der den Nachtdienst auf dem Revier gehabt hat, gab ihm kurz Bericht: »Vermutlich jugendliche, nackte Tote draußen im östlichen Meilwald. Liegt – nach Aussagen der Streifenbeamten, die als Erste vor Ort waren – bäuchlings auf einer Bank. Der Kopf steckt in einer braunen Plastiktüte.«
»Ist sie erstickt worden?«
»Keine Ahnung«, meinte Chris.
»Aber eindeutig tot?«
»Kein Zweifel. Leichenflecken, Leichenstarre ...«
Jetzt lässt Jendrich sich von Chris noch mal über Headset Informationen ins Ohr sprechen, die er sofort an seine Kollegin weitergibt.
Aufgefunden um sieben Uhr von einem Jäger, der mit seinem Jagdhund zu seinem Hochstand unterwegs gewesen sei und sofort die Polizei via Handy verständigt habe. Die erste Streife sei um sieben Uhr siebenundvierzig zu Fuß am vermutlichen Tatort eingetroffen. Den Wagen hätten die Streifenbeamten etwa fünfhundert Meter östlich des Fundorts verlassen müssen, weil der weiterführende Weg zu schmal geworden sei. Der Jäger habe sie wieder via Handy gelotst und bei der Leiche auf die Beamten gewartet.
»Übrigens«, fügt Chris an. »Der westliche Weg ist auch frei. Sie haben den Pächter mit dem Schlüssel für die Schranke gefunden. Da ist der Fußweg kürzer.«
»Jetzt sind wir schon hier«, muffelt Jendrich. »Wir kommen von Osten.« Er beendet das Gespräch und steuert langsam um die scharfe S-Kurve, die den Gemeindeteil Alt-Spardorf durchschneidet. »Schau dir doch mal das Bild des Mädchens auf meinem Handy an«, fordert er seine Partnerin auf. »Sie wurde heute Nacht als vermisst gemeldet. Hat mir Chris auf WhatsApp geschickt.«
Das Handy liegt auf der Konsole zwischen ihnen. Katrin nimmt es und schaut sich das Bild an. »Hübsches Ding.«
»Allerdings. Die Mutter konnte in der Aufregung kein eindeutiges Merkmal nennen. Vielleicht ein silbernes Fuß- oder Halskettchen oder auch nicht. Keine Ahnung!«
An einer kleinen Verkehrsinsel leitet das Navi mit seiner teilnahmslos freundlichen Stimme Jendrich nach links in ein schmales Gemeindesträßchen ohne Gehsteige. Die kleinen Häuser reichen direkt bis an die Teerdecke heran. Im zweiten Gang fährt Jendrich bis zu einer Gabelung. Biegt links ab und sieht weiter hinten in einem abgezäunten Stück Wiese ein Trafohäuschen, das in der Dunkelheit und bei Nebel- und Nieselwetter an einen rechteckigen Wachturm erinnert. Rechts und links der Straße: Ein- und Zweifamilienhäuser. Gediegen. Obere Mittelschicht. Vor dem Trafohäuschen steht ein Uniformierter und winkt. Ein paar Meter oberhalb, am Rand eines Heckenzaunes, steht ein Dienstwagen bereit. Mit dem Fahrer und eingeschaltetem, kreisendem Blaulicht auf dem Dach.
Jendrich hält an und lässt das Fenster herunter. Der junge Uniformierte beugt sich hinein. »Hauptkommissar Jendrich?«
»So ist es.«
Der Wachtmeister nickt. »Wir sollen Sie und Ihre Kollegin zur Leiche bringen. Zunächst können wir noch ein Stück mit dem Auto den Weg da hoch. Und dann müssen wir ein paar Hundert Meter zu Fuß bis, ja …«
Der BMW fährt hinter dem Streifenwagen her. Die Teerdecke wird immer rissiger. Schließlich holpern sie über eine mit Schlaglöchern übersäte Schotterpiste, die stark bergan zieht. Auf der linken Seite, wo der Heckenzaun nach Süden führt, steht ein Pferdeanhänger, an den ein gelb-blaues Mountainbike angekettet ist. Katrin schießt ein schnelles Foto mit ihrem Handy, es ist unscharf.
Rechts liegen einige eingezäunte Pferdekoppeln und Wiesen. Weiter oben erhascht Jendrich einen kurzen Blick auf die Nebelwiesen eines Taleinschnitts, die auf der gegenüberliegenden Seite wieder auf die Höhe hinaufziehen. Dann umschließt sie der Wald wie ein schwarzer Mantel.
Jendrich und Katrin halten hinter ihrem Lotsenwagen an. Bis hierher haben sie kein Wort mehr gewechselt. Jendrich setzt seinen Filzhut auf und Katrin ihre blaue Wollmütze. Sie verlassen den warmen Wagen. Eine einfache Holzbank steht am Rand der Lichtung. In alle Himmelsrichtungen führen Forstwege.
Ihr Lotse springt aus seinem Streifenwagen und deutet mit ausgestrecktem Arm auf den mittleren. »Hier geht’s lang«, sagt er und läuft los. Es ist der einzige Weg, der überhaupt nicht befestigt ist. Eine matschige schwarzbraune Pampe.
Jendrich und Katrin eilen dem Beamten auf der linken Seite des Weges hinterher. Jendrich schaut auf sein Handy. Es ist kurz vor neun Uhr. Und kaum heller als vor einer Stunde. Am rechten Wegrand ragt aus dem morastigen Untergrund ein fast schwarzes Holzschild. Reitweg kann man gerade noch lesen.
Die ersten Meter schlittern sie, sich mit den Armen ausbalancierend, den glitschigen Pfad hinunter. Dann geht es ein Stück eben weiter, genauso sumpfig. Die Baumwipfel neigen ihre Häupter einander zu, als wollten sie sich zuflüstern. Laubbäume und Kiefern. Es riecht nach modriger Erde und verfaultem Laub. Schweigend gehen die Ermittler hinter dem Uniformierten her.
Der Pfad führt rauf und runter. So rasch es die Verhältnisse zulassen, versuchen sie, ganz auf der linken Seite vorwärtszukommen, um möglichst keine Spuren zu zerstören. Kleinere Äste in Kopfhöhe zwingen sie dazu, sich im Gehen zu ducken.
Jendrich nimmt eine kleine Stab-LED-Lampe aus seiner Manteltasche. Es ist einfach zu dunkel, um Einzelheiten auf dem schmalen Weg zu erkennen. Aber auch mit Licht kann er keine klaren Spuren in dem Matsch entdecken. Katrin hat die Lampenfunktion ihres Handys eingeschaltet. Dadurch werden sie etwas langsamer und der vorausgehende Beamte muss seine Geschwindigkeit drosseln.
Jendrich flucht leise vor sich hin: »Da läufst du ja bis zu den Knöcheln im Schlamm.« Wäre er Lehrer oder Finanzbeamter, würde er nicht früh am Morgen zu einer Leiche gerufen. Ganz abgesehen von den Ferien, dem Gehalt und und und … Aber er weiß, was Katrin dazu sagen würde: Nach einem halben Jahr wärst du von den Problemschülern ermordet. Oder vor Langeweile gestorben. Jendrich liebt Mosaike, kriminalistische Mosaike.
Unvermittelt hält er an und geht in die Hocke. »Warten Sie mal«, ruft er dem Beamten zu. »Pferdekacke«, sagt er. »Und so was wie Hufabdrücke, wenn auch im Schlamm verwaschen.« Jendrich macht ein paar Fotos mit dem Smartphone, legt ein Streichholz neben die Exkremente als Größenvergleich. Dann holt er einen Asservatenbeutel aus der Manteltasche, schabt mit einem Stöckchen ein Stück von einem Pferdeapfel ab und verstaut es in dem Beutel. »Ziemlich klein«, sagt Jendrich leise, wie zu sich selbst.
Katrin fragt: »Was meinst du?«
»Na, die Äpfel. Kein Großpferd, würde ich sagen.«
Kurze Zeit später ducken sie sich unter dem östlichen rot-weißen Band durch, das im aufkommenden Wind flattert. Gleich dahinter steckt ein hellblaues Täfelchen in der Erde mit einer schwarzen 1 darauf. Weiter hinten sieht Jendrich noch mehr solcher Schilder. Der Regen ist in Schneeregen übergegangen. Dicke weiße Flocken haben sich unter die Regentropfen gemischt.
»Sieh mal, da sind plötzlich keine Hufabdrücke mehr und der Pfad ist irgendwie …« Katrin deutet mit der Hand nach vorn.
Jendrich ergänzt: »… er sieht fast aus wie geglättet, da vorn ist er dann aufgeworfen. Seltsam.« Ein paar Schritte weiter sind die Abdrücke von Hufen erneut sichtbar, und in Gegenrichtung die von Schuhen.
»Könnten vom Profil her Joggingschuhe sein, oder was meinst du?«
Katrin nickt im Weitergehen. Jendrich fotografiert die Spuren, neben denen die kleinen Schildchen in der Erde stecken, legt neben einzelne ein Streichholz. Der Blitz des Handy-Fotos sticht durch das Zwielicht wie der Speer eines griechischen Rachegottes.
Nach zwanzig Metern führt ein steiler Hang nach links hinunter. Jendrich rudert mit dem rechten Arm. Er ist froh, als er heil unten ankommt, auf ebenem Boden. Ein paar Meter weiter bleibt er abrupt noch mal stehen, obwohl man schon das weiße Plastik des Baldachins durch das eng stehende Unterholz sehen kann. Das Licht einiger verschiedenfarbiger Lampen flackert durch das Gehölz.
Katrin läuft fast auf Jendrich auf. Sie sieht ihn von unten herauf an, als würde sie erwarten, dass er was sagt. »Was ist?«, fragt sie.
Jendrich wendet sich dem kleinen Tümpel zu, der ihnen zur Rechten entgegenstarrt wie das Mundloch eines Drachen. An