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Himmelfahrtskommando: Tarnas B300433-A
Himmelfahrtskommando: Tarnas B300433-A
Himmelfahrtskommando: Tarnas B300433-A
eBook904 Seiten11 Stunden

Himmelfahrtskommando: Tarnas B300433-A

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Über dieses E-Book

Dies ist nach Sternenflug sowie Drachenfeuer die Fortsetzung und zugleich der dritte Band der Geschichte um Marc Ewert und die Mission rund um den extrasolaren Planeten Tarnas B300433-A. Viele Lichtjahre von der Erde und der heimischen Sonne entfernt musste Marc Ewert das Ende seines Schiffes Antares miterleben. Nach einem fatalen Fehler machte man ihm, dem einzigen Überlebenden der von Menschenhand herbeigeführten Katastrophe, dann auch noch den Prozess. Nun ist ihm mit Ausnahme seines Lebens beinahe nichts geblieben. Er muss von vorne anfangen. Doch das Schicksal meint es auch jetzt nicht sehr gut mit ihm. Der Neustart an Bord des Schwesterschiffes Independence ISV-11 verläuft sehr holprig und birgt viele neue Herausforderungen für den Deutschen. Gleichzeitig steht die Mission des Raumschiffes unter keinem guten Stern. Statt sich endlich seiner Aufgabe, der Erforschung von Tarnas B300433-A, widmen zu können, sieht sich das Interstellarschiff plötzlich einer Gefahr gegenüber, die seine Existenz und das Leben aller zwölftausend Menschen an Bord bedroht. Es entwickeln sich dramatische Ereignisse, in die auch Marc Ewert hineingezogen wird.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum8. Jan. 2020
ISBN9783750476608
Himmelfahrtskommando: Tarnas B300433-A
Autor

Peter Schindler

Der Autor wurde 1966 in Ostdeutschland geboren. Nach dem Abschluss der Schule und des Gymnasiums absolvierte er ein vierjähriges Hochschulstudium an der damaligen Offiziershochschule der Landstreitkräfte der Nationalen Volksarmee in Löbau zum Panzerkommandeur und erlangte dabei auch den zivilen Abschluss eines Diplom-Ingenieurpädagogen. Im Anschluss an das Hochschulstudium diente er als Leutnant und führte einen Panzerzug. Nach der Wende und der Deutschen Wiedervereinigung war er als Offizier auf Zeit in den Reihen der Panzertruppe der Bundeswehr tätig. Nach Ablauf seiner Dienstjahre verpflichtete er sich nicht weiter, sondern wechselte ins Zivilleben, wo er viele Jahre für einem großen deutschen Medienkonzern tätig war. Momentan vollzieht er einen beruflichen Wechsel in den Öffentlichen Personennahverkehr als Busfahrer. Peter Schindler ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Er lebt in Thüringen.

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    Buchvorschau

    Himmelfahrtskommando - Peter Schindler

    Geheimnisse.

    Kapitel 1 – Die Suche

    26. Januar 2173

    Solarian Union Ship „Independence"

    Arbeitssektion / Rumpfebene 52 / Justiztrakt

    Marc Ewert stand regungslos auf dem breiten Korridor der Justizabteilung des Interstellarschiffes. Vor einer halben Stunde noch hatte er die Abzeichen eines Lieutenants und Raumjägerpiloten getragen. Nun besaß er nichts mehr von beidem. Stattdessen wiesen ihn seine neuen Schulter- und Ärmelstücke als Starman Third Class aus. Er bekleidete jetzt nur noch einen Mannschaftsdienstgrad dritter Klasse und verfügte nicht einmal mehr über irgendeine militärische Funktion.

    Direkt hinter ihm befand sich der Ausgang des Gerichtssaals, in dem soeben das Urteil gefällt worden war – Degradierung zum untersten Mannschaftsdienstgrad und Aberkennung der Fluglizenz sowie sämtlicher bisher erworbener militärischer Auszeichnungen.

    Der Raumpilot, der nun keiner mehr war, dachte darüber nach, wie es soweit hatte kommen können. Die Bilder der Geschehnisse zogen noch einmal an seinem geistigen Auge vorüber.

    Vor etwas mehr als zwei Jahren – noch auf der heimischen Erde – hatte alles seinen Anfang genommen, als er sich auf den Weg zum deutschen Raumflughafen Germania machte, um am wichtigsten Raumflug der Menschheit teilzunehmen – der ersten interstellaren Reise in ein anderes Sternensystem. Zu diesem Zeitpunkt war er noch voller Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte gewesen.

    Nun – mehr als zwei Jahre später – befand er sich zwar tatsächlich hier im Siriussystem, doch keine seiner Hoffnungen, Sehnsüchte und Wünsche von damals war in Erfüllung gegangen. Ganz im Gegenteil – er hatte so ziemlich alles verloren, was ihm einmal wichtig gewesen war.

    Die Antares, das Interstellarschiff, auf dem er gemeinsam mit zwölftausend anderen Menschen die lange Reise ins Siriussystem angetreten hatte, gab es nicht mehr. Das gewaltige Schiff war im Feuer einer thermonuklearen Sonne vergangen. Und mit ihm sämtliche zwölftausend Menschen an Bord.

    Die Besatzungsmitglieder von zwei Tornado-Radaraufklärern und einem Dutzend Raumjägern – unter ihnen Lieutenant Marc Ewert – hatten die Katastrophe zwar überlebt, da sie sich zum Zeitpunkt der Geschehnisse außerhalb des Interstellarschiffes befanden, doch ihr Glück war nur von kurzer Dauer gewesen.

    Denn die Fremden, die sich vermutlich für die Vernichtung der Antares mit einer thermonuklearen Bombe verantwortlich zeigten, waren kurz nach dem Ende des Raumschiffes in mehrfacher Übermacht auf der Bildfläche erschienen, und hatten auch noch den vierzehn Maschinen den Garaus gemacht.

    Wer ihm das unglaubliche Glück geschenkt hatte, das Gemetzel zu überleben, wusste Marc Ewert bis heute nicht. Dies galt auch für den Umstand, dass es ihm irgendwie gelungen war, mit einigen abenteuerlichen Basteleien das Wrack seines Cyclone-Raumjägers wieder halbwegs flugfähig zu bekommen.

    Doch kein Glück währte ewig.

    Den Deutschen hatte es ausgerechnet in Moment seiner bevorstehenden Rettung verlassen. Seine Begegnung mit der Suchpatrouille der Independence war – nun ja – etwas unglücklich verlaufen. Die Schuld daran gab er sich selbst. Gut, er war verletzt sowie halb verdurstet und verhungert gewesen. Aber hätte er nicht trotz seines furchtbar desaströsen körperlichen und seelischen Zustandes seine Retter als solche zu erkennen müssen, anstatt auf sie zu schießen?

    Das Gericht hatte in dieser Frage sein Urteil gefällt.

    Im Ergebnis dessen stand Marc Ewert nun wie bedeppert auf diesem Gerichtsflur hier.

    Seine Anwältin, eine Frau namens Michelle Alvarado mit einem scharfkantigem Latinogesicht, welches durch das dunkle, straff zurückgekämmte Haar noch schärfer wirkte, hatte sich vor knapp zehn Minuten von ihm verabschiedet. Als Marc Ewerts Zivilverteidigerin war sie nicht besonders froh über das Urteil gewesen, da sie sich einen Freispruch für ihren Mandanten erhofft hatte.

    Marc fand, dass die Mexikanerin ihre Sache trotzdem gutgemacht hatte. Er hätte nach allem, was geschehen war, auch im Gefängnis landen können. Bei diesem Gedanken fingerte er den kleinen Plastikchip aus seiner Hosentasche heraus, eine altmodische Visitenkarte mit der Intercom-Nummer Alvarados.

    Die Anwältin hatte sie ihm für den Fall überreicht, dass er in seiner jetzigen Situation vielleicht Hilfe benötigte. Denn auch, wenn das Verfahren zu Ende war, so blieb sie als juristische Betreuerin für ihren Mandanten zuständig. Ihr dezenter Hinweis, sie doch bitteschön nicht als Bewährungshelferin zu betrachten, war bei dem Deutschen kaum angekommen. Denn er sah die Frau mit den scharfen Gesichtszügen ohnehin in einem ganz anderen Licht. Sie stellte gegenwärtig den einzigen Menschen an Bord des gewaltigen 166-Megatonnen-Schiffes dar, der ihm nicht völlig fremd war.

    Die anfängliche Betäubung wich etwas. Marc Ewert sah sich um, und ihm wurde bewusst, dass er immer noch im Gerichtsflur und nur wenige Meter von jenem Gerichtssaal entfernt stand, in dem das Urteil über ihn gesprochen worden war. Nur raus hier, dachte er und setzte sich hastig in Bewegung.

    26. Januar 2173

    Solarian Union Ship „Independence"

    Arbeitssektion / Rumpfebene 52 / Kabinenbahnstation

    Am Ausgang des Justiztraktes standen zwei Space-Infanteristen als Posten. Sie trugen keine schweren Handwaffen, sondern lediglich Teaserpistolen in ihren Gürtelholstern, die einen seltsamen Gegensatz zu den martialischen Kampfmonturen und den dicken Splitterschutzwesten bildeten. Die grimmigen Gesichter, welche die Frau und der Mann zur Schau stellten, passten dagegen wieder zum Gesamteindruck. Sie maßen den Mann in der himmelblauen Stabsdienstuniform mit misstrauischen Blicken. Wohl zum einen wegen dessen niedrigen Dienstgrades – auf dem gesamten Raumschiff lief vermutlich kein zweiter Starman dritter Klasse herum. Zum anderen machten den Deutschen wohl die fehlenden Einheits- und Funktionsabzeichen an der Uniform verdächtig.

    Marc ging rasch weiter und folgte dem breiten Korridor. Ein echtes Ziel hatte er nicht. Denn der Termin bei der Personalstelle stand erst am Nachmittag an. Und ein Quartier besaß er auf diesem Schiff nicht. Noch nicht – denn natürlich würde man ihm eines zuweisen. Doch bis dahin war er ein Obdachloser. Und genau wie ein solcher fühlte er sich jetzt auch, während er ziellos durch die Korridore dieser Rumpfebene im Bereich der Arbeitssektion des Raumschiffes strich.

    Er griff sich an die kleine Milanfigur aus Kristall, die an einem Silberkettchen um seinen Hals hing. Die Figur war ein Abschiedsgeschenk seines ehemaligen zivilen Arbeitgebers – der Milan Transport Corporation – gewesen. Sie stellte aber längst nicht nur eine Erinnerung an etwas dar, das sehr lange zurücklag, sondern enthielt auch einen elektronischen Identitätschip.

    Der Deutsche strich mit den Fingern über die glatte Kristallfläche und sagte sich, dass er keineswegs ein „Niemand" war, sondern immer noch eine Identität besaß. Mit diesem beruhigenden Gedanken ging er weiter.

    Vor ihm verbreiterte sich der Korridor zu einem hallenartigen Raum. Es handelte sich um den Knotenpunkt von gleich sechs Vertikalliften verschiedener Größe mit der zentralen Kabinenbahnlinie von Rumpfebene 52. Die Kabinenbahnstation mit ihren zwei Bahnsteigen, eine von insgesamt dreihundertzweiundsiebzig im Inneren des riesigen Raumschiffes, glich einer U-Bahnstation.

    Viel los war hier nicht, denn es ging gerade einmal auf Mittag zu. Die Rushhour begann erst am späten Nachmittag, wenn die Schiffsbesatzung ihre Dienstschichten wechselte.

    Bei den wenigen Menschen, die jetzt hier unterwegs waren, handelte es sich sämtlich um Zivilisten, die sich als Passagiere auf dem großen Schiff aufhielten.

    Marc bemerkte eine gewaltige Telesäule, die von ein paar Sitzgelegenheiten umgeben war. Da es keinen Sinn machte, ohne jedes Ziel weiter umherzulaufen, ließ er sich auf eine Bank fallen. Mit den Fingern gedankenverloren auf der Sitzfläche einen schnellen Schlagzeugrhythmus trommelnd, beobachte er das Treiben um sich herum.

    Die Gesichter der vorbeigehenden Menschen waren so mannigfaltig, wie ihre ethnische Herkunft. Tatsächlich setzten sich die fünftausendsiebenhundert Mann starke Besatzung und die mehr als sechstausendzweihundert Passagiere der Independence aus Menschen zusammen, die aus allen Teilen der Erde und des Sonnensystems kamen.

    Doch völlig unabhängig von ihren teils sehr unterschiedlichen ethnischen Merkmalen und ihrer differenzierten Hautfarbe besaßen sie alle eines gemeinsam – sie erinnerten Marc Ewert an die Menschen, denen er auf der Antares begegnet war, oder mit denen er gar zusammengearbeitet hatte.

    Jetzt, in diesem Moment, traf der Verlust dieser Menschen den Deutschen einmal mehr mit der Wucht eines Dampfhammers.

    Er sah sie wieder vor sich, die Mitglieder seines ehemaligen Cyclone-Raumjägerschwarms – Santiago Mosquera mit seinem verwitterten Gesicht, Carlos Amaral mit dem sorgfältig gestutzten Kinnbart sowie der zynischen Ader und natürlich Yini Chang mit ihrer zierlichen Statur und dem schmalen, hübschen Gesicht. Noch sah er sie glasklar und deutlich vor sich. Aber es würde wohl nicht so bleiben. Die Gesichter würden mit der Zeit in seiner Erinnerung zunehmend verblassen.

    Auch jenes von Yini Chang, mit der ihn zuletzt möglicherweise etwas mehr verbunden hatte, als nur eine reine Freundschaft. Er erinnerte sich wieder an ihren Kuss. Und er erinnerte sich an ihre Worte, ihn zu mögen. Die Bilder wechselten. Statt des Gesichts der Chinesin wurde der Deutsche jetzt noch einmal Zeuge davon, wie der Jäger Changs in Folge der Lasereinschläge der unbekannten Feinde aufloderte und sich – zur Seite ausbrechend – beinahe in seine Maschine Jäger hineinbohrte.

    Marc Ewert fuhr sich verstohlen über die Augen. Verdammt noch mal, jetzt tatenlos hierzusitzen, tat ihm mental gar nicht gut. Er versuchte, die Erinnerungen zu vertreiben und konzentrierte sich wieder auf die Menschen, die an ihm vorübergingen.

    Niemand von denen schenkte dem Starman Third Class in der blauen Dienstuniform besondere Beachtung.

    Marc atmete tief durch und blickte erneut den breiten Flur entlang. Wie auch immer, er war am Leben. Was nun auf ihn zukam, wusste er nicht. Darüber entschieden jetzt andere.

    Fliegen lassen würde man ihn nicht mehr. Da er aber einen 12-Jahres-Dienstvertrag mit den Solaren Weltraumstreitkräften – den Solarian Union Spaces Forces – besaß, würde man ihm schon irgendeinen Job geben. Mit großer Wahrscheinlichkeit erfuhr er das bei dem Termin, der am frühen Nachmittag bei der Personalstelle auf ihn wartete. Nun, da er alles verloren hatte und in eine völlig ungewisse Zukunft blickte, wünschte er sich plötzlich nichts sehnlicher, als dass wieder eine gewisse Ordnung in seinem Leben Einzug hielt. Einfach mal abwarten, dachte er. Irgendwie wird sich schon alles finden.

    26. Januar 2173

    Solarian Union Ship „Independence"

    Turmsektion / Commando-Level 3 /Personalabteilung

    Die Abteilung des militärischen Personaldienstes der Independence befand sich auf Commando-Level 3 , der drittobersten Etage des Turmaufbaus des insgesamt fast sechs Kilometer langen Interstellarschiffes. Die Abteilung nahm dort viel Platz ein, da hier immerhin die Schicksäle von mehr als zwölftausend Besatzungsmitgliedern und Passagieren verwaltet wurden.

    Als Marc die weite Halle mit dem beinahe luxuriösen Ambiente betrat, erinnerte er sich daran, wie er schon einmal hier gewesen war. Obwohl sein Besuch beim Schiffskommandanten erst einige Tage zurücklag, kam es ihm vor, als sei bereits eine Ewigkeit vergangen.

    Damals war er ein Untersuchungsgefangener in Begleitung zweier Wachleute gewesen. Jetzt betrat er die Führungssektion des Schiffes als freier Mann. Der Gedanke daran beflügelte ihn, obwohl er aufgrund seiner ungewissen Zukunft ein flaues Gefühl im Bauch verspürte. Sei kein Waschlappen, schalt er sich. Yini Chang, Santiago Mosquera und der ewig nörgelnde Carlos Amaral sind tot. Du aber lebst. Der Gedanke half ihm tatsächlich, seinem zukünftigen Los mit einer gewissen Gelassenheit entgegenzusehen. Er orientierte sich an den farbigen Hinweistafeln, um in dem Gewirr aus unzähligen Büro-, Kongress- und Arbeitsräumen die Personalabteilung zu finden. Schließlich folgte er einem breiten Korridor und stand endlich vor dem richtigen Zugang.

    Die Personalabteilung bestand aus einem halben Dutzend Großraumbüros, denen ein weitläufiger Warteraum mit Rezeption vorgelagert war.

    Marc meldete sich bei Letzterer und wurde in den Wartebereich verwiesen.

    „Nehmen Sie am besten dort drüben Platz, Starman, bis man Sie aufruft. Sie haben die Nummer 57. Heute ist nicht allzu viel los. Es sollte also nicht lange dauern, bis Sie dran sind", erklärte eine adrette Zivilangestellte. Und Sie behielt Recht.

    Marc musste tatsächlich nicht allzulange warten, bis auf einem Informationsdisplay seine Nummer mit der Kennung des betreffenden Raumes erschien.

    In dem Großraumbüro arbeiteten zehn weibliche und männliche Sachbearbeiter, sowohl Zivilisten als auch Militärangehörige.

    Ein Mann mit dem Fähnrichdienstgrad eines Warrant Officer Class 2 winkte den Eintretenden zu sich heran.

    Als Marc sich militärisch korrekt melden wollte, winkte der Personalsachbearbeiter ab und wies auf den Stuhl auf der anderen Seite seines Tisches. „Wir sind hier nicht auf dem Exerzierplatz, Starman. Also nehmen Sie bitte einfach Platz."

    „Okay, Sir." Marc ließ sich nieder.

    „Na gut, wie kann ich Ihnen helfen?", wollte der Mann wissen.

    „Ich bin Lieu…, Starman Third Class Marc Ewert, Sir. Man hat mich hierhergeschickt, um zu klären, wie es mit mir weitergeht."

    Auf diese Worte hin musterte der Warrant Officer Class 2 Marc mit einem seltsamen Blick, senkte die Augen aber dann auf den Computerbildschirm. „Na gut, dann schauen wir mal in Ihre Personalakte. Ewert, sagten Sie?"

    „Ja, Marc Ewert, Sir."

    „Ah, hier habe ich Sie ja." Der Mann begann zu lesen und fing dann unbewusst an, sich übers Kinn zu streichen. Es dauerte geraume Zeit, bis er endlich die blauen Augen wieder auf den Starman heftete. „Hm, interessant. Laut Ihrer Personalakte sind Sie gar nicht auf der Independence registriert, sondern auf der Antares. Oder besser gesagt, Sie sind jetzt zwar hier registriert, doch der Eintrag ist erst drei Tage alt. Er schüttelte leicht verwirrt den Kopf. „Da muss ein Irrtum vorliegen. Vielleicht ein Verwaltungsfehler. Da frage ich besser mal nach. Seine Worte ließen vermuten, dass er keinen vollen Zugriff auf die Personalakte besaß. Insofern war seine Konfusion durchaus zu verstehen.

    Als der Mann sich anschickte, online eine Anfrage an seinen übergeordneten Abteilungsleiter zu stellen, hob Marc rasch die Hand und erklärte: „Es ist kein Verwaltungsfehler."

    Der Sachbearbeiter zog die Finger von der auf der Schreibtischplatte leuchtenden, virtuellen Tastatur zurück und fixierte den Starman erneut. Dann kam ihm eine Ahnung. „Ich verstehe. Sie sind offenbar der Pilot – Verzeihung – der Ex-Pilot und zugleich Überlebende der Antares, über den in den Bordnachrichten in den vergangenen Tagen immer wieder berichtet wurde?"

    Marc nickte wortlos.

    „Hm, das erklärt natürlich einiges."

    Wie es aussah, gehörte der Angestellte zu jenen Menschen, die sich zumindest hin und wieder einmal die Zeit nahmen, über den Bordsender Independence News das allgemeine Geschehen auf dem Schiff zu verfolgen.

    Im Gerichtssaal waren den Presseleuten zwar Kamera- und Fotoaufnahmen untersagt gewesen, doch dieses Verbot hatte nicht eine allgemeine Berichterstattung sowie die Teilnahme der Öffentlichkeit als Zuschauer betroffen.

    Die letzteren beiden Dinge wären zwar durchaus im Sinne des Schiffskommandanten gewesen, doch der hatte sie wohl nicht verhindern können. Tatsächlich war er in dieser Frage sehr wahrscheinlich durch den Schiffsrat überstimmt worden, der das öffentliche Interesse an dem Prozess als durchaus gerechtfertigt angesehen hatte. Schließlich war es in dem Verfahren auch darum gegangen, welches Schicksal das Schwesterschiff Antares tatsächlich ereilt haben mochte.

    Der Warrant Officer Class 2 räusperte sich. „Ich muss sagen, dass ich den Prozess gegen Sie durchaus mit großem Interesse verfolgt habe und sehr gespannt auf das Ende war. Leider hatte ich aufgrund meines Dienstes noch keine Zeit, mir die aktuellen Nachrichten anzusehen, sodass ich das heutige Gerichtsurteil gegen Sie nicht kenne. Es ist auch nicht in dem mir zugänglichen Teil Ihrer Akte vermerkt", sagte er, und es klang beinahe wie eine Entschuldigung.

    Marc schwieg. Da er eben jetzt vor dem Mann saß, ohne Handschellen, dafür aber nun mit den Dienstgradabzeichen eines Starman Third Class, konnte der Angestellte sich den Ausgang des Prozesses vergleichsweise einfach selbst zusammenreimen.

    „Man hat Ihnen also keinen Dauerplatz im Knast gegeben, sondern Sie lediglich degradiert?" Die Worte klangen eher nach einer Feststellung, als nach einer Frage. Der Sachbearbeiter sah sich einen kurzen Moment lang im Großraumbüro um und beugte sich dann über den Schreibtisch zu dem Starman hin vor. „Nur mal so privat am Rande gefragt? Nach allem, was offensichtlich mit der Antares geschehen ist – müssen wir uns jetzt hier auf der Independence Sorgen machen, dass uns das gleiche Schicksal blüht?", erkundigte er sich mit verhaltener Stimme.

    Marc wusste nicht, was er auf diese Frage anworten sollte. Insofern man bereit war, seiner Geschichte zum Schicksal der Antares Glauben zu schenken, kam man wohl zwangsläufig nicht umhin, sich Gedanken um die eigene und die Zukunft der Independence zu machen. Aber das musste der Mann schon selbst erkennen.

    Der Warrant Officer Class 2 räusperte sich erneut und versenkte sich wieder in die Daten auf seinem Computer.

    Der Deutsche wartete geduldig und zugleich ergeben ab. Er besaß Zeit. Sie stellte im Moment so ziemlich die einzige Sache dar, die ihm geblieben war. Über sie hinaus existierte nichts mehr.

    Der Personalsachbearbeiter hob endlich wieder den Kopf. „Sie haben laut Ihren Akten ein Studium als Raumfahrtingenieur mit den Fachrichtungen Antriebstechnik und Avionik absolviert?"

    „Ja, Sir." Ein kleiner Hoffnungsschimmer stahl sich ob der Frage des Warrant Officers in das Denken des Starmans. Vielleicht setzen sie mich in einer technischen Abteilung eines der beiden Raumfluggeschwader ein, dachte er. Der Job eines Technikers konnte sich aus seiner Sicht zwar nicht mit dem eines Piloten messen, stellte aber nicht den schlechtesten Ersatz dar.

    „Nun gut, hier in Ihrer Akte finden sich Anweisungen, wie ich mit Ihnen zu verfahren habe", erklärte der Personalsachbearbeiter nach kurzer Stille, um dann gleich wieder zu verstummen. Er starrte auf seinen Bildschirm und wirkte dabei etwas ungläubig.

    Marc riss schließlich der Geduldsfaden: „Darf man fragen, was diese Anweisungen vorsehen, Sir?"

    „Dass Sie in drei Tagen Ihren Dienst in der Bekleidungs- und Ausrüstungskammer des Raumkampfgeschwaders antreten, Starman."

    „Verstehe." Marc schluckte und kämpfte mühsam gegen seine Enttäuschung an. Eine Arbeit in der sogenannten B/A-Kammer stellte so ziemlich den langweiligsten, niveaulosesten und billigsten Job dar, den man auf einem Schiff der Unionsstreitkräfte bekommen konnte.

    Das schien wohl auch dem Warrant Officer Class 2 klar zu sein, denn er zog die Stirn in Falten. „Was ich hier lese, ist kompletter Schwachsinn. Mit Ihren Qualifikationen wären Sie in der Instandsetzung oder zumindest im technischen Lager eines der beiden Raumfluggeschwader eigentlich viel besser aufgehoben."

    Das sah Marc ebenso. Aber wie es schien, wollte man ihn über seine Degradierung hinaus noch weiter bestrafen. Anders ließ sich der B/A-Kammer-Job nicht bewerten. Hinzu kam wohl, dass man ihm vermutlich immer noch misstraute. Denn einer der Anklagepunkte beim Prozess hatte nun mal auf den Vorwurf des Mitwirkens an terroristischen Handlungen gegen die Solare Union und im Speziellen gegen die Antares gelautet.

    Der Militärstaatsanwalt hatte Marc Ewert tatsächlich verdächtigt, an den ganzen Vorgängen, die schließlich zur Vernichtung der Antares führten, beteiligt gewesen zu sein.

    Das Gericht war diesem Anklagepunkt zwar nicht gefolgt, doch das Misstrauen saß offenbar tief. Wofür man beinahe noch Verständnis haben konnte, da es hier immerhin um die Sicherheit der Independence und das Leben von zwölftausend Menschen an Bord des Schiffes ging.

    Demzufolgte brachte man Marc Ewert jetzt in einem Bereich unter, in dem er als vermeintlicher Terrorist beim besten Willen keinen Schaden anrichten konnte. In der B/A-Kammer, die in einem der unteren Decks der Steuerbordflügelsektion lag, würde das Sabotieren der Uniformen oder Essbestecke die Independence ganz sicher nicht in eine existenzielle Sicherheitkrise stürzen. Im technischen Lager auf dem Hangardeck, wo die Ersatzteile für die Raumeinheiten lagerten, sah das schon wieder ganz anders aus.

    „Wenn Sie sich in drei Tagen in der B/A-Kammer melden, dann tun Sie das bei Chief Petty Officer Yoruk Nabi. Er hat in dem Bereich, in dem Sie zukünftig arbeiten werden, das Kommando."

    „Welcher Bereich ist das?"

    „Das Lager."

    „Das Lager? Was sollte es denn da für Arbeit geben, Sir?"

    „Überlassen Sie dieses Problem am besten dem Chief Petty Officer. Dem wird schon etwas dazu einfallen. Ihren neuen Arbeitsort bekommen Sie übrigens schon heute kurz zu sehen."

    „Wozu das, Sir?"

    „In den Anweisungen zu Ihrer Person ist vermerkt, dass Sie eine komplette Ausstattung an Bekleidung und Ausrüstung benötigen. Die werden Sie heute noch in Empfang nehmen. Einige Dinge bekommen Sie aber auch schon von mir. Warten Sie bitte einen Moment. Der Warrant Officer Class 2 erhob sich und verschwand in einem Nebenraum. Zwei Minuten später kehrte er zurück und legte einen Armbandcomputer auf den Tisch. „Er wurde bereits auf Ihre Unterkunft eingestellt.

    Marc nickte. Er nahm das Gerät und prüfte es. Es handelte sich tatsächlich um „seinen" Handgelenkcomputer – jenes persönliche Gerät, das er schon an Bord der Antares besessen hatte. Wie es aussah, hatte man sowohl die Software, als auch einige Daten, wie etwa seine Personalakte, aktualisiert. Viel wichtiger war jedoch, dass sich seine privaten Dinge, wie zum Beispiel Fotos, einige Erinnerungsvideos sowie diverse Dokumente, immer noch darauf befanden. Man hatte sie nicht entfernt, wofür Marc sehr dankbar war. Er band sich das Gerät um.

    „Ein kleines Startguthaben ist ebenfalls drauf, für den Fall, dass Sie mal in etwas anderem herumlaufen wollen, als in Ihrer jetzigen Uniform. Betrachten Sie es als einen Vorschuss auf Ihre Dienstbezüge, die in der jetzigen Soldatenbesoldungsstufe wesentlich schmaler ausfallen dürften, als Sie das noch als Pilot kannten", erklärte der Personalsachbearbeiter.

    Marc sagte darauf nichts. Geld war ihm noch nie wirklich wichtig gewesen. Zudem bewegte er sich in finanzieller Hinsicht nicht wirklich an der Armutsgrenze. Sobald er mit der Independence ins Sonnensystem zurückkehrte, wartete dort ein Bankkonto mit einem recht ansehnlichen Guthaben auf ihn. Während seiner Zeit als ziviler Raumfährenpilot hatte er nicht unbedingt schlecht verdient, war aber gleichzeitig nie wirklich dazu gekommen, sein Geld in größeren Mengen auszugeben.

    Auch jetzt, an Bord dieses Raumschiffes hier, würde er vermutlich kaum Gelegenheit dazu bekommen. Hinzu kam, dass Besitztum für ihn kaum eine Rolle spielte. Er besaß nur sehr wenige Dinge von größerem Wert. Die mit seiner Degradierung einhergehenden schmaleren Dienstbezüge taten ihm also sehr viel weniger weh, als der Umstand, nicht mehr als Pilot fliegen zu dürfen.

    Der Warrant Officer Class 2 beobachtete den ihm gegenübersitzenden jungen Mann. „Ja dann viel Glück, Starman Third Class Ewert", sagte er ohne jede Spur von Ironie.

    „Danke, Sir." Marc erhob sich und wandte sich ab.

    26. Januar 2173

    Solarian Union Ship „Independence"

    Wohnsektion / Rumpfebene 18 / Unterkunft 18.095

    Eine halbe Stunde nach dem Termin in der Personalabteilung fand sich Marc Ewert nach längerer Fahrt mit der Kabinenbahn und zwei Vertikalliften sowie einem mehrmünitügen Fußmarsch an einem Ort wieder, der fünfundsechzig Etagen tiefer und mehr als einen Kilometer weiter heckwärts im Rumpf des Raumschiffes lag. Der Starman starrte auf das kleine Display seines Handgelenkcomuters und im Anschluss auf die große Leuchttafel an der Gangkreuzung.

    Beide gaben das Gleiche an: Wohnsektion – Rumpfebene 18 – Korridor 12-A.

    Das bedeutete, Marc Ewert war hier richtig.

    Die niedrige Nummer des Decks verriet, dass sich die genannte Adresse ziemlich weit unten im Bauch des Schiffes befand, dessen Rumpf in der Höhe immerhin achtzig Decks umfasste.

    Sie offenbarte zugleich etwas über die „Wichtigkeit" der hier untergebrachten Personen für das Raumschiff. Je tiefer man wohnte, desto kleiner war die eigene Bedeutung für das Funktionieren der Independence und die Mission. Offiziell mochte es vielleicht niemand zugeben, doch die Höhe des Rumpfdecks ließ sich durchaus auch mit dem sozialen Status des jeweiligen Quartierbewohners innerhalb der Schiffshierarchie gleichsetzen.

    An Bord der Antares war Marc Ewert als Raumjägerpilot in einer Wohneinheit untergebracht gewesen, die sechsundvierzig Etagen höher auf Ebene 64 gelegen hatte. Nun hielt er mehr oder weniger im „Keller" des Schiffes Einzug. Aber wen interessierte das schon? Hier an Bord sicher keinen, denn es kannte ihn schließlich niemand. Außerdem hatte er vor einigen Stunden noch befürchten müssen, die nächsten zwei bis drei Jahre in einer Zelle im Bordgefängnis zu verbringen.

    Der Starman Third Class starrte ein letztes Mal auf den winzigen Bildschirm an seinem Handgelenk und orientierte sich dann an den großen Leuchttafeln an der Gangkreuzung. Er nahm den riesigen Wäschesack wieder auf und folgte nun dem Korridor mit der Bezeichnung 12-A. Dabei musste er beinahe einhundert Meter zurücklegen, bevor er endlich vor der Tür mit der Nummer 18.095 stand.

    Auf dem kleinen digitalen Display neben dem Zugang leuchtete bereits sein Name.

    „Öffnen", befahl der Starman.

    Die vom Computer gesteuerte Tür fuhr beinahe lautlos seitlich in die Wand hinein.

    Der Deutsche raffte erneut den Wäschesack auf und trat ein.

    Die Leuchtplatten an der Decke flammten auf und tauchten den Eingangsflur des Quartiers in ein warmes Licht.

    „Willkommen in der neuen Unterkunft", säuselte die künstliche Smart-Home-Intelligenz der Wohneinheit. Sie besaß derzeit noch einen geschlechtsneutralen und daher etwas tonlosen Klang.

    Der Starman würde das nachher ändern.

    „Wie möchten Sie, dass ich Sie anspreche?", fragte der unsichtbare Computer.

    „Mit dem Vornamen. Und duze mich. Wir sind jetzt schließlich mehr oder weniger familiär verbandelt."

    „Verstanden, Marc."

    Der neue Quartierbewohner blickte sich um.

    Wie schon auf der Antares, so bestand auch dieses 68-Quadratmeter-Einzelapartment aus einem Flur mit Zugang zum Badezimmer, aus einer Küche, einem Schlafraum sowie einem Wohnzimmer. Alles wirkte leer und kahl. Die Größe und Ausstattung der Wohneinheiten an Bord von Raumschiffen der Solaren Union waren genormt. In dieser Hinsicht gab es keine sozialen Unterschiede.

    Nach der spartanischen Gefängniszelle erschien Marc seine neue Unterkunft beinahe luxuriös. Er ließ endlich den schweren Wäschesack zu Boden gleiten, öffnete ihn und schüttete den Inhalt einfach aus.

    Heraus purzelten, noch komplett in biologisch abbaubare Folie eingeschweißt, unter anderem ein Trainingsanzug, Sportzeug, Unterwäsche, Schuhe, Socken, Sportschuhe und Schnürstiefel. Hinzu kamen jeweils zwei komplette Garnituren zum Ausgehen, für den Stabsdienst, für einen möglichen Kampfeinsatz sowie für die Arbeit in technischen Bereichen. Außerdem gab es da noch eine Galauniform und viele kleine Utensilien.

    Marc warf einen Blick auf das Barett sowie die Schulterstücke und Rangabzeichen auf den Oberärmeln der Uniformen, die nun an Stelle des dunklen Schiefergraus der Space Fighting Forces das wesentlich weniger ansehnliche Grau der Support Forces aufwiesen. Zudem trug er nun statt der Pilotenabzeichen das Symbol der Unterstützungseinheiten an Barett und Ärmeln.

    Was soll‘s, dachte er und faltete den Wäschesack handlich tragbar zusammen. Er musste nun noch einmal los. Denn noch fehlten sein Kampfanzug, Panzerschutzweste, Waffen- und Ausrüstungsgürtel, Wasch- und Toilettenartikel, ein Feldkochgeschirr, Kampfucksack, Armeetaschenmesser, Schlafsack, Isoliermatte und viele andere Dinge mehr. Dies alles würde er jetzt in einem zweiten Gang beim Bekleidungs- und Ausrüstungsmagazin abholen. Am wichtigsten war dabei der Raumanzug mit dem Helm. Es würde nicht sein alter Anzug sein. Man gab ihm eine nagelneue Kluft für etwaige Einsätze außerhalb des Raumschiffes, die er als zukünftiger Mitarbeiter des Bekleidungs- und Ausrüstungsmagazins aber nicht mehr haben würde.

    Zwei Stunden später kehrte der Starman schwer bepackt mit der zweiten Ladung an Bekleidung und Ausrüstung zurück. Er macht sich sofort daran, seine neuen Habseligkeiten in die Schränke in der Unterkunft einzuräumen. Denn das derzeitige Chaos stieß ihn ständig mit der Nase auf das Schicksal, das ihm widerfahren war. Bevor er Ordnung in sein verpfuschtes Leben bringen konnte, musste er erst eimal Ordnung in seinem Quartier schaffen. Nachdem dies geschehen war, verließ er seine Wohneinheit, da er knurrenden Hunger verspürte.

    Während ihrer Dienstzeit aßen Militärangehörige zwingend in den entsprechenden Kantinen, die Mannschafts-, Unteroffiziers- und Offiziersrängen gleichermaßen zur Verfügung standen.

    Was die Frauen und Männer der Streitkräfte dagegen nach Dienstschluss taten, blieb ihnen freigestellt. Sie konnten dann ebenfalls in einem der Militärspeisesäle essen. Oder sie bemühten in ihren Unterkünften ihre eigenen Kochkünste. Noch bequemer ging es, wenn man Geld in die Hand nahm und eine der vielen gastronomischen Einrichtungen des Schiffes aufsuchte.

    Das Interstellarschiff bildete eine kleine Stadt mit Restaurants, Bars und Einkaufsmärkten – von denen die meisten in den drei großen Marktpassagen zu finden waren. Dort bekam man richtiges Essen vorgesetzt und nicht etwa synthetischen Fraß. Allerdings stellte das Ganze kein ganz billiges Vergnügen dar.

    Marc Ewert entschied sich für ein verspätetes Abendbrot in einer der Militärkantinen.

    Letztere standen zu jeder Tages- und Nachtzeit offen und boten vierundzwanzig Stunden am Tag warmes und kaltes Essen an. Auf einem Raumschiff, auf dem der Dienstbetrieb in Acht-Stunden-Schichten rund um die Uhr lief, ging das auch gar nicht anders.

    Nachdem der Starman etwas im Magen hatte, wollte er eigentlich noch einkaufen gehen, fühlte sich dann aber doch zu müde dazu. Also kehrte er in seine Unterkunft zurück und duschte sich ausgiebig.

    Dann ließ er sich ermattet auf der Couch nieder und starrte mit müden Augen auf den großen Videoschirm an der Wand. Er hatte auf den Nachrichtenkanal geschaltet, und wurde nun wieder etwas munterer.

    „Und hier sind die Zweiundzwanzig-Uhr-Nachrichten unseres Bordsenders Independence News. Schön, dass Sie uns folgen, und noch einmal einen guten Abend."

    Die Moderatorin war eine sehr hübsche Frau, die vom Aussehen her von irgendeiner Südseeinsel zu kommen schien. Ein eingeblendeter Schriftzug identifizierte sie als Hawaiianerin mit dem Namen Nalani Kapua.

    Dank seiner Anwältin Michelle Alvarado hatte Marc schon während seiner Zeit in der Untersuchungshaft hin und wieder die Bordnachrichten verfolgen können.

    Nalani Kapua moderierte auch an diesem Abend die aktuellen Ereignisse. Unter anderem dieses: „Heute fand das Gerichtsverfahren im Fall des Raumjägerpiloten und vermutlich einzig Überlebenden der Antares mit der Urteilsverkündung seinen endgültigen Abschluss. Der Mann war unter anderem der Mittäterschaft an terroristischen Handlungen gegen die Solare Union bezichtigt worden. Damit gab ihm die Staatsanwaltschaft indirekt eine Mitschuld am Schicksal des Schwesterschiffes. Denn inzwischen bestehen kaum noch Zweifel daran, dass die Antares tatsächlich einem verheerenden Terroranschlag zum Opfer fiel.

    Die fünftägige Verhandlung gegen den angeklagten Raumjägerpiloten hatte sich sich als sehr komplex und voller Widersprüche erwiesen. Dies spiegelte sich auch in den sehr gegensätzlichen Anträgen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung wieder. Während der Staatsanwalt eine lebenslängliche Freiheitsstrafe forderte, plädierte die Verteidigerin des jungen Mannes auf einen Freispruch. Das Gericht folgte in seiner Urteilsfindung keiner der beiden Seiten in vollem Umfang. So wurde der Angeklagte zwar mit einem überraschend deutlichen vier-zu-eins-Ergebnis im ersten Anklagepunkt freigesprochen, dafür aber im zweiten Anklagepunkt – der fahrlässigen Körperverletzung in zwei Fällen – für teilweise schuldig befunden. Im Ergebnis hat man dem jungen Mann den Offiziersdienstgrad aberkannt und ihm die Pilotenlizenz entzogen.

    Es gelang Independence News, die leitende Richterin in diesem Prozess, Colonel Sarit Bashevis, für ein kurzes Statement ans Mikrofon und vor die Kamera zu bekommen. Wir wollten von ihr wissen, ob Sie tatsächlich davon überzeugt ist, dass der Angeklagte im Prozess die Wahrheit gesagt hat."

    Ein Videomitschnitt wurde eingeblendet. Er zeigte die Militärrichterin, eine Frau, die um die Mitte fünfzig sein mochte und strenge, braune Augen besaß, beim Verlassen des Gerichtssaals.

    Das Team vom Nachrichtensender fing sie direkt auf dem Gerichtsflur ab und hielt ihr ein Mikrofon unter die Nase.

    Bashevis, die ihre dunklen Haare zu einem dicken Zopf geflochten hatte, zeigte vor der Kamera nicht die geringste Spur eines Lächelns. Stattdessen betrachtete sie das Mikrofon wie einen Fremdkörper. Einen Moment lang sah es sogar so aus, als werde sie nichts sagen, sondern einfach weitergehen. Diese Reaktion erschien ihr dann wohl aber doch zu harsch, sodass sie sich zu einigen dürren Worten durchrang. „Sämtliche Beweise und im Zuge des Prozesses erstellten Gutachten deuten darauf hin, dass die Aussagen der verhandelten Person tatsächlich der Wahrheit entsprachen beziehungsweise entsprechen", erklärte sie kurz angebunden.

    „Wir haben gehört, dass der Verurteilte bisher noch keine Berufung oder Revision eingelegt hat", stellte die Nachrichtenreporterin fest.

    Sarit Bashevis zwang sich zu einem schiefen Lächeln. „Sie sind wie immer gut informiert, Miss Kapua. Aber natürlich steht noch gar nicht fest, ob der junge Mann Berufung oder Revision gegen das ergangene Urteil einlegen wird. Schließlich wurde Letzteres ja gerade erst gefällt und liegt den Prozessparteien erst in ein bis zwei Stunden mit einer ausführlichen Begründung in schriftlicher Form vor. Dem Verurteilten und seiner juristischen Vertretung steht laut Gesetz eine Woche Zeit zur Verfügung, darüber nachzudenken, ob sie das Urteil anfechten möchten, oder nicht."

    „Was wird nun mit dem Mann geschehen?"

    Der weibliche Colonel hob leicht die Schultern. „Was soll schon mit ihm geschehen? Da er keine Freiheitsstrafe bekommen hat und Militärangehöriger ist, wird er wohl an Bord der Independence eingegliedert. An die Antares kann er ja nun mal nicht zurücküberstellt werden."

    „Aber er wird keinen Dienst mehr als Pilot verrichten dürfen?"

    „Nein."

    „Können Sie uns sagen, ob der junge Mann innerhalb der Solarian Union Space Forces verbleibt, und in welcher neuen Verwendung man ihn einsetzen wird? Oder gibt es vielleicht Pläne, ihn zum erstbesten möglichen Zeitpunkt abzuschieben? Schließlich ist bekannt, dass einige Verantwortliche in der Schiffsführung ihn immer noch als Sicherheitsproblem betrachten."

    Bashevis starrte die Fragestellerin an. „Den Verurteilten abschieben? Wie sollte das gehen? Sollen wir ihn zur Luftschleuse hinauspusten?"

    „Das natürlich nicht. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass man nach anderen Wegen sucht, und diese vielleicht schon gefunden hat. Beispielsweise, indem man den Verurteilten zusammen mit den Kolonisten auf den Tarnas hinunterschickt."

    Die Worte Nalani Kapuas rangen der Richterin ein spöttisches Lächeln ab. „Sie meinen so etwas, wie in die Verbannung schicken? Mal ganz ehrlich, dies hier ist ein Raumschiff der Solaren Union und kein diktatorischer Schurkenstaat, Miss Kapua. Wenn jemand vorhätte, so etwas zu tun, dann wäre das nach meiner Rechtsauffassung zumindest ein sehr rüder Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des jungen Mannes, meinen Sie nicht auch? Ich persönlich glaube, mit der Verurteilung ist dem Recht Genüge getan. Ansonsten kann ich Ihnen zu dieser Frage nichts weiter sagen, denn diese Dinge liegen nicht in meinem juristischen Ressort."

    Die Nachrichtenmoderatorin gab sich mit diesen Worten nicht zufrieden. „Hat sich der Verurteilte in dem Verfahren selbst zu seiner Zukunft geäußert?"

    „Seine zukünftigen Pläne, wenn es denn welche gibt, sind mir nicht bekannt. Schließlich stellen Sie auch eine reine Privatsache des Verurteilten dar."

    „Vielleicht können wir dann mit ihm selbst..."

    „Miss Kapua, ich habe nichts gegen Ihren Sender und Ihre Arbeit, denn es ist wichtig, dass die Leute Nachrichten bekommen. Sie wissen aber selbst gut genug, dass auch ein Verurteilter Rechte besitzt. Dazu gehört die Achtung seiner Privatsphäre, was gerade an Bord eines Raumschiffes wichtig ist. Denn anders, als im Sonnensystem oder auf der Erde, kann der Betreffende hier nicht einfach an irgendeinen anderen Ort verschwinden, wo ihn niemand kennt, wenn die Situation für ihn unhaltbar wird. Ein Schiff, selbst von den gewaltigen Dimensionen der Independence, bietet den Luxus eines solchen Untertauchens nicht. Ich kann Ihnen und Ihren Nachrichtenmitarbeitern daher nur raten, die Anonymität des Verurteilten, so lange Sie denn Bestand hat, zu akzeptieren. Ich möchte nicht, dass wir beide uns vielleicht im Gerichtssaal wiedersehen, weil Sie, beziehungsweise Ihr Sender, geltendes Recht verletzt haben."

    Nalani Kapua überging diese Worte einfach und fragte weiter: „Können Sie den Zuschauern sagen, ob das Urteil rein aus Ihrer Sicht Auswirkungen auf die Sicherheit des Schiffes haben wird?"

    Zwischen den Augenbrauen der Militärrichterin erschien eine steile Falte. „Sie haben mich das schon einmal in ähnlicher Form gefragt. Ich kann mich auch jetzt nur wiederholen: Die Sicherheit des Schiffes fällt nicht in meinen Entscheidungsbereich."

    „Aber Admiral Gonzalez saß doch bei Ihnen im Richtergremium. Hat er vielleicht..."

    „Der Kommandant hat nichts dazu verlauten lassen." Colonel Sarit Bashevis‘ Stimme klang nun schon beinahe schneidend. „Ich bin aber überzeugt, dass er die Sicherheit der Independence keinen Moment lang aus dem Blick verliert. Und nun noch einen schönen Tag, Miss Kapua."

    27. Januar 2173

    Solarian Union Ship „Independence"

    Wohnsektion / Rumpfebene 18 / Unterkunft 18.095

    Marc schlief die erste Nacht in seiner neuen Unterkunft überraschend gut. Nach der Rasur am nächsten Morgen fühlte er sich zusätzlich erfrischt und dachte darüber nach, wie er die beiden ihm zur Verfügung stehenden freien Tage bis zu seinem Dienstantritt in der B/A-Kammer sinnvoll nutzen sollte. Klar war, dass er sich ein paar zivile Klamotten kaufen musste, wenn er nicht ständig in Uniform, oder – wie jetzt – im blauen Militärtrainingsanzug herumlaufen wollte.

    Der Vorschuss auf seine Dienstbezüge gestattete zwar kein ausschweifendes Shoppingvergnügen, doch fürs Erste genügten ja Hose, T-Shirt und vielleicht ein Sweatshirt. Außerdem wollte er sich ein paar Lebensmittel besorgen, um nicht zu jeder Mahlzeit in eine der Militärkantinen gehen zu müssen, wo er sich wie ein Fremdkörper vorkam. Der Weg zu einem der Militärspeisesäle kostete aufgrund der Distanzen auch einiges an Zeit, und die gedachte er anderweitig zu nutzen. Er wollte sich mit Sport in Form von Schwimm- und Lauftrainings wieder vollständig auf seine altes Konditionslevel zurückbringen. Wegen der vergangenen Ereignisse hatte er rund vier Wochen lang auf diese beiden Dinge verzichten müssen. Er sehnte sich daher danach, endlich wieder in einer der Naturparkkuppeln des Interstellarschiffes zu joggen und in einem der beiden Schwimmbäder seine Bahnen zu ziehen. Beides wollte er jetzt unbedingt in Angriff nehmen.

    Er machte sich gerade zum Aufbrechen fertig, als es an der Zugangstür zu seiner Unterkunft summte.

    Wer zum Teufel war das? Marc erwartete keinen Gast, denn es gab schlicht niemanden, der ihn an Bord dieses Schiffes hätte besuchen können.

    Dies galt selbst für Michelle Alvarado, die ihn als Anwältin während des Gerichtsverfahrens verteidigt hatte. Sie mochte zwar weiterhin seine juristische Vertretung sein, doch er konnte sich keinen Grund für einen Besuch ihrerseits vorstellen. Und wer wusste schon, ob sie überhaupt über seine neue Wohnadresse verfügte.

    Dann kam dem Deutschen ein böser Verdacht. Stand etwa diese Nalani Kapua mit einem Team vom Nachrichtenrichtensender Independence News vor der Tür, um ihn über seine zukünftigen Pläne auszuquetschen?

    „Computer, kannst mir sagen, wer da gerade geklingelt hat?"

    „Ja. Es handelt sich um eine Frau. Der ID-Chip weist sie als Captain Aiyana Rayen aus."

    Der Videoschirm an der Wand, der eben noch ein großes Frachtraumschiff mit dem Namen Adventure Star – Marcs früheres Basisschiff während seiner Zeit als ziviler Transporfährenpilot – gezeigt hatte, schaltete jetzt automatisch auf die Türspionkamera um. Gleich darauf wurde eine junge Frau im grüngefleckten Kampfanzug der Solarian Union Ground Forces sichtbar.

    Marc hatte während der Untersuchungshaft schon einmal Besuch von dieser Frau erhalten, die Kommandeurin einer Aufklärungssquadron der Solaren Bodenstreitkräfte mit dem Einheitsnamen Puma war. Er erinnerte sich noch sehr deutlich an das kurze Zusammentreffen vor zehn Tagen im Besuchertrakt des Bordgefängnisses. Aiyana Rayen hatte sich von ihm Informationen erhofft, die ihr bei der Erkundung des großen Asteroidenhaufens helfen sollten, der schon die Antares nach ihrer Ankunft so schwer beschäftigt hatte.

    Das Interstellarschiff war nicht nur aus dem Feld heraus mit Asteroiden bombardiert worden, sondern hatte später auch einen Teil seiner ausgesandten Erkundungspatrouillen darin verloren.

    Und nur eine der vermissten Maschinen – eine große Starmaster-Transportfähre mit Aufklärungssonden an Bord – war am Ende wieder aufgetaucht. Über sie hatte dann allerdings eine thermonukleare Bombe den Weg an Bord der Antares gefunden und das Ende des Interstellarschiffes besiegelt.

    Die Suchmission der Einsatzgruppe unter der Leitung des weiblichen Captains nach Spuren dieser ganzen Vorgänge war erfolglos geblieben.

    Daran erinnerte sich Marc jetzt, während er in den Flur ging, um seine Besucherin persönlich zu empfangen.

    Die Tür glitt gehorsam zur Seite.

    Die Frau hob den Blick und murmelte etwas, das wie ein Gruß klang.

    Marc verstand ihre Worte nicht so richtig, da ihn ihr Gesicht ablenkte. Es war ein sehr schönes Gesicht, das Anmut, Intelligenz und eine Spur von Melancholie ausstrahlte. Es hatte ihn schon beim ihrem ersten Zusammentreffen im Besuchertrakt des Bordgefängnisses stark beeindruckt und brachte auch jetzt wieder etwas in seinem Inneren zum Klingen – etwas das er längst für verschüttet und abgestorben gehalten hatte. Er besann sich und begrüßte sie mit einem knappen: „Hallo, Captain."

    Aiyana Rayen taxierte den Deutschen von oben bis unten. Sie war mittelgroß, schlank und wirkte sehr sportlich, was bei ihrem sicher sehr fordernden Job allerdings kaum verwunderte. Die langen, dunklen Haare trug sie – ganz entgegen der Geflogenheit der meisten Frauen in den Streitkräften – scheinbar auch während des Dienstes offen. Dass ihr dabei widerspensige Strähnen in die Stirn und über die Augen fielen, schien sie nicht zu stören.

    Da seine Besucherin keinerlei Anstalten machte, als erste das Wort zu ergreifen, meinte Marc in spöttischem Tonfall: „Gestern Abend fabulierte die Militärrichterin in den Nachrichten noch über den Schutz des Rechtes eines Verurteilten auf Anonymität und Privatsphäre. Keine zwölf Stunden später stehen Sie vor meiner Tür, obwohl meine Adresse noch so taufrisch ist, dass ich sie mir selbst noch gar nicht merken kann. Man nimmt das mit dem Recht auf Anonymität auf diesem Schiff wohl doch nicht so genau."

    „Dass Sie sich Ihre Adresse nicht merken können, tut mir Leid für Sie, Starman, erwiderte Aiyana Rayen trocken. „Was Ihre Privatsphäre angeht – man hat mir Ihre Adresse lediglich aufgrund einer dienstlichen Notwendigkeit gegeben.

    Der Starman runzelte die Stirn. Eine dienstliche Notwendigkeit? Was mochte das nun wieder heißen? Er musste plötzlich daran denken, dass dieser weibliche Captain sich vor einigen Tagen immerhin die Mühe gemacht und seine Anwältin persönlich aufgesucht hatte, um sie über die ergebnislose Suche im Asteroidenfeld zu informieren. Das war eine durchaus nette Geste gewesen, die es verdiente, mit Höflichkeit beantwortet zu werden. Also trat er einen Schritt zur Seite. „Kommen Sie bitte rein."

    Die Kundschafterin folgte dem Angebot ohne Umschweife.

    „Am besten, wir gehen ins Wohnzimmer."

    Dort angekommen, sah sich der weibliche Captain mit dem geübten Blick des Aufklärers im Raum um.

    Marc war plötzlich froh, nicht mehr alle seine Klamotten ungeordnet auf dem Boden herumliegen zu haben. Ein paar Sachen gab es aber schon noch. „Ich bin gerade erst eingezogen, entschuldigte er sich. „Aber ich schätze mal, dass wissen Sie.

    „Es war anzunehmen."

    Marc nickte. „Anbieten kann ich Ihnen leider auch nichts."

    „Schon gut, ich brauche nichts."

    „Dann nehmen Sie bitte Platz, Captain." Marc wies einladend auf die Couch. Er selbst ließ sich in einen der Sessel fallen. Dann musterte er erneut seine Besucherin und fragte sich, was für ein Charakter sich hinter deren hübscher Fassade wohl verbergen mochte. Irgendetwas ging jedenfalls von ihr aus, das ihn ansprach. Nur – was genau war das?

    Sie strahlte definitiv Selbstbewusstsein und Intelligenz aus, so viel stand mal fast. Aber in diese beiden Eigenschaften mischten sich zusätzlich noch Anmut und eine gewisse Melancholie. In ihrem Gesicht schwang ein deutlicher Zug von Schwermut mit, der auf eine gewisse innere Verletzlichkeit hindeutete. Das ließ ihre Schönheit nicht banal wirken, sondern machte sie irgendwie menschlich warm.

    Das ist es, dachte der Starman.

    Aiyana Rayen entging der forschende Blick ihres Gastgebers nicht. Um ihre Mundwinkel zuckte es – vielleicht eine Art verdeckter Spott. „Man hat Sie also zum Space Support Corps versetzt", stellte sie nüchtern fest.

    „Sie wissen wohl doch noch etwas mehr über mich, als nur meine Adresse, Captain."

    „Nein. Das verraten mir lediglich die grauen Farbbalken der Rangabzeichen Ihrer Uniformjacke dort über der Stuhllehne."

    „Äh, ach so. Also gut, Sie haben Recht. Nach der Degradierung und der Wegnahme meiner Fluglizenz hat man mir einen neuen Job gegeben. Ich trete in zwei Tagen meinen Dienst in einem der Bekleidungs- und Ausrüstungsmagazine des Raumkampfgeschwaders an." Marc bemühte sich, die innere Bitterkeit aus seinen Worten herauszuhalten. Er wollte gegenüber dieser Frau nicht den Eindruck von Selbstmitleid erwecken.

    Sie musterte ihn aufmerksam. „Klingt nach einer absoluten Verschwendung Ihrer Fähigkeiten."

    Was weiß diese Frau schon von meinen Fähigkeiten, dachte der Starman voll innerer Ablehung und blieb auch jetzt wieder eine Antwort schuldig. Dann aber sagte er sich im Stillen, dass die Bemerkung vielleicht einfach nur nett gemeint gewesen war.

    Aiyana Rayen schien seine Gedanken zu erraten, denn sie erklärte: „Im Ernst, ich denke, im Bekleidungsmagazin werden Sie eher weniger einen Gewinn für die Siriusmission darstellen."

    Marc deutete ein leichtes Schulterzucken an. Er wollte dieses Thema eigentlich nicht vertiefen. „Sie sind also wegen einer dienstlichen Notwendigkeit hier, Captain? Was genau darf ich mir darunter vorstellen?"

    „Es geht um das Asteroidenfeld. Wir haben vier Tage lang darin gesucht, aber leider nichts gefunden."

    „Miss Alvarado erzählte mir davon. Meinen Respekt – mit Ihrer viertägigen Suche haben Sie wirklich eine Menge Durchhaltevermögen bewiesen. Die Suchgruppen der Antares hatten nicht so viel Ausdauer. Doch wie ich Ihnen schon bei unserer ersten Begegnung sagte, selbst mit viel Zeit, einer großen Anzahl an Suchmaschinen und einer mächtigen Portion Glück gleicht das Ganze immer noch der besagten Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Da die Ihnen aber lediglich einen einzigen Tornado-Radaraufklärer für die Suche zur Verfügung stellten, war Ihr Misserfolg praktisch vorprogrammiert."

    „Wir werden trotzdem wieder ins Asteroidenfeld fliegen."

    „Mit dem gleichen Suchauftrag?"

    „Ja."

    „Spendiert man Ihnen diesmal wenigstens mehr Suchmaschinen?"

    „Nein. Diesmal fliegen wir ganz ohne Radaraufklärer."

    Marc war einen Moment lang sprachlos, fing sich aber rasch wieder. „Sie wollen es trotzdem versuchen?"

    „Die Schiffsführung hat es so entschieden?"

    „Befehl ist Befehl, ich verstehe. Das erhöht Ihre Aussichten auf Erfolg aber trotzdem nicht."

    „Ich weiß."

    „Die Schiffsführung will Sie also noch einmal hinausschicken, ohne Ihnen auch nur eine einzige Radarmaschine für die Suche mitzugeben? Wie passt das zusammen?" Marc stellte diese Frage, obwohl er sich die Antwort recht locker selbst zusammenreimen konnte. Aus Gesprächen mit Michelle Alvarado während der Zeit seiner Untersuchungshaft und des Gerichtsverfahrens wusste er, dass es zwischen dem Kapitän des Raumschiffes und Teilen der Führungsebene nicht immer einvernehmlich zuging.

    Die Meinungsverschiedenheiten betrafen unter anderem die Bewertung der derzeitigen Situation für die Independence sowie die Frage nach dem weiteren Vorgehen.

    Admiral Fernando Gonzalez negierte das Vorhandensein einer fremden Macht und damit einer möglichen Gefahr für das Schiff. Einige andere Mitglieder des Schiffsrates taten dies nicht. Dieser Machtpoker und das Kompetenzgerangel innerhalb der Schiffsführung trieben zum Teil seltsame Blüten.

    Marc erahnte insofern die Hintergründe der angedachten Neuauflage der Suchmission, die schon verkorkst war, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Bei seiner jetzt gestellten Frage interessierte er sich im Grunde genommen auch gar nicht für den Inhalt der Antwort, sondern vielmehr dafür, ob er von dieser Kundschafterin überhaupt eine Antwort erhielt. Vermutlich nicht. Denn genaugenommen ging ihn das Ganze gar nichts an. Er war jetzt nur noch ein einfacher Soldat und zudem nicht in diese Dinge involviert. Davon abgesehen besaß er eigentlich genügend eigene Probleme.

    Tatsächlich rang Aiyana Rayen sichtlich mit sich. Sie starrte auf den Boden und strich sich in einer unbewussten Geste durchs Haar. Dann allerdings erklärte sie mit überraschender Offenheit: „Admiral Gonzalez ist gegen die Suchmission. Er möchte vielmehr, dass die Independence endlich das in Angriff nimmt, wozu sie hier ist – die Erkundung des Tarnas. Er glaubt nach wie vor nicht an die verschwundenen Maschinen, von denen Sie gesprochen haben, Starman. Er betrachtet Ihre Geschichte als ein billiges Ablenkungsmanöver, mit dem Sie uns aus irgendeinem Grund weiterhin vom Tarnas fernhalten wollen. Insofern hält er auch eine weitere Suche nach dem aus seiner Sicht reichlich imaginären, unbekannten Gegner für Zeitverschwendung."

    „Nun, vielleicht ist es ja tatsächlich nur eine Hinhaltetaktik von mir und meinen Terroristenfreunden dort draußen."

    „Das wäre möglich", bestätigte sie schlicht.

    „Was glauben Sie, Captain?"

    „Spielt das eine Rolle?"

    „Nein, nicht wirklich", bekannte Marc. Im Stillen gestand er sich allerdings ein, dass ihre diesbezügliche Meinung ihn durchaus interessierte.

    „Einige Mitglieder des Schiffsrates, deren Stimmen sehr großes Gewicht besitzen, teilen nicht die Meinung des Admirals. Sie halten Ihre Geschichte, Starman, für wahr. Sie gehen demzufolge davon aus, dass irgendwo im Asteroidenhaufen eine Gefahr lauert, die man nicht so einfach ignorieren kann. Die unbekannten Fremden könnten sich als sehr ernst und gefährlich für die Independence und die Tarnas-Mission erweisen. Die besagten Schiffsratsmitglieder stimmten daher dagegen, dass der Kommandant nun einfach so wieder zur Tagesordnung übergeht. Es wurde nach einigen Diskussionen ein Deal erzielt, in dessen Ergebnis ich nun beauftragt bin, noch einmal eine Suchmission ins Asteroidenfeld zu unternehmen."

    „Ohne Unterstützung durch Radaraufklärer? Das Suchkommando wird nur Treibstoff verplempern und sich unnötig in Gefahr bringen. Wieso hat sich der Schiffsrat auf so einen beknackten Kuhhandel eingelassen?"

    „Weil er genaugenommen nur eine beratende Funktion besitzt. Die endgültige Entscheidungsgewalt liegt allein beim Schiffskommandanten."

    „Trotzdem – ohne die Tornados ist die Suche fast aussichtslos. Wie begründet der Admiral überhaupt die Verweigerung der Radaraufklärer? Er wird ja bei dieser Entscheidung irgendwie sein Gesicht wahren wollen."

    „Er schiebt notwendige Wartungsarbeiten und Reparaturen an den Maschinen vor."

    „Sehr fadenscheinig."

    „Ja. Aber so sieht nun mal der Deal aus. Bleibt die Suchmission ohne Erfolg, wendet sich die Independence endgültig dem Tarnas zu."

    „Dann wünsche ich Ihnen viel Glück dort draußen. Allerdings denke ich, Admiral Gonzalez macht bei dieser Übereinkunft definitiv das bessere Geschäft."

    „Wir werden sehen."

    Marc betrachtete den weiblichen Captain, und ihm fiel das tiefe Braun in der Iris von dessen Augen auf. „Haben Sie vielleicht noch irgendein Ass im Ärmel?"

    „Wie bitte?"

    „Sie klingen nicht wie jemand, der sich bereits geschlagen gibt. Ich hätte an dieser Stelle zumindest etwas mehr Resignation von Ihnen erwartet. Angesichts der meiner Meinung nach völligen Aussichtslosigkeit Ihres Unterfangens vermute ich mal, dass Sie noch irgendeinem Trumpf haben."

    „Es gibt keinen Trumpf. Mein Gefühl sagt mir lediglich, dass Ihre Geschichte wahr ist. Und es sagt mir zugleich, dass sich tatsächlich jemand im Asteroidenhaufen versteckt. Ich habe es während der ersten Suchmission deutlich dort draußen gespürt."

    „Sie haben es gespürt?" Marc fand die Aussage zuerst etwas lächerlich. Dann jedoch musste er an seine eigenen Erfahrungen denken. Ja, er hatte es bei seiner Teilnahme an den beiden Suchmissionen von Raumeinheiten der Antares im Asteroidenfeld ebenfalls gespürt. Das Gefühl einer Bedrohung war da allgegenwärtig gewesen. Er räusperte sich. „Einen Radaraufklärer gibt man Ihnen also nicht. Darf ich fragen, was man Ihnen überhaupt zugesteht?"

    „Eine leichte Starbird-Raumfähre und zwei Typhoon-Jäger als Begleitung."

    „Das ist alles?"

    „Ja."

    „Was wollen Sie mit diesen kümmerlichen drei Maschinen anfangen?"

    Sie zögerte mit der Anwort, erklärte aber dann: „Bei der ersten Mission haben wir uns vor allem auf die Suche nach den vermissten Raumeinheiten der Antares konzentriert. Das macht jetzt – ohne Radaraufklärer – kaum noch Sinn. Erfolgversprechender ist da wohl eine direkte Suche nach den Fremden. Ihren Worten nach erzeugten die ein großes Störfeld. Um so etwas fertigzubringen, benötigt man eine Menge technisches Equipment. Und für dieses wiederum braucht man einen Stützpunkt. Das bedeutet, dass die Fremden sehr wahrscheinlich irgendwo im Asteroidenfeld eine Basis oder ein großes Raumschiff besitzen. Das eine oder das andere zu finden, dürfte einfacher sein, als die Suche nach den verschwundenen Maschinen der Antares."

    „Einfacher vielleicht. Aber gewiss nicht gesünder. Insgesamt klingt Ihr Konzept für mich ziemlich verzweifelt und irgendwie auch nach einer Selbstmordaktion. Denn wenn Sie mit Ihrer leichten Raumfähre und den lediglich zwei Jägern als Geleitschutz auf die Fremden treffen, möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken." Marc wusste nicht, ob er den weiblichen Captain für dessen Mut bewundern oder eher für völlig verrückt halten sollte.

    „Ja, das Risiko ist sehr groß", räumte Aiyana Rayen ein. „Ich möchte es auch nicht unbedingt eingehen, sondern mich lieber noch einmal nach den vermissten Raumeinheiten der Antares umsehen. Aber das hängt von diesem Gespräch hier mit Ihnen ab."

    Na toll, jetzt liegt es auch noch an mir, dachte Marc ärgerlich, denn er hatte das Gefühl, soeben den Schwarzen Peter zugeschoben zu bekommen. Dann jedoch überlegte er, ob es vielleicht tatsächlich noch etwas gab, das er dieser Kundschafterin nicht schon vor zehn Tagen erzählt hatte. Doch ihm fiel beim besten Willen nichts ein. Er machte schließlich eine hilflose Geste und schüttelte bedauernd den Kopf. „Tut mir leid, Captain, mit präzisen Koordinaten und Richtungsvektoren kann ich Ihnen immer noch nicht dienen."

    Aiyana Rayen strich sich eine Haarsträhne beiseite. „Okay, es ist so. Ich bin mir nicht einmal sicher, dass wir bei der ersten Mission überhaupt im richtigen Bereich gesucht haben. Wir müssen also das ‚wirkliche‘ Gebiet finden und es so stark eingrenzen, dass die Suche innerhalb eines akzeptablen Zeitrahmens möglich ist. Und das kann nur mit Ihrer Hilfe gelingen."

    „Wie genau soll ich Ihnen denn noch helfen können?"

    „Wir müssen die genaue Position wiederfinden, an der Sie die verlassene Starmaster-Raumfähre entdeckten. Dann hätten wir einen konkreten Ausgangspunkt."

    „Schon klar. Aber wie bereits gesagt, die genauen Navigationsdaten der damaligen Fundstelle kann ich Ihnen nicht liefern. Und wir reden hier schließlich nicht nur von einer kleinen Region, sondern von einem sehr unübersichtlichen Raumgebiet mit einer Größe von mehreren Millionen Quadratkilometern."

    „Ich weiß."

    „Das macht es aber dann doch ein bisschen kompliziert, oder nicht?"

    „Ja. Aber dieser Einsatz ist die letzte Chance. Und die will ich nicht leichtfertig verspielen."

    „Das heißt?"

    „Ich möchte, dass Sie uns bei dieser Suchmission begleiten. Es mag unsinnig sein, aber ich will nichts unversucht lassen. Vielleicht erkennen Sie ja irgendetwas dort draußen wieder, das uns einen Anhaltspunkt bietet."

    Marc hatte das Gefühl, mit einem Eimer kalten Wassers übergossen zu werden. Das kann sie nicht ernst meinen, durchzuckte es ihn. Jede einzelne Faser seines Körpers verkrampfte sich bei dem Gedanken, noch einmal hinaus in dieses Asteroidenfeld zu müssen. Noch dazu unter diesen Bedingungen – mit lediglich drei Flugmaschinen, von denen sich eine noch nicht einmal in irgendeiner Weise wehren konnte, wenn es hart auf hart kam. Zugleich gingen die Erfolgsaussichten gegen Null. Die Mission war verrückt, und diese Aiyana Rayen war es offensichtlich auch.

    Während dem Starman all diese Dinge durch den Kopf schossen, wurde er sich der Blicke der jungen Frau ihm gegenüber bewusst.

    Die Kundschafterin schien zu erkennen, was gerade in ihrem Gesprächspartner vorging. „Trauen Sie sich die Teilnahme an diesem Flug zu?"

    Marc fühlte sich auf einmal sehr unwohl. „Warum fragen Sie das?", wollte er heiser wissen, um auf diese Weise Zeit zu gewinnen.

    „Sie haben einiges durchgemacht. Wenn Sie ablehnen, dann verstehe ich das."

    Ihr Verständnis trieb dem Starman die Schamröte ins Gesicht. Er fühlte sich ertappt, ja regelrecht durchschaut. Ihrem Blick ausweichend, starrte er auf irgendeinen imaginären Punkt auf dem Boden vor sich. Oh ja, er hatte eine Menge durchgemacht! Und tatsächlich fühlte er sich im Moment keineswegs zu irgendeinem Abenteuer bereit, das ihn wieder hinaus ins All führte. Und erst recht nicht in dieses verdammte Asteroidenfeld! Scheiße noch mal, er hatte Angst – richtige Angst. Das war die bittere Wahrheit.

    Sein zukünftiger Job im Bekleidungs- und Ausrüstungsmagazin mochte langweilig, billig und eine absolute Zumutung sein. Einen Vorteil aber besaß er doch – er zwang Marc Ewert nicht dazu, sich aus dem Schutz des Interstellarschiffes herauszuwagen und sich den bösen Geistern zu stellen, die ihn seit seiner Odyssee durch den Weltraum immer wieder – vor allem in den Nächten – heimsuchten. Nun jedoch kam dieser weibliche Captain daher und forderte ihn mehr oder weniger dazu auf, sich mit diesen Ängsten auseinanderzusetzen.

    Aiyana Rayen wartete geduldig. Dann erklärte sie: „Es ist nur eine Bitte, Starman. Ich werde Sie ganz gewiss nicht zu diesem Flug zwingen, indem ich auf dem offiziellen Dienstweg beim Raumkampfgeschwader ein Amtshilfeersuchen einreiche. Sie überlegte kurz und fügte dann schulterzuckend hinzu: „Vielleicht hätte dieses Ersuchen ohnehin keine Chance, wenn man bedenkt, welche Haltung der Schiffskommandant generell zu dieser Suchmission besitzt.

    Ihre Worte mochten beschwichtigend gemeint sein, vergrößerten aber die Verlegenheit des Deutschen nur noch. Denn sie machten ihm bewusst, dass es um weit mehr ging, als nur seine persönlichen, kleinen Befindlichkeiten. Vom Erfolg der Suchmission hing längst nicht nur seine eigene Glaubwürdigkeit ab, sondern auch die Sicherheit des Raumschiffes mit seinen zwölftausend Menschen an Bord ab. Und möglicherweise entschied der Sucheinsatz sogar über den Verlauf der gesamten Tarnas-Mission.

    Wenn ich jetzt, wo plötzlich mein persönlicher Einsatz gefragt ist, kneife, bin ich ein Feigling, dachte Marc. War er ein Feigling? Ihm wurde plötzlich klar, dass er sich selbst vor Scham nicht mehr im Spiegel würde ansehen können, wenn er jetzt ablehnte. Bei diesem Gedanken hob er den Blick und sah der Kundschafterin direkt in die dunklen Augen. Dann hörte er sich selbst sagen: „Das ist zwar total verrückt, aber ich bin bereit für diesen Flug."

    Sie betrachtete ihn eine Weile, nickte dann und erwiderte schlicht: „Gut. Und danke."

    „Danken Sie mir lieber nicht, denn liefern werde ich Ihnen wohl kaum etwas. Und ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich Ihre übergroße Portion Optimismus bezüglich meiner Fähigkeiten zur Hilfe einfach nur für reinen Zweckoptimismus oder eher für Einfältigkeit halten soll, Captain."

    Die Aufklärerin lächelte verhalten. „Das finden Sie schon noch heraus, Starman", erwiderte sie.

    Marc stellte für sich fest, dass der Frau das Lächeln wirklich gut stand. Es machte sie irgendwie nahbarer. Laut sagte er: „Meinen Erfahrungen nach können sich Suchmission im Asteroidenfeld zeitlich etwas hinziehen. Es wäre schon ein bisschen blöde, wenn ich mich bei meinem neuen Traumjob gleich am ersten Tag verspäte."

    Aiyana Rayen begriff sofort. „Ja, damit würden Sie sich bei Ihren neuen Vorgesetzten vermutlich nicht besonders beliebt machen. Ich kümmere mich darum. Man wird Ihren neuen Arbeitgeber darüber informieren, dass Sie vielleicht erst später bei ihm antreten." Sie erhob sich und ging zur Tür, wo sie sich noch einmal umwandte. „Das Treffen zum Einsatz erfolgt morgen früh um acht Uhr. Zwei meiner Leute erwarten Sie zwanzig Minuten vorher an Hangarzugang Epsilon-2."

    „Okay", erwiderte Marc, dem durch ihre Worte bewusst wurde, dass er als Space-Support-Corps-Angehöriger keinen freien Eintritt mehr zum Hangardeck besaß. „Ich werde pünktlich dasein, Captain", versprach er.

    Sie nickte, verabschiedete sich und ging.

    Marc starrte ihr nach und fragte sich entsetzt, wie zum Teufel er sich von dieser Frau einfach so hatte breitschlagen lassen können.

    28. Januar 2173

    Solarian Union Ship „Independence"

    Steuerbordflügel / Hangardeck Raumkampfgeschwader

    Der Zugangstunnel zum Steuerbordhangardeck war groß genug, dass ihn auch kleinere Elektrofahrzeuge auf einer eigenen Spur befahren konnten.

    Marc benutzte dagegen den breiten Fußgängerweg. Und er war längst nicht der einzige, der sich auf dem Weg zu Decktor Epsilon-2 befand. Da in etwa zwanzig Minuten eine neue Arbeitsschicht begann, waren hier sehr viele Leute unterwegs.

    Anhand der sehr unterschiedlichen Dienstbekleidungen konnte man recht gut ablesen, wer in welchem Bereich des Hangardecks arbeitete.

    Da gab es die Techniker mit ihren Arbeitsmonturen, die Verwaltungsleute in ihren unterschiedlichen Stabsdienstuniformen, die Sicherheitsleute des Space Infantry Corps in blauschwarz gefleckten Kampfanzügen mit darübergezogenen Splitterschutzwesten, und es gab die Angehörigen des Bodenpersonals in Felddienstuniformen mit Tarnmuster. Und dann waren da natürlich noch die Piloten und Besatzungen der Raumjäger und Raumfähren, deren Anzugsordnung schon von vornherein verriet, ob sie einen Tag mit technischen Wartungsarbeiten oder einen Flugeinsatz vor sich hatten.

    Marc trug seinen neuen Raumanzug mit dem Oberkörper- und Unterleibspanzerschutz. Den Helm hatte er sich unter den Arm geklemmt.

    Das Zugangstor zum Hangardeck mit der Bezeichnung Epsilon-2 stand offen.

    Gesichert wurde es von sechs schwerbewaffneten Angehörigen des Space Infantry Corps, die mit Argusaugen alles um sich herum beobachteten. Normalerweise bestand die Wache des Hangartores lediglich aus zwei Soldaten. Der verstärkte Posten stellte wohl eine besondere Sicherheitsmaßnahme dar.

    Marc wertete es als Zeichen, dass die Schiffsführung die Sicherheitslage nun doch etwas kritischer betrachtete.

    Die meisten Leute konnten einfach durch das Tor gehen. Die Daten ihrer Armbandcomputer signalisierten den hier installierten Scannern, dass die Träger die Berechtigung zum Betreten des Hangardecks besaßen.

    Dienstliche Besucher benötigten dagegen eine zeitlich begrenzte Passiererlaubnis, die von den Space-Infantry-Corps-Leuten sehr genau kontrolliert wurde.

    Marc besaß weder die digital auf seinem Armbandcomputer gespeicherte Berechtigung, noch eine vorübergehende Passiererlaubnis. Er konnte nur darauf hoffen, dass man ihn auch wirklich hier abholte.

    Tatsächlich lehnten unweit vom Kontrolldurchlass zwei Gestalten in den grünschattierten Raumanzügen der Solaren Bodenstreitkräfte mit den Abzeichen der Aufklärer an der Wand des breiten Korridors. Sie trugen die volle Ausrüstung mit Gürtel, Reservemagazinen, Medikits und ihren persönlichen Waffen.

    Einer der beiden, ein großer, kräftiger Kerl mit blonden, hochstehenden Haaren, beobachtete aufmerksam die vorbeigehenden Leute. Sein Blick blieb an dem Deutschen hängen. Gleich darauf stieß er sich von der Wand ab und hielt zielstrebig auf den ins Auge Gefassten zu. „Sind Sie Starman Marc Ewert?"

    „Ja."

    „Ich bin Staff Sergeant Aaro Virtanen", stellte sich der Blondschopf vor.

    Marc warf einen raschen Blick auf die drei Winkel der Dienstgradabzeichen des Oberfeldwebels und vermutete, dass dieser Trupp- oder gar Gruppenführer war.

    Der Staff Sergeant betrachtete seinerseits kurz den Deutschen und wies dann hinter sich. „Das da ist Starman First Class Ime Kowo, unser Mörserschütze."

    Marc blickte an Virtanen vorbei auf den Vorgestellten, der nun ebenfalls herantrat.

    Ime Kowo besaß eine tiefdunkle Hautfarbe, war noch gut einen halben Kopf größer, als Virtanen und dazu von äußerst bulligem Körperbau.

    „Folgen Sie uns, Starman", forderte der blonde Kundschafter und wandte sich um.

    Am Tor zum Hangardeck wurden sie penibel genau überprüft, durften dann aber passieren.

    Da sie zu Fuß auf speziell gekennzeichneten Flächen gingen, zog sich der Weg etwas hin.

    Das Interstellarschiff besaß vier Hangardecks, jeweils zwei in jeder Flügelsektion, die gleich gewaltigen Tragflächen zu beiden Seiten aus dem Rumpf herausragten. Da die Independence viel zu groß war, um auf der Oberfläche eines Planeten mit größerer Schwerkraft landen zu können, besaßen die Flügel lediglich die Funktion von zusätzlichem Stauraum. Wie etwa für einen Teil der gewaltigen Waffenphalanxen des Schiffes, zu denen die einhundertfünzig Abschussschächte der Raumtorpedowerfer zählten sowie außerdem insgesamt einhundertsechsundvierzig Flugabwehrtürme.

    Auf dem oberen Steuerbordhangardeck hatte das Raumkampfgeschwader mit einhundertzwanzig bemannten

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